Читать книгу "Wie war es wirklich?" - Georg Markus - Страница 10
ОглавлениеDas Treffen fand in einem kleinen Waldstück, an einem weit außerhalb der Stadt gelegenen Ort statt, zu dessen strengster Geheimhaltung ich mich verpflichtet hatte. Dienstbare Geister öffneten den Wagenschlag einer imposanten Karosse, der ein dunkelschwarz gekleideter Herr entstieg. Wir wechselten ein paar Höflichkeitsfloskeln, und dann kam ich auch schon zur Sache.
»Kaiserliche Hoheit«, eröffnete ich das Gespräch, »war das wirklich notwendig?«
Der Kronprinz musterte mich mit strengem Blick: »Was meinen Sie damit?«
»Na, was werde ich schon meinen. Es geht natürlich um Mayerling.«
»Mayerling, Mayerling«, wiederholte Rudolf, »war das nicht dieses Jagdschloss bei Baden?«
»Sie werden doch Mayerling nicht vergessen haben!«
»Wissen Sie, wir hatten so viele Besitzungen, da kann’s schon vorkommen, dass einem diese oder jene nicht gleich geläufig ist, nach so langer Zeit.«
»Hoheit, es geht um Mayerling! Und um Mary Vetsera!«
»Mary … wie?«
»Mary Vetsera!«
»Ach so, die Kleine, ich kann mich dunkel an sie erinnern.«
Ich war fassungslos ob der erzherzoglichen Kälte. Da löst der Sohn des Kaisers ein Drama von nie da gewesener Tragweite aus – und dann kann er sich nicht mehr daran erinnern. »Wissen Hoheit denn gar nichts mehr?«
»Langsam tauchen die Schemen aus der Vergangenheit auf. Ich bin mit ihr rausgefahren nach … wie, sagten Sie, hieß das?«
»Mayerling.«
»… ja, Mayerling. Wir verbrachten einen netten Abend, der Bratfisch hat ein paar Wienerlieder g’sungen und dann sind wir schlafen gegangen. Natürlich kann ich mich nicht mehr an alle Details erinnern.«
»Das waren keine Details, das war die Katastrophe des Jahrhunderts. Darf ich Hoheit ins Gedächtnis rufen: Sie nahmen einen Revolver zur Hand und drückten mehrmals ab. Zuerst töteten Sie die arme Baronesse Vetsera und dann sich selbst. So etwas kann man doch nicht vergessen!«
»Das ist ja wirklich eine schreckliche Geschichte«, schien Rudolf endlich die wahre Dimension seiner Tat zu erkennen. »Es tut mir aufrichtig Leid. Ich muss die Sache wohl verdrängt haben.«
»Verdrängt? Dieser Begriff wurde erst viel später erfunden.«
»Von Sigmund Freud, ich weiß. Ich habe seine Schriften studiert. Er ist der Einzige, der die Antwort geben kann auf das Rätsel von …, wie sagten Sie?«
»Mayerling. Erkennen Sie da einen Zusammenhang mit Sigmund Freud?«
»Er ist es, der die Wurzeln allen Übels in den Tagen unserer Kindheit sieht.«
»Was hat Mayerling mit Ihrer Kindheit zu tun?«
»Ich kann’s Ihnen erklären«, meinte der Kronprinz. Wir waren ein paar Schritte in Richtung einer kleinen Waldlichtung gegangen, an der ein Holztisch und eine einfache Holzbank standen. Wir setzten uns, und Rudolf fuhr in seiner Erzählung fort: »Meine ersten Lebensjahre waren geprägt von drakonischen Erziehungsmaßnahmen, die mich auf meine Aufgaben als künftiger Herrscher vorbereiten sollten. Ein autoritärer General namens Gondrecourt trug die Verantwortung für meinen Werdegang. Seine sogenannten Abhärtungsstrafen haben bleibende Schäden an meiner Psyche hinterlassen.«
»Mayerling kann man nicht mit psychischen Schäden abtun«, wandte ich ein.
»Ab meinem dritten Lebensjahr ließ mich der General nachts durch Pistolenschüsse und Kaltwassergüsse aus dem Schlaf schrecken, und als ich sechs war, sperrte er mich allein in den Lainzer Tiergarten, wo ich aus panischer Angst vor Wildschweinen wie am Spieß brüllte.«
»Ihre Eltern ließen das zu?«
»Mein Vater, der in seiner Kindheit selbst nichts anderes gekannt hatte, hielt derartige Maßnahmen für richtig. Meine Mutter protestierte zwar, konnte aber auf die Zustände in der kaiserlichen Kindskammer keinen Einfluss nehmen.«
»Schrecklich«, sagte ich, »aber Mayerling können Sie damit nicht erklären.«
»Die Wildschwein-Episode war für meine Mutter der Anlass, dem Kaiser ein Ultimatum zu stellen: Entweder die Erziehung der Kinder würde in ihren Einflussbereich übergehen oder sie würde ihn für immer verlassen. Da erhielt ich in Joseph von Latour einen großartigen Erzieher, dessen Geisteshaltung für mein späteres liberales Weltbild bestimmend wurde.«
»Na, also«, sagte ich.
»Da war’s aber schon zu spät. Der Drill der ersten Jahre hatte Spuren hinterlassen, die sich unauslöschlich in meine Seele brannten. Und die Schikanen gingen weiter. Während ich mich für die Tier- und Pflanzenwelt begeisterte, verbot mir der Kaiser das Studium der Naturwissenschaften. Stattdessen musste ich am langweiligen Hofleben teilnehmen und eine militärische Ausbildung absolvieren.«
»Das mussten viele«, erklärte ich.
»Ja, aber wussten Sie, dass ich ab dem zweiten Tag meines Lebens Oberst des 19. Infanterieregiments war und von frühester Kindheit an gezwungen wurde zu exerzieren? Mit 22 war ich Generalmajor, mit 24 Feldmarschallleutnant.«
»Das waren Titel ohne besondere Bedeutung«, gab ich zu bedenken.
»Mag sein, aber ich hatte die militärische Laufbahn durchzumachen, obwohl ich mich für ganz andere Dinge interessierte. Ich hatte tausend Ideen, die politische, ökonomische und soziale Situation in der Monarchie zu verbessern, trat für eine Verkürzung der Arbeitszeit ein und wollte die Grenzen zwischen Arm und Reich sprengen.«
»Wie reagierte Ihr Vater darauf?«
»Mein Vater?« Der Kronprinz lächelte gequält. »Mit dem konnte ich Derartiges nie besprechen. Wie allen Untertanen war es mir untersagt, dem Kaiser eine Frage zu stellen oder auch nur ein Thema anzuschneiden, ohne von ihm dazu aufgefordert zu werden. Ich hatte nie Gelegenheit, ihn mit meinen Gedanken zu konfrontieren. Und so kam ich mir bald nutzlos vor und musste verzweifelt zusehen, wie die Monarchie in den Untergang schlitterte.«
»Schlimm«, sagte ich, »aber das alles kann keine Ausrede für die Tat von Mayerling sein.«
»Natürlich nicht«, zeigte sich der Kronprinz einsichtig. »Diesbezüglich müssten wir ein Thema anschneiden, das mir ziemlich …«
»Sprechen Sie, Hoheit!«
»… das mir ziemlich peinlich ist.«
»Nur zu«, ermutigte ich ihn, »wir sind unter uns.«
Die dienstbaren Geister waren uns in gehörigem Abstand gefolgt und erreichten gerade in diesem Augenblick die kleine Waldlichtung, an der wir Platz genommen hatten. Nun stellten sie etwas Brot, Käse und eine Flasche Rotwein vor uns hin.
»Wer über meinen Tod spricht«, erklärte Rudolf, als sich das Personal wieder entfernt hatte, »der muss mein Leben verstehen. Also auch meinen Umgang mit Frauen. Seit ich denken konnte, flogen mir die Herzen der Mädchen zu, und ich ließ keine Gelegenheit aus, mich mit ihnen zu vergnügen. Ich nahm sie mir alle, hatte von frühester Jugend an Affären sonder Zahl. Es gehörte zu den Aufgaben meines Obersthofmeisters Graf Bombelles, mein Sexualleben durch Zuführung attraktiver Frauen zu bereichern. Weiters sorgte Madame Wolf, die berühmteste Kupplerin von Wien, für ständigen Nachschub, aber echte Zuneigung oder gar Liebe blieben mir auf diese Weise fremd. Dafür holte ich mir dank des liederlichen Umgangs Geschlechtskrankheiten, ich griff zu Drogen und Alkohol.«
»Was sagte denn Ihre Frau zu diesem Lotterleben?«
»Meine Frau? Ich bitte Sie, die ging das überhaupt nichts an! Stephanie war eine unattraktive Prinzessin aus Belgien, um deren Hand ich fünf Minuten nach dem Kennenlernen anhalten musste. Ich wurde zu der Heirat gezwungen. In Abwandlung eines alten Spruchs kann ich nur sagen: ›Du unglückliches Österreich heirate!‹«
»Die Baronesse Vetsera haben Sie auch nicht geliebt?«
»Was, die Kleine? Ich hatte neben ihr ein Dutzend anderer Affären, noch in der Nacht vor Mayerling war ich bei der Edelhure Mizzy Caspar. Die Vetsera war eine Zufallsbekanntschaft, ein unschuldiges Geschöpf, das das Pech hatte, gerade in dieser Nacht bei mir zu sein.«
»Was Sie mir da erzählen, Hoheit, mag die Tragödie Ihres Lebens erklären. Nicht aber Ihren Tod.«
»Die Sinnlosigkeit meines Daseins erlaubte mir als Aristokrat und Offizier nichts anderes zu tun als zu sterben. Es war eine Frage der Ehre.« Rudolf aß ein paar Bissen von seinem Käsebrot und trank einen Schluck Wein.
»Aber Mary Vetseras Tod war keine Frage der Ehre«, entgegnete ich. »Sie sind ein ganz gewöhnlicher Mörder, der sich – so drückte es Ihr Vater aus – wie ein Schneider aus der Verantwortung gestohlen hat. Sie raubten einem 17-jährigen Kind das Leben, nur weil Sie im Augenblick des Todes nicht allein sein konnten.«
»Sie haben vollkommen Recht«, nickte er und sprach jetzt um vieles leiser weiter. »Ich habe den Ruf des Hauses Habsburg in seinen Grundfesten erschüttert und meine Eltern ins Unglück gestürzt. Dem ist nichts hinzuzufügen.«
»Oh ja«, nahm ich die einzigartige Gelegenheit wahr, Kronprinz Rudolf zur Rede zu stellen, »dem ist noch einiges hinzuzufügen. Denn die Folgen Ihrer Tat gehen viel weiter. Sie haben damit die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf den Kopf gestellt und Generationen von Menschen ins Verderben geschickt.«
»Wieso das?«, wunderte er sich.
»Das kann ich Ihnen erklären. Ohne Mayerling hätte das 20. Jahrhundert die Chance gehabt, ein Jahrhundert des Friedens zu werden. Mit Ihnen als künftigem Regenten hätte es keinen Franz Ferdinand, ohne Franz Ferdinand kein Sarajewo, ohne Sarajewo keinen Ersten Weltkrieg gegeben. Und ohne Ersten wohl auch keinen Zweiten. Zugegeben, das sind sehr gewagte Spekulationen, aber die müssen Sie sich schon gefallen lassen.«
Rudolf war völlig in sich zusammengesackt. Er erhob sich langsam und ging schweigend zu der auf ihn wartenden Karosse zurück. Dort schnippte er mit dem Finger, und die dienstbaren Geister öffneten den Wagenschlag. Während er einstieg, hielt er noch kurz inne und rief mir fast tonlos zu: »Ich möchte mich für dieses Gespräch bedanken. Seit mehr als hundert Jahren warte ich auf die Gelegenheit, mich jemandem anvertrauen und über mein verpfuschtes Leben sprechen zu können. Ich bin froh, dass ich es hinter mir habe.«
Der Wagenschlag wurde geschlossen, und die Karosse entschwand in die Richtung, aus der sie gekommen.