Читать книгу "Wie war es wirklich?" - Georg Markus - Страница 8
ОглавлениеIch stand an der Garderobe des Wiener Musikvereins und wartete – immer noch unter dem Eindruck der monumentalen Wucht von Mahlers Siebenter Symphonie – auf die Rückgabe meines Mantels. Da gesellte sich eine etwas üppige, gerade noch in den besten Jahren befindliche Dame zu mir und musterte mich von oben bis unten.
»Ihr Beruf?«, fragte sie streng.
»Künstler«, erklärte ich großspurig, ohne ins Detail gehen zu wollen.
»Sehr gefährlich«, sagte sie.
»Wieso?«
»Hatte ich einige.«
»Pardon, wie meinen Sie das, Madame?«
»Zähle ich sie der Reihe nach auf, waren’s Klimt, Zemlinsky, Mahler, Gropius, Kokoschka, Werfel, und wenn ich ein bisschen nachdenke, fallen mir sicher noch ein paar ein …«
»Sind Sie’s wirklich?«
»Natürlich«, antwortete sie und sah mir tief in die Augen.
»Gnädige Frau, ich bin verheiratet«, beeilte ich mich zu erklären.
»Hat mich noch nie gestört. Können Sie mich malen, mir eine Etüde widmen oder wollen Sie mir eine Villa im Grünen bauen?«, fragte sie.
»Weder noch. Ich bin Schriftsteller.«
»Na, dann schreiben Sie ein Buch über mich. Lassen Sie mich Ihre Muse sein. Das kann ich.«
Ich glaubte es ihr aufs Wort, zog aber dennoch so schnell wie möglich meinen Mantel über, um mich aus dem Staub zu machen.
»Langsam, junger Mann«, rief sie, hinter mir herhechelnd, »bei mir hat’s noch keiner bereut. Was glauben Sie, wie viele Symphonien Mahler und Zemlinsky mit meiner Hilfe komponiert, wie viele Bilder Klimt und Kokoschka gemalt, wie viele Häuser Gropius gebaut und wie viele Bücher Werfel dank meiner mannigfachen Fähigkeiten geschrieben haben. Können Sie es sich leisten, auf solche Hilfestellung zu verzichten?«
»Eigentlich nicht, gnädige Frau. Aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit.«
»Nehmen Sie mich wenigstens ein Stück in Ihrem Wagen mit. Dann verrat ich Ihnen ein paar Geheimnisse aus meiner Tätigkeit als Femme fatale.«
So schnell konnte ich gar nicht schauen, saß Alma schon in meinem Auto, ließ ihre ohnehin äußerst freizügig geschnittene Bluse noch ein wenig zur Seite gleiten – und los ging’s.
»Wer war Ihr Erster?«, versuchte ich unsere Erkundungsfahrt mit einer originellen Frage zu eröffnen.
»Wahrscheinlich Klimt«, antwortete sie. »Aber so genau weiß ich das nicht mehr. Der Erste, der zählt, war Mahler, damals Hofoperndirektor. Ich habe ihn geliebt, aber er hat mich, wie alle, nur benützt und unterdrückt.«
»Genau diese Eigenschaften werden eigentlich Ihnen zugeschrieben.«
»Unsinn. Ich hatte vor meiner Ehe selbst komponiert, aber Mahler hat mir jede weitere künstlerische Tätigkeit verboten. ›Du hast von nun an nur den einen Beruf‹, meinte er, ›mich glücklich zu machen!‹«
»Und? Haben Sie ihn glücklich gemacht?«
»Vielleicht ein bisschen. Ich jedenfalls wurde es nicht. Schauen Sie, was ich da geschrieben habe«, sagte Alma und zog ein abgegriffenes Tagebuch aus der Handtasche.
Glücklicherweise war die Ampel gerade auf Rot, so dass ich die Eintragung entziffern konnte: »Ich sterbe vor Sehnsucht nach dem Klavierspielen. Ich vegetiere vor mich hin. Ich brachte Opfer, um eine gute Muse zu sein. Mein eigenes Leid spielte keine Rolle dabei.«
Kaum hatte ich fertig gelesen, fragte sie mich: »Was macht eine arme kleine Frau in so einer Situation?«
»Keine Ahnung«, erklärte ich, da ich nie zuvor in eine solche gekommen war.
»Sie nimmt sich einen jungen Geliebten! Er hieß Gropius. Und der hat mit seinem Bauhaus-Stil nicht nur die Architektur des 20. Jahrhunderts revolutioniert, sondern auch mein Liebesleben. Er war göttlich! Anfangs auf jeden Fall.«
»Wie hat Mahler von Ihrer Untreue erfahren?«
»Das war wirklich unangenehm.« Man sah Alma an, dass ihr die Sache immer noch peinlich war. »Gropius hatte in seiner Erregtheit einen leidenschaftlichen Liebesbrief irrtümlich an Gustav statt an Alma Mahler adressiert. Meine kleine Affäre hat den Armen sehr hergenommen, aber was hätte ich denn tun sollen, ich bin ja auch nur eine Frau, die nichts anderes kann als lieben.«
»Mahler«, ergänzte ich und fuhr wieder los, »wandte sich in seiner Verzweiflung an Sigmund Freud. Konnte der ihm helfen?«
»Angeblich soll Gustav durch die Psychoanalyse seine Potenz wiedererlangt haben«, sagte Alma.
»Was heißt angeblich? Sie müssen es doch wissen.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Weil Sie zu diesem Zeitpunkt in Gropius’ Armen lagen?«
»Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Mit Gropius war’s da schon wieder vorbei. Denn ich widmete mich gerade intensiv den Komponisten Hans Pfitzner, Franz Schreker und dem Maler Kokoschka.«
»… der Ihnen 400 Liebesbriefe schickte.«
»Es waren aufregende Jahre, die leider infolge seiner krankhaften Eifersucht in einen beinahe tödlichen Liebeskampf mündeten.«
»Vielleicht war seine Eifersucht gar nicht so krankhaft?«
»Ach Gott, die paar Männer! Als ich mit Oskar Schluss machte, ließ er sich aus Verzweiflung eine Puppe nähen, die mir in allen Details glich.«
»In allen Details?«
»Ja, in allen!« Alma holte ihr Schminkzeug aus der Tasche, legte frisches Rouge auf, zog die Lippen nach, sprach aber ohne Unterbrechung weiter: »Kaum war ich frei, erinnerte ich mich wieder an Gropius. Ich kehrte zum Besten meiner Liebhaber zurück und heiratete ihn. Aber er ging mir bald wieder auf die Nerven, er langweilte mich. Der Mann war meinem Tempo nicht gewachsen.«
»Was machten Sie in dieser Situation?«
»Ich warf mich auf Werfel. Ein Freund hatte ihn zu einer meiner legendären Abendgesellschaften mitgebracht. Er gefiel mir gar nicht, er war ein hässlicher Zwerg, aber er verliebte sich natürlich unsterblich in mich. Schließlich erkannte ich sein Genie – und da war’s auch schon geschehen.«
»Warum mussten sämtliche Ihrer Liebhaber berühmt sein?«
»Berühmt? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Dann wird’s aber Zeit, darüber nachzudenken, gnädige Frau! Friedrich Torberg – der Ihnen sehr gut gesinnt war – meinte, dass Erfolg Sie betört hätte. Kann das stimmen?«
»Gestört hat er mich jedenfalls nie. Kaum war Werfel in mein Leben getreten, stand ich vor der schwierigen Aufgabe, Gropius noch einmal loszuwerden. Zur Annullierung der Ehe gehörte viel Fingerspitzengefühl – aber glauben Sie mir: Das hab ich!«
»Werfel war, wenn ich nicht irre, Ihr dritter Ehemann«, warf ich zwecks empirischer Überprüfung ein.
»Ja, ich glaube.«
»Waren Sie auch in dieser Ehe als Muse erfolgreich?«
»Mehr als das! Unter mir schrieb Werfel seine bedeutendsten Werke, Das Lied der Bernadette und Jacobowsky und der Oberst. Als Hitler kam, opferte ich mich neuerlich und emigrierte mit ihm nach Amerika. Ich hätte nicht müssen, aber so war ich eben. Immer nur an das Wohl meiner Männer denkend, nie an mein eigenes.«
»Also«, fasste ich all meinen Mut zusammen, »irgendetwas stimmt nicht mit Ihnen. Mich befremdet, dass die beiden Männer, deren Namen Sie tragen, Juden waren, es über Sie aber jede Menge Unterlagen gibt, die Sie als lupenreine Antisemitin ausweisen. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?«
Alma räusperte sich und tupfte sich verlegen die Nase ab. »Woher wissen Sie das?«
»Dies ist neueren Alma-Mahler-Werfel-Biografien zu entnehmen.«
»Antisemitin ist übertrieben, ich war vielleicht nicht gerade …«
»… Ihr Biograf Oliver Hilmes schreibt, dass Werfel Ihrer Meinung nach nicht Deutsch konnte, weil er Jude war. Weiters sagten Sie, die ›Rassenfremdheit‹ zwischen ihm und Ihnen sei unüberbrückbar gewesen. Auch hätten Sie sich geweigert, den Sie stürmisch verehrenden Zemlinsky zu heiraten, weil Sie es ablehnten, die Kinder eines Juden zur Welt zu bringen.«
»Bedenken Sie, dass ich bei Mahler und Werfel keine diesbezüglichen Probleme hatte.«
»Die waren auch wesentlich berühmter. Und reicher. Nach Werfels Tod bemühten Sie sich, wie es heißt, um den Dirigenten Bruno Walter.«
»Na schön, Bruno war ein toller Künstler. Aber er brauchte mich nicht.«
»Vielleicht auch deshalb, weil Sie Hitler als ›Genie an der Spitze eines großen Volkes‹ bezeichnet hatten.«
»Na ja, der Hitler …«
»Man weiß heute, dass die Nachwelt Sie vor allem deshalb als bedeutende Muse sieht, weil Sie alles getan haben, sich in Ihren Memoiren zu heroisieren. Aber Ihre Mitwelt hat keineswegs nur Freundliches über Sie hinterlassen.«
»Zum Beispiel?«
»Adorno bezeichnete Sie als Monster, für Gina Kaus waren Sie der schlechteste Mensch, den sie kannte, andere hielten Sie für ein sexbesessenes Luder, das nichts anderes im Sinn hatte, als ihre Lebensgefährten schamlos auszunützen. Gesellschaftlich, finanziell und erotisch. Das Wort Treue war Ihnen fremd, Sie waren eine …«
»Also, ganz so schlimm wird’s schon nicht gewesen sein.«
»Zu Ihren Gunsten kann nur eine gewisse genetische Veranlagung angeführt werden. Ihre Mutter Sofie betrog Ihren Vater Emil Jacob Schindler mit seinen beiden Malerkollegen Julius Victor Berger und Carl Moll.«
»Sie hat Moll später geheiratet, und er beschützte mich wie eine Tochter.«
»Womit er ziemlich viel zu tun hatte. Zur Zeit Ihres Flirts mit Klimt waren Sie siebzehn, dieser wurde von Zemlinsky abgelöst, den Sie stehen ließen, als Mahler kam …«
»Und mich zwang, mit dem Komponieren aufzuhören.«
»Sie bezeichnen sich als Opfer, dabei haben Sie ihn auf dem Gewissen. Mahler hat sich von der Kränkung, dass Sie ihn mit Gropius betrogen haben, nie erholt, er starb ein Jahr später an gebrochenem Herzen. Abgesehen davon haben Sie ihn um 53 Jahre überlebt, aber auch nach seinem Tod keine einzige Note mehr komponiert.«
»So also sieht mich die Nachwelt?«, stöhnte Alma. »Tja, wenn es heutzutage schick ist, in den Lebensgeschichten einer Dame herumschnüffeln, ist man selbst als größte Muse aller Zeiten machtlos.«
Alma Mahler-Werfel wischte sich eine Träne von der Wange. »Ganz schön hart, wie Sie mit einer kleinen, schwachen Frau umgehen«, sagte sie und warf ein Bein so geschickt über das andere, dass mir der Atem stockte. Als wir just in diesem Moment vor ihrem Hotel ankamen, bat sie mich, meinen Wagen anzuhalten. »Wollen Sie auf ein Glas Champagner mit raufkommen?«, fragte sie, während sie ihre seidenweichen Arme um meinen Hals schlang.
Notgedrungen enden hier meine Aufzeichnungen, zumal meine Frau als eifrige Leserin meiner Bücher bekannt ist.
Nur so viel kann ich sagen: In dieser Nacht hat mich die Muse geküsst.