Читать книгу "Wie war es wirklich?" - Georg Markus - Страница 22

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Irgendwann, als ich an diesem Buch schrieb, fasste ich den Entschluss, für ein paar Tage zu verreisen, um mich von den aufwühlenden Gesprächen mit all den Großen der Geschichte erholen zu können. Meine Wahl fiel auf Bad Ischl, weil ich dort keine Menschenseele kannte und daher nicht Gefahr lief, irgendjemandem zu begegnen.

In der alten Kaiserstadt angekommen, ließ ich mich in der schönen Villa Schratt nieder, in der ein respektables Haubenrestaurant etabliert ist. Nach intensivem Studium der ausgewogenen Speisenkarte bestellte ich ein dreigängiges Menü, bestehend aus Kaiser-Schöberlsuppe, Stefanie-Rostbraten mit Franz-Joseph-Kartoffeln, Habsburger-Salat und danach eine Portion Maria-Theresien-Nockerln. Zu guter Letzt biss ich noch in einen Apfel der Sorte Kronprinz und nippte an einer Sissi-Melange, als die Tür geöffnet wurde und ein zünftig gekleideter Herr mit weißem Backenbart eintrat.

Ich wollte ihm schon »Ober zahlen!« zurufen, weil im Salzkammergut viele Menschen in ähnlicher Bart- und Kleidertracht aufzutreten pflegen, doch als ich genauer hinsah, entdeckte ich geradezu Unglaubliches. Ja, er war es. Der Kaiser von Österreich, König von Ungarn, Böhmen, Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien. Seine Apostolische Majestät, Franz Joseph I.

Da der hohe Herr es verabsäumt hatte, einen Tisch reservieren zu lassen, der Speisesaal restlos überfüllt und nur der Sitz neben mir frei war, fragte er, ob er sich zu mir setzen dürfte.

»Majestät«, erklärte ich submissest, »ich habe zwar heute meinen freien Tag, aber eine solche Gelegenheit kann und will ich mir nicht entgehen lassen. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Der Monarch legte Hut und Mantel ab, ließ sich nieder und bestellte Kaiserschmarrn. Glücklicherweise wurde er weder vom Personal noch von den übrigen Gästen erkannt, so dass er mir in den nächsten dreißig Minuten exklusiv zur Verfügung stand. Selbst als er die Serviererin beim Auftragen der Süßspeise fragte, ob die Frau Schratt zu Hause sei, wurde kein Verdacht geschöpft. Man hielt ihn für einen schrulligen Altbauern und beachtete ihn nicht weiter.

Ich aber fragte sogleich, warum Majestät zu diesem ungewöhnlichen Zeitpunkt – wir schrieben den Sommer des Jahres 2007 – nach Ischl gekommen sei.

»Ich wollte wieder einmal sehen, was los ist«, erklärte er, »sowohl hier in Ischl als auch in den anderen Teilen der Monarchie. Wenn man wie ich 68 Jahre lang regiert hat, hat man ein gutes Recht darauf, zu erfahren, wie es weiterging. Vielleicht«, sagte er zu mir, »können Sie mir ein bisserl was verraten: Hat sich in meinem Reich irgendwas verändert, seit ich es verlassen habe?«

»Kaum der Rede wert«, versuchte ich Franz Joseph von jeglicher Aufregung fernzuhalten.

»Ich kann’s mir schon vorstellen«, dachte er laut. »In Österreich ist ja immer viel passiert, aber letztlich is dann doch alles beim Alten geblieben. Wie heißt denn mein Nachfolger auf dem jetzt schon … lassen Sie mich einmal nachrechnen … mehr als siebenhundert Jahre alten Habsburger-Thron?«

»Majestät«, versuchte ich’s ihm schonend beizubringen, »es gibt keinen Thron – Österreich ist keine Monarchie mehr.«

»Was?« Der Kaiser drohte an dem eben servierten Kaiserschmarrn zu ersticken. »Er will mir doch nicht weismachen, dass mein Reich von irgendeinem Bürgerlichen regiert wird. Österreich-Ungarn eine Republik? Undenkbar!«

»Doch, doch, Majestät. Und weil Sie Ungarn sagen – Ungarn ist überhaupt weg.«

»Mach er sich nicht lustig über mich!« Franz Joseph sprang auf, als hätte er für einen Moment sein hohes Alter vergessen. »Was ist mit Galizien, Lemberg, wo sind Prag, Teschen, Mährisch-Ostrau, Friaul, die Adria, Triest, Abbazia?« Sein Blick schweifte hinüber zur benachbarten Kaiservilla, »und was ist mit meinem geliebten Bad Ischl, befinden wir uns in diesem Augenblick vielleicht schon auf exterritorialem Gebiet?«

»Nein«, konnte ich den Monarchen wenigstens in diesem Punkt beruhigen, »Ischl gehört uns noch. Aber alles andere ist verloren.«

Um Jahre gealtert, ließ sich der Kaiser wieder in seinen Sessel sinken und fragte schreckensbleich: »Ja, um Gottes willen, wie ist denn das alles gekommen?«

»Majestät hätten sich in diesen Weltkrieg nicht einlassen dürfen«, musste ich ihm reinen Wein einschenken.

»Ist er denn nicht gut ausgegangen für uns?«

»Gar nicht gut. Österreich hat neunzig Prozent seines Territoriums verloren, durch den Ersten Weltkrieg.«

»Was heißt Ersten Weltkrieg? Gab’s denn noch einen Zweiten?«

»Leider ja, Majestät.«

»Sind die Politiker denn net g’scheiter worden, wenn schon der Erste Weltkrieg so schlecht ausgegangen ist?«

»Leider nein, Majestät.«

Franz Joseph nahm eine Zigarre seiner Lieblingsmarke Regalia Media aus dem Etui, entzündete sie und stellte die nächste Frage: »Wie sieht denn der Alltag meiner Völker heutzutage aus?«

»An den Abenden wird ferngesehen.«

»Wovon spricht er da?«, blickte mich der Erhabene aus gütigen blaugrauen Augen an.

»Von der Television«, erklärte ich dem Ahnungslosen.

»Was ist denn das?«

»Fernsehen ist das einzige Schlafmittel, das mit den Augen eingenommen wird.«

»Bekommt man das in der Apotheke?«

»Nein, im Elektrohandel.«

»Sehr eigenartig. Gibt’s noch andere solch neumodischer Erfindungen, hat die Welt auch auf anderen Gebieten Fortschritte gemacht?«

»O ja, doch! Wir fliegen um die Welt, wir fliegen zum Mond und bald werden wir auch zum Mars fliegen. Als wesentliche Errungenschaft unserer Tage gilt die Atomkraft, mit deren Hilfe die Menschen noch problemloser umgebracht werden können als zu Ihrer Zeit. Die Atomkraft kann aber auch im Rahmen ihrer friedlichen Nutzung ganze Landstriche auslöschen.«

»Und das nennen Sie Fortschritt?«

»Fortschritt bedeutet heute: Wir wissen immer mehr und haben immer weniger davon!«

»Und wie ist’s mit dem Fortschritt in der Medizin?«

»Beachtlich, Majestät. Die medizinische Forschung ist so fortgeschritten, dass es praktisch überhaupt keinen gesunden Menschen mehr gibt.«

»Wahrscheinlich«, stöhnte der Kaiser, »bin ich in dieser modernen Zeit schon völlig in Vergessenheit geraten. Oder lässt es die Hektik Ihrer Epoche zu, dass sich die Menschen meiner erinnern?«

»Aber natürlich! Majestät sind das Symbol des alten Österreich, die Personifizierung des integren, pflichtgetreuen Staatsmannes. Was allerdings keine besondere Kunst ist bei den Staatsmännern, die Ihnen folgten.«

»Wenn mich die Leut nicht vergessen haben, dann denken Sie wahrscheinlich an meine Leistungen als Regent und Feldherr, sie schwärmen davon, dass ich die Ringstraße, das Burgtheater, die Hofoper und die Museen für meine Wienerstadt geschaffen habe.«

»Das weniger«, korrigierte ich, »in erster Linie wollen die Leute alle Details Ihrer Ehe mit Kaiserin Elisabeth wissen, aber auch Intimes von Frau Schratt und anderen Damen.«

»Unverschämtheit! In was für einer Zeit lebt er denn?«, ärgerte sich der Kaiser und fügte dann noch an: »Ich hab ja, wie Sie vielleicht wissen, immer gesagt, dass mir nichts erspart bleibt. Aber eines ist mir doch erspart geblieben.«

»Was denn?«

»In Ihrer Zeit leben zu müssen.«

Kaiser Franz Joseph erhob sich, schlüpfte in seinen Lodenmantel, setzte den Trachtenhut auf und verließ die Stätte, die ihm einst so glückliche Stunden geschenkt. Irgendwie hatte ich den Eindruck, er verstünde die Welt nicht mehr.



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