Читать книгу "Wie war es wirklich?" - Georg Markus - Страница 12
ОглавлениеDas soll a Koffer sein? Na hörn S’, des is ja a Schubladkasten!« Der Text kam mir irgendwie bekannt vor. Dabei wollte ich nichts anderes als einen Dienstmann, der mein Gepäck vom Taxi zum Schlafwagen bringt, um mit meiner Frau eine seit langem geplante Venedig-Reise antreten zu können.
»Der hat aber a G’wicht«, nörgelte der Dienstmann weiter und inspizierte den Koffer von allen Seiten. »Einen Koffer so anstopfen, is a Bledsinn! Und nach’n neuen Tarif kommt er Ihna sehr hoch, wenn i den tragen tu.«
Der Mann, der uns am Wiener Südbahnhof gegenüberstand, war nicht gerade groß, er war nicht jung – und kräftig wirkte er schon gar nicht. Vor allem aber gab er ständig neue Kommentare von sich. »Der Kilo kommt Ihna auf drei Euro. Die Frage is nur: Wie nehm’ ma’n denn? Weil, allein bring i’n net rauf, da miassn Sie a bissl nachhelfen, und das Fräulein aa.«
Während meine Gemahlin die Worte des Dienstmannes bisher emotionslos hingenommen hatte, fühlte sie sich jetzt persönlich betroffen: »Ich soll einen Koffer tragen?«, fragte sie gereizt.
»Koffer tragen«, äffte sie der Mann nach. »I brauch ihn ja nur aufg’legt. In dem Moment, wo ich ihn aufg’legt hab, renn ich ja eh damit wie a Wiesel.«
Es dauerte eine Viertelstunde, bis der Mann den Koffer geschultert hatte, freilich entglitt ihm das teure Gepäcksstück nach wenigen Schritten wieder, und es krachte zu Boden. Das Malheur kostete so viel Zeit, dass der Zug nach Venedig, als wir endlich am Perron einlangten, abgefahren war. »Wunder is kein’s«, gab uns der Dienstmann noch die Schuld, »wann ma mit so an Koffer reist.«
Meine Frau kochte vor Wut, und doch war sie es, die den entscheidenden Hinweis gab. »Das ist nicht irgendein Dienstmann«, flüsterte sie mir zu, »das ist der berühmte, du weißt schon.«
Nun bestand auch für mich kein Zweifel mehr. Hans Moser war nach Jahrzehnten wieder in die Rolle seines Lebens geschlüpft. Und da uns bis zur Abfahrt des nächsten Zuges eine halbe Stunde blieb, wollte ich mir die einmalige Chance nicht entgehen lassen, aus erster Hand zu erfahren, wie er zum größten Volksschauspieler seiner Zeit geworden war. Ich lud ihn auf ein Glas Bier in die anheimelnd gemütliche Atmosphäre der Bahnhofsrestauration ein, wo er die Verantwortung für das eben Geschehene neuerlich auf uns schob: »I hab Ihna glei g’sagt, dass es mit dem Koffer net gehen wird.«
»Sie haben vollkommen Recht«, bemühte ich mich um Deeskalation und erklärte, während wir einem freien Tisch zustrebten: »Vergessen wir den versäumten Zug, vergessen wir den Koffer, erzählen Sie uns lieber aus Ihrem Leben.«
»Aus mein’ Leben? Ich bitte Sie! Geboren, gestorben, das genügt! I bin ja net der Kaiser von China!«
»Aber der Kaiser vom Kino«, zeigte ich mich ob des gelungenen Wortspiels beglückt, doch Hans Moser blickte mich nur skeptisch an.
»Bitteschön, wenn S’ wirklich wollen, erzähl i Ihnen was.« Er deponierte seine Dienstmann-Utensilien am Fuß unseres Tisches und schien sich, während er Platz nahm, kunstvoll um die eigene Achse zu drehen. »Also, begonnen hat alles auf der Wienzeile«, legte er los, »dort bin i aufgewachsen. Mein Vater hat Franz Julier geheißen, er war von Ungarn nach Wien gekommen und hat hier als Maler und Bildhauer gearbeitet. Meine Mutter Serafina hatte ein Milchgeschäft am Naschmarkt, und wir lebten in großer Armut.«
»Wann erkannten Sie Ihre Berufung?«
»Berufung? Hören S’ ma auf! Wie i mit der Handelsschule fertig war, hab ich zu meinem Vater g’sagt, dass ich zum Theater will. Der hat mich ang’schaut, als sei ich verrückt geworden. ›Schauspieler willst werden?‹, hat er gemeint. ›Mit der Stimm und der Figur?‹ Aber niemand auf der Welt konnte mich davon abhalten.«
»Drei Krügel Bier«, bestellte ich beim Ober und schnitt das nächste Thema an: »Dann ging’s wohl auf die Schauspielschule?«
»Schauspielschule war des keine«, entgegnete Moser. »Am Schwarzenbergplatz gab es die private Theaterschule Otto, die hat mich gleich genommen. Aber nur, weil sich das Institut gerade in einer finanziellen Notlage befand und dringend Geld brauchte. G’lernt hab i dort nix, weshalb ich mir dann noch beim Burgschauspieler Josef Moser ein paar private Stunden geben ließ. Aus Dankbarkeit ihm gegenüber hab ich mir später dann den Künstlernamen Moser zugelegt.«
»Wann wurden Sie von Max Reinhardt entdeckt?«, wollte ich wissen.
»Warten S’ a bissl, hudeln S’ nicht so«, wies Moser mich zurecht. »Bis zum Reinhardt war’s ein weiter Weg. Kein Theater hat mich genommenen, nicht einmal in der Provinz. Und so landete ich auf Schmierenbühnen, spielte in schmutzigen Gasthaussälen in Böhmen, hab Kulissen geschoben und Theaterzettel verteilt.«
»Schrecklich«, sagte ich, »der große Hans Moser musste Kulissen schieben.«
»Groß?«, nuschelte er. »Ich bin 1 Meter 57. Und damit für die Liebhaberrollen zu klein. Aber für einen Komiker war i noch zu jung.«
»Da hieß es warten.«
»Über zwanzig lange und trostlose Jahre war i bei der Schmiere, aber i hab gewusst, dass meine Zeit kommen wird.«
Der Kellner stellte das Bier vor uns hin. Der Dienstmann machte einen Schluck und beschwerte sich gestenreich: »Hören S’, Herr Ober, des Bier is ja bacherlwarm, habt’s Ihr kan Eiskasten, so a Lokal hab i no net g’sehn. Und den Schaum muss ma mit der Lupe suchen.«
Als der Kellner davoneilte, um frisches Bier zu holen, moserte Moser ihm noch nach: »In Ober zahlen hab i aa an Kellner g’spielt, aber so a Bier hätt i mi net servieren traut, meiner Seel net. Wo sind ma stehen blieben?«
»Bei zwanzig Jahren Schmiere!«
»Richtig. Nach dem Ersten Weltkrieg kam ich endlich nach Wien. Ich spielte eine winzige Rolle im Kabarett Reklame auf der Praterstraße und lernte dort den Schriftsteller Fritz Löhner-Beda kennen. Der hat mir eine Solonummer auf den Leib geschrieben, einen nörgelnden Hausmeister. Das war mein erster Erfolg. Bald darauf hatte ich die Idee, auch einen Dienstmann zu spielen.«
Hans Moser stand vom Tisch der Bahnhofsrestauration auf, nahm unseren von vorhin leicht beschädigten Koffer zur Hand und rezitierte ein paar Sätze seines berühmten Sketches: »›Passen S’ auf, Fräulein, Sie nehmen ihn am besten, am besten nehmen Sie ihn mit’n Untergriff.‹
Sagt des Fräulein zu mir: ›Mit dem Untergriff?‹
Dann wieder i: ›Sei Lebtag, sie kann ihn nur mit dem Untergriff nehmen. Also sammas?‹
Sagt der Herr: ›Wie? Ich versteh Sie nicht!‹
Dann ich: ›Es is a Unglück, wenn einer net Deutsch versteht.‹«
Meine Frau und ich applaudierten dem komischen Dienstmann, und auch die übrigen Gäste zeigten sich ob der Darbietung hocherfreut.
»Mit der Nummer hatte ich gleich großen Erfolg, und das hat sich in Wien schnell herumgesprochen«, sagte Moser und setzte sich wieder zu uns. »Mehrere Theaterdirektoren kamen und wollten mich haben.«
»Und wie ging’s Ihnen privat?«
»Wie ich 1910 in Teplitz-Schönau engagiert war, traten dort die Brüder Hirschler auf. Die hatten eine Schwester namens Blanca, die mir gleich gefallen hat. Nach kurzer Zeit war Hochzeit, und sie war mir dann eine gute Frau, die mich auch im Beruf unterstützt hat.«
»Der Dienstmann brachte den Durchbruch?«
»Ja, ich wurde ans Theater an der Wien geholt und dann von Reinhardt nach Berlin und an die ›Josefstadt‹. Ich war schon 45 Jahre alt, als es mit der Karriere richtig losging. Vor allem im Tonfilm, ich hab insgesamt an die zweihundert Filme gedreht.«
»Viele davon in der Nazizeit«, warf ich ein, »da waren Sie in einer eigenartigen Situation. Einerseits zählten Sie zu den populärsten, erfolgreichsten und höchst bezahlten Stars, andererseits musste Ihre Frau vor den Machthabern flüchten.«
»Es war eine Tragödie«, nickte mir Moser zu und sah mich mit feuchten Augen an. »Die Blanca war Jüdin und bekam trotz meiner Prominenz keine Sondergenehmigung, um bleiben zu können. So ging sie nach Budapest, und wir waren jahrelang getrennt. Alle meine Erfolge, der Jubel des Publikums und das viele Geld konnten nicht verhindern, dass das die schlimmste Zeit meines Lebens war.«
»Das muss ein Wiedersehen gewesen sein, als Krieg und Nazizeit vorbei waren!«
»Ja, jetzt kamen unsere glücklichsten Jahre. Betrübt hat mich nur, dass meine Frau und meine Tochter zerstritten waren.«
»Warum?«
»Es war ein Malheur mit den beiden, die haben sich nie gut verstanden. Die Sache eskalierte, als unsere Tochter Gretl nach Buenos Aires ging, einen Argentinier heiratete und dort ein Kind adoptierte. Meine Frau hat diesen Buben nicht als Familienmitglied akzeptiert, weil sie befürchtete, dass durch ihn unser Vermögen, wie sie das ausdrückte, in fremde Hände gelangen würde.«
»Sie hat das über Ihren Tod hinaus erfolgreich verhindert«, klärte ich Hans Moser auf, »denn Ihre Frau hat Ihre Tochter enterbt. Es gab Prozesse, die sich über Jahrzehnte hinzogen, und schließlich ging der Großteil des Geldes an verschiedene karitative Institutionen. Gretl hat nichts von alldem gesehen, was Sie durch Ihre Filme verdient haben.«
»Schrecklich, das arme Kind«, erklärte der Dienstmann und zeigte, dass er auch das dramatische Fach beherrschte. Er stand auf, setzte zu einer umständlichen Drehung an und machte Anstalten, sich zu verabschieden. »So, Herr Chef, jetzt muss i weiter, das G’schäft ruft, gleich kommt der Elferzug aus Villach an, da muss i wieder die Koffer …«
»Moment«, rief meine Frau, zumal wir den nächsten Zug nach Venedig erreichen mussten. Und da kein anderer Dienstmann zur Stelle war, baten wir Herrn Moser, sich unseres Gepäcks anzunehmen. Während er dies mehrmals versuchte, erkannten wir die Undurchführbarkeit des Unterfangens: »Der Mann ist zu schwach«, flüsterte meine Frau.
»Was will sie denn, was hat sie denn?«, fragte der Dienstmann.
»Meine Frau meint, dass wir auf diese Weise auch den nächsten Zug versäumen werden.«
»Aber was, lächerlich«, nuschelte er in sich hinein, »kommen S’ nur, wir reißen den Koffer auf!«
»Wie bitte?«
»Wir reißen ihn empor!«
Ich half beim Schultern des Koffers, doch auch dieser Versuch misslang. »Eh hopp«, keuchte der Dienstmann mit letzter Kraft, »abiagn, abiagn, lass nach, umikanten. Sowas Bledes hab i no net g’sehn. Mei Liaba, uje, uje, fangen S’ ihn.«
Er hatte es zu spät gesagt, weshalb der Koffer einmal mehr krachend zu Boden fiel. Diesmal platzte er an allen Ecken, und unsere Wäsche lag verstreut am Bahnsteig. Während meine Frau einer Ohnmacht nahe war, klagte der Dienstmann nur: »Naja, die Schlösser san ja aa nix wert.«
Aus dem Wochenende in Venedig war nichts geworden. Aber die Erzählungen des Dienstmannes hatten uns für alles entschädigt.