Читать книгу "Wie war es wirklich?" - Georg Markus - Страница 14

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Ich saß in der Redaktion und dachte über den ersten Satz des nächsten Kapitels nach. Er fiel mir wie immer nicht ein. Als nach einer mir endlos erscheinenden Zeit endlich der rettende Gedanke kam, tippte ich ihn glückselig in den Computer: »Es war ein strahlender Sommertag, der förmlich danach schrie …«

»Ein Sommertag schreit nicht«, wurde mein eben einsetzender Schreibfluss durch einen fremden Herrn unterbrochen, der ohne vorherige Anmeldung das Zimmer betreten hatte.

»Im übertragenen Sinn kann auch ein Sommertag schreien«, erwiderte ich ungehalten. »Und überhaupt: Wer sind Sie eigentlich?«

»Ich bin Ihr sprachliches Gewissen«, sagte der unscheinbar aussehende Mann mit randloser Brille. »Und ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich einen Kollegen von Ihnen schon wegen eines fehlenden Beistriches vor Gericht zitierte.«

»Dann können Sie nur Karl Kraus sein.«

»Ja, und Sie sind Journalist und somit Angehöriger eines Berufsstandes, der mir in jeder Faser meines Herzens verhasst ist.«

»Dabei gehörten Sie diesem Berufsstand selbst an, Herr Kraus. Umso weniger verstehe ich, dass Sie ständig über uns herziehen, uns als Journaille, Köter und Pressmafia beschimpfen.«

»Es gibt genügend Gründe dafür, nicht nur grammatikalische. Die Journaille, von der ich spreche, ist korrupt und wird bloß für das nicht bezahlt, was zwischen den Zeilen steht. Zu meiner Zeit jedenfalls habt Ihr Tintenstrolche die Macht des Wortes zu eurem eigenen Vorteil missbraucht.«

»Könnten Sie ein Beispiel nennen?«

»Gerne. Wenn man in den Jahren 1914 bis ’18 in führenden Tageszeitungen lesen konnte, dass an der Front ›bis aufs Messer‹ gekämpft würde, dann war das eine kriminelle Verfälschung, denn in Wahrheit wurde bereits Gas eingesetzt. Die Profiteure solcher Verharmlosung waren die Kriegshetzer und Waffenschieber.«

»Mich persönlich hat noch nie jemand zu bestechen versucht«, bedauerte ich aufrichtig. »Das liegt wohl daran, dass wir in ganz anderen Zeiten leben, Herr Kraus. Wäre es nicht richtig, das Kriegsbeil zu beenden?«

»Ein Kriegsbeil beendet man nicht, man begräbt es«, wies mich der Sprachreiniger auf einen peinlichen Lapsus Linguae hin, der in seinen Augen zur Verhängung der Todesstrafe gereicht hätte. »Für mich«, sagte er dann noch, »waren derartige Aphasien der Anlass, im Jahre 1899 Die Fackel als Kampforgan gegen die Verschluderung der deutschen Sprache zu gründen.«

»Ihre polemischen Attacken richteten sich aber nicht nur gegen sprachliche Fehlleistungen«, konterte ich.

»Ja, ich habe immer alles beim Namen genannt, und ich bin stolz darauf«, erklärte Karl Kraus. »Ich bezeichnete die alte Monarchie als ›Irrenhaus Österreich‹, habe den Weltkrieg und seine blutrünstigen Initiatoren schon verurteilt, als andere ihn noch mit dem Ruf ›Serbien muss sterbien‹ bejubelten. In der ersten Nachkriegs-Fackel nannte ich Kaiser Franz Joseph einen ›Staatsfallotten, der stets mehr Kaiserwetter als Verstand hatte, dem nichts erspart blieb und der eben darum der Welt nichts ersparen wollte‹.«

»Schön und gut Herr Kraus aber das ist schon sehr lange her …«

»Es muss richtig heißen: Schön und gut Komma Herr Kraus Komma …«, korrigierte er mich.

»Werden Sie mich deshalb klagen?«

»Keine Sorge, ich zitiere nur satisfaktionsfähige Gegner vor Gericht. Soll ich Ihnen sagen, wer meine Feinde waren? Zu ihnen zählten Arthur Schnitzler, Felix Salten, Hermann Bahr, der Kritiker Alfred Kerr, Wiens Polizeipräsident Johannes Schober, der korrupte Zeitungszar Imre Békessy und Sigmund Freud …«

»… dessen Psychoanalyse Sie als jene Geisteskrankheit bezeichneten, für deren Therapie sie sich hält.«

»Den Satz empfand ich als besonders treffend«, sonnte sich Kraus in seiner eigenen Formulierung.

»Freud und die Psychoanalyse haben Ihre Sprüche überlebt, Herr Kraus. Im Übrigen muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie selbst es waren, der so manchen Ihrer Gegner erst unsterblich machte.«

»Wieso?«

»Weil viele von ihnen längst vergessen wären, hätten Sie sie nicht durch Ihre meisterhaft formulierten Essays in die Literaturgeschichte eingehen lassen. Wer wüsste heute noch von der Existenz des Zeitungsmagnaten Békessy, hätten Sie ihn nicht mit den Worten ›Hinaus aus Wien mit dem Schuft!‹ berühmt gemacht? Wem würde der Name des Polizeipräsidenten Schober noch etwas sagen, hätten Sie nicht Plakate affichieren lassen, auf denen stand: ›Ich fordere Sie auf, abzutreten.‹«

»Mit gutem Grund. Herr Schober hatte die blutige Niederschlagung des Aufstandes im Juli 1927 zu verantworten. Die von ihm befehligte Polizei schoss vor dem Wiener Justizpalast wahllos auf Menschen, von denen viele, auch Kinder und Unbeteiligte, starben.«

»Dollfuß unterstützten Sie hingegen.«

»… weil ich hoffte, er würde Hitlers Einmarsch in Österreich verhindern.«

»Das Wort Hitler sollten Sie lieber nicht erwähnen. Als dieser in Berlin an die Macht kam, fiel Ihnen nichts anderes ein als ›Mir fällt zu Hitler nichts ein‹.«

»Wie alle meine Gegner zitieren Sie mich unvollständig, denn mir fielen auch die Vokabel ›irr-national‹ und ›Untergangster des Abendlandes‹ ein. Allerdings konnte ich 1933 nicht vorhersehen, wozu der Mann noch fähig sein würde.«

»Herr Kraus, man bezeichnete Sie auch als jüdischen Antisemiten.«

»Schon wieder so eine Simplifizierung, die man mir anhängte, weil ich gegen Herzls Judenstaat und für das assimilierte Leben der europäischen Juden eintrat. Ich wurde wohl auch deshalb Antisemit genannt, weil sich unter meinen mächtigen Feinden mehrere Juden befanden …«

»… und weil Sie mit 25 Jahren aus der Israelischen Kultusgemeinde austraten.«

»Korrekt: Israelitische Kultusgemeinde«, zeigte er einmal mehr seine grenzenlose Überlegenheit.

»Sie ließen sich dann katholisch taufen«, überraschte wiederum ich ihn mit Detailkenntnissen.

»Ja, aber ich trat auch aus der katholischen Kirche wieder aus.«

»Warum?«

»Weil der Bischof von Salzburg die Kollegienkirche als Spielstätte für Max Reinhardts Festspiele zur Verfügung stellte.«

»Fast hätt ich’s vergessen, gegen Reinhardt waren Sie ja auch! Ich habe den Verdacht, dass Sie all die Großen deshalb zu Ihren Feinden machten, um durch deren Prominenz Ihre eigene Bedeutung zu steigern. In Ihren Augen fand so gut wie niemand Gnade. Sogar Elias Canetti, der Sie verehrte, gelangte zu dem Schluss, dass Sie Ankläger und Richter in einer Person waren und so etwas wie einen Verteidiger erst gar nicht zuließen, da Sie sich und Ihr Urteil ohnehin für unfehlbar hielten.«

»Stimmt genau. Ein talentierter Mann, dieser Canetti.«

»War in Ihrem Leben überhaupt Platz für Privates?«, versuchte ich unserem Gespräch eine neue Wendung zu geben.

»Kaum. Sie dürfen nicht vergessen, dass ich 37 Jahre lang in 922 Ausgaben der Fackel fast jede Zeile selbst geschrieben habe, alles in allem 20 000 Seiten. Dazu kamen Die letzten Tage der Menschheit und weitere Stücke, Essays, Bücher und siebenhundert Vorträge. Da blieb für Anderes wenig Zeit.«

»Allerdings wissen wir von Ihrer Beziehung zu Sidonie Nadherny, die Sie regelmäßig auf Schloss Janowitz bei Prag besuchten.«

»Ich verbitte mir, die Baronin als bloße Geliebte zu bezeichnen, sie war eine grandiose Diskussionspartnerin, kreative Zuhörerin und einzigartige Repräsentantin kultureller Aktivitäten. Wechseln wir das Thema.«

»Gut! Wie, Herr Kraus, gingen Sie denn mit Ihren zahlreichen Kritikern um?«

»Mein Leitmotiv lautete: Wer gegen mich ist, wird ignoriert. Ich lese keine Manuskripte, bespreche keine Bücher, sondern werfe sie weg, ich prüfe keine Talente, gebe keine Autogramme, besuche keine Vorlesungen außer die eigenen, erteile keinen Rat, schreibe keinen Brief und will keinen lesen.«

»Genau diese Überheblichkeit hat Ihnen den Vorwurf eingebracht, dass Sie niemanden anderen gelten lassen als sich selbst.«

»Endlich eine Kritik, der ich vollinhaltlich zustimme. Ja, ich war immer überzeugt von mir und wusste, dass mein Werk die Zeit, in der ich lebe, überdauern wird.«

»Da haben Sie sich aber geirrt«, erwiderte ich frech. »Ihre Fackel lebte von den polemischen Angriffen auf die damals Mächtigen, aber die interessieren heute niemanden mehr. Deshalb sind die meisten Ihrer Essays trotz ihrer sprachlichen Brillanz verstaubt und vergessen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass ich in die Abgründe der Bedeutungslosigkeit gestürzt wurde?«

»Keineswegs, Sie sind heute prominenter denn je, jeder kennt Ihren Namen. Allerdings hat kaum jemand was von Ihnen gelesen.«

»Etwas«, korrigierte er mich neuerlich, »kaum jemand hat etwas von mir gelesen. Ich bitte um präzisere Ausdrucksweise.«

Das waren die letzten Worte, die das Sprachgenie an mich gerichtet hatte. Karl Kraus ging grußlos durch die Tür des Redaktionszimmers. Ich empfand die Begegnung als aufschlussreich, wenngleich sie mich nicht davon abhalten konnte, den ersten Satz des nächsten Kapitels – über Hedy Lamarr – so niederzuschreiben, wie ich ihn von Anfang an geplant hatte:

»Es war ein strahlender Sommertag, der förmlich danach schrie …«

Auch wenn Sommertage zugegebenermaßen nicht schreien können.



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