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Caruso überlebt das große Erdbeben … … als Gast im Palace Hotel, San Francisco
ОглавлениеDie Gebäude der Stadt brechen wie Kartenhäuser in sich zusammen
Der 18. April 1906 sollte das Leben der Bewohner von San Francisco für immer verändern. Auch nach Generationen rechnet man hier noch damit, dass ein solches Unglück jederzeit wieder kommen könnte. Es ist frühmorgens um 5.12 Uhr, als Hunderttausende Menschen in der kalifornischen Metropole aus ihrem Schlaf gerissen werden. Ein Beben der Stärke 7,8 auf der Richterskala macht innerhalb weniger Minuten die Stadt dem Erdboden gleich, Wolkenkratzer, viktorianische Holzhäuser, vor allem aber die alten Backsteinbauten brechen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Doch das Schlimmste steht der Stadt an der Golden-Gate-Brücke (die es damals noch nicht gab) erst bevor. Denn noch größer als die Katastrophe der Erderschütterung sind die Großbrände, die ihr folgen und nicht gelöscht werden können, da das Beben das Wasserleitungssystem der Stadt zerstört hat.
Die Feuerwehren sind ständig im Einsatz und müssen feststellen, dass aus keinem einzigen Hydranten Wasser fließt. Niemand kennt zu diesem Zeitpunkt das wahre Ausmaß der Katastrophe. Die vielen kleinen Brände vereinigen sich zu einem tosenden Flammeninferno, drei Tage lang brennt die ganze Stadt. Und die Feuerwehrleute müssen dem Ausbreiten der Flammen hilflos zusehen.
Enrico Caruso (1873–1921), italienischer Opernsänger, oft als größter Tenor aller Zeiten bezeichnet
Enrico Caruso, der seit vier Wochen mit dem Ensemble der »Met« quer durch die USA reist, hat am Abend vor der Katastrophe in der Grand Opera von San Francisco eine triumphale Vorstellung als Don José in Bizets Carmen gegeben. Danach ist er noch mit Kollegen zum Abendessen gegangen, um sich gegen Mitternacht in seiner Suite im fünften Stock des Palace Hotels zur Ruhe zu begeben. Das Palace mit seinen achthundert Zimmern war zur Jahrhundertwende eines der größten und renommiertesten Hotels der Welt.
Das Palace in San Francisco mit seinen 800 Zimmern war eines der größten und renommiertesten Hotels der Welt.
Der 32-jährige Tenor hatte am Abend vor dem Erdbeben erfahren, dass der Vesuv nahe seiner Heimatstadt Neapel ausgebrochen war und in seiner Umgebung ganze Dörfer zerstört hatte. Spitzzüngig wie er war, kommentierte Caruso die beiden Katastrophen, noch unter dem Schock des Erdbebens von San Francisco stehend, mit den Worten: »Da ist mir der Vesuv noch lieber!«
Die Vorstellung im Opernhaus von San Francisco war als letzte einer großen Amerikatournee geplant, die nächste Station sollte England sein. Caruso hatte bereits in ersten Interviews an Ort und Stelle geschildert, wie er durch die heftigen Stöße des Erdbebens in aller Früh aus dem Bett geschleudert und von herumfliegenden Stühlen fast erschlagen wurde. Kaum in London angekommen, bittet die Zeitschrift The Sketch den weltberühmten Tenor, einen detaillierten Bericht darüber zu schreiben, wie er das Erdbeben erlebt habe.
»Mein Bett schwankt, als ob ich auf einem Ozeandampfer sei«
»Ich hatte Angst, wie viele andere auch«, beginnt seine Schilderung, »aber ich verlor nicht meinen Kopf. Am Dienstagabend, der Nacht vor der großen Katastrophe, ging ich nach dem glänzenden Erfolg der Carmen sehr zufrieden zu Bett. Aber was für ein Erwachen! Es ist Mittwochmorgen zeitig um 5 Uhr früh, da spüre ich wie mein Bett schwankt, als ob ich auf einem Ozeanschiff sei. Ich stehe auf und gehe zum Fenster, lasse die Jalousien hinauf und schaue hinaus. Und was ich sehe, lässt mich vor Angst erzittern. Ich sehe die Gebäude umstürzen, große Stücke Mauerwerk fallen herab, und von der Straße herauf höre ich Schreie und Klagen von Männern, Frauen und Kindern.«
»Die Schreie der verängstigten Leute«
Caruso glaubt anfangs an einen Traum und sieht innerhalb von Sekunden sein Leben an sich vorüberziehen, von seinem ersten Auftritt bis zur Carmen-Vorstellung des Vorabends. Als er die Dramatik der Situation realisiert, ruft er seinen Butler, der ihm ruhig und bedächtig rät, sich schnell anzuziehen und ins Freie zu laufen, ehe das Hotel einstürze und Menschen getötet würden. Während das Zimmer sich durch den herabfallenden Verputz mit einer dicken Staubschicht bedeckt, »gibt mir mein Diener«, wie Caruso schreibt, »irgendwelche Kleider, ich ziehe ein Paar Hosen und einen Mantel an und schlüpfe in Socken und in meine Schuhe, und immer wieder bebt der Raum, sodass ich sehr nervös bin. Ich dachte, dass das Gebäude einstürzen und uns zermalmen wird. Und die ganze Zeit über hören wir das Geräusch von fallendem Mauerwerk und die Schreie der verängstigten Leute.
»Ich hatte Angst, wie viele andere auch«: Startenor Enrico Caruso überlebte das große Erdbeben des Jahres 1906 im Palace Hotel in San Francisco.
Dann laufen wir die Stiegen hinunter und auf die Straße und mein Diener, guter Kerl, der er ist, geht zurück und packt alle meine Sachen und Koffer und schleppt sie fünf Stockwerke hinunter und hinaus ins Freie, einen nach dem anderen. Während er einen weiteren und noch einen weiteren Koffer holt, passe ich auf die auf, die schon da sind, und da kommt auf einmal jemand und versucht, meine Koffer zu nehmen, und sagt, es sind seine.«
Ein Mann versucht Carusos Koffer zu stehlen
Caruso entgegnet: »Nein, das sind meine«, aber der Fremde gibt nicht auf. Als ein Soldat auf die beiden zukommt, erklärt der Künstler, dass der Mann seine Koffer zu stehlen versuche und dass er Caruso sei, der gestern Abend in Carmen gesungen habe. Der Soldat erkennt ihn und verjagt den Kofferdieb, der noch Glück hat, zumal Bürgermeister Eugene E. Schmitz an diesem Morgen der Armee die Erlaubnis erteilt hat, auf Plünderer zu schießen.
Caruso läuft jetzt zum Union Square, wo er mehrere seiner Kollegen trifft. »Einer erzählt mir, dass er alles verloren habe, außer seine Stimme, aber er sei dankbar, dass er wenigstens die noch hat. Und dann sagten sie zu mir, ich solle in ein Haus mitkommen, das noch steht. Aber ich sagte, dass man nur unter freiem Himmel sicher sei und lieber an einem Platz bliebe, wo man nicht befürchten muss, unter einstürzenden Gebäuden begraben zu werden.« Der von den Anstrengungen völlig erschöpfte Italiener legt sich auf eine Bank, um sich auszuruhen, während sein Diener immer noch mit dem Gepäck beschäftigt ist.
»Die ganze Stadt scheint zu brennen«
»Bald«, fährt Caruso in seinem Bericht fort, »beginne ich die Flammen zu sehen und die ganze Stadt scheint zu brennen. Den ganzen Tag wandere ich herum und sage meinem Diener, wir müssen versuchen wegzukommen, aber die Soldaten lassen uns nicht durch. Wir schlafen die Nacht im Freien, und meine Glieder tun mir immer noch von dem harten Lager weh.«
Sechstausend Menschen sterben in den Trümmern von San Francisco
Die Bilanz ist entsetzlich. San Francisco gleicht einem Ruinenfeld. Zehntausende Gebäude müssen abgetragen werden, 300 000 der 400 000 Bewohner sind obdachlos, drei Viertel der Stadt sind zerstört beziehungsweise erheblich beschädigt. Wie viele Menschen ihre Häuser durch Brandstiftung vernichteten, weil sie zwar gegen Feuer, nicht aber gegen Erdbeben versichert waren, konnte nie geklärt werden. Insgesamt starben in den Trümmern der zerstörten Häuser sechstausend Menschen. San Francisco ist nach dem 18. April 1906 nicht mehr, was es davor gewesen war.
»Zerstörte Gebäude, überall Rauch und Staub«
Am nächsten Morgen gelingt es dem Diener, einen Mann mit einem Karren aufzutreiben, der sich bereit erklärt, ihn und Caruso samt Koffern gegen Bezahlung einer hohen Summe zur Fähre nach Oakland zu bringen. »Wir verstauen das Gepäck in den Wagen und steigen dann ein und der Mann gibt seinem Pferd die Peitsche, und es geht los«, erinnert sich Caruso. »Unterwegs kommen wir an schrecklichen Szenen vorbei: zerstörte Gebäude, überall Rauch und Staub. Der Fuhrmann scheint es nicht eilig zu haben, was mich mehrmals ungeduldig macht, weil ich es nicht erwarten kann, nach New York zu kommen, wo ich weiß, dass ich ein Schiff finden werde, das mich in mein schönes Italien und zu meiner Frau und zu meinen kleinen Söhnen bringen wird.«
In Oakland besteigen Caruso und sein Diener den nächsten Zug nach New York. »Die Reise erscheint mir sehr lang und langwierig und ich schlafe sehr wenig, denn ich fühle noch immer das schreckliche Schwanken, das mich krank gemacht hat. Sogar jetzt kann ich nur jeweils eine Stunde durchschlafen, denn es war ein schreckliches Erlebnis.«
Das Palace Hotel wurde nach dem Erdbeben ein Raub der Flammen, drei Jahre später baute man es wieder detailgetreu auf, so auch das prunkvolle Restaurant.
Von New York geht es per Schiff und Bahn nach London, wo Enrico Caruso am 15. Mai 1906 in der Covent Garden Opera auftritt und vom Publikum wie ein von den Toten auferstandener Held gefeiert wird. Danach fährt er in seine geliebte Heimat, nach Italien.
Caruso schwor nach dem 18. April 1906, nie wieder nach San Francisco zu kommen. Und er hat den Schwur gehalten.
Das 1875 errichtete Palace Hotel, in dem der Tenor die Naturkatastrophe überlebt hat, hielt den schweren Erdstößen stand, wurde aber wie so viele Gebäude in den Stunden danach ein Raub der Flammen. Die Ruine wurde abgerissen und das Hotel drei Jahre später neu aufgebaut und feierlich wiedereröffnet. Warren G. Harding, der 29. Präsident der Vereinigten Staaten, starb am 2. August 1923 im Palace Hotel im Alter von 57 Jahren, vermutlich an den Folgen eines Herzinfarkts.
Das zweite große Erdbeben
San Francisco ist besonders erdbebengefährdet, weil es am 1120 Kilometer langen San-Andreas-Graben liegt, an dem zwei große Kontinentalplatten zusammenstoßen und sich teilweise ineinander verkeilen. Ein weiteres großes Beben – mit der Stärke 7,1 – traf San Francisco 1989, wobei 62 Menschen starben und viele Straßen und Freeways zerstört wurden. Dass die Schäden weitaus geringer blieben als 1906, lag daran, dass gefährdete Häuser und Straßen erneuert worden waren und die seither errichteten Wolkenkratzer zu den sichersten der Welt zählen. Sie sind auf Schienen und Rädern gebaut, sodass ein Einsturz kaum noch möglich ist.