Читать книгу Herr Bernstein reist zum Äquator - Georg Pelzer - Страница 6

Eine Straßenkreuzung in einer mittelgroßen Stadt,
24. August, 12.17 Uhr

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An einer roten Ampel und nur für eine Lidschlaglänge gerät die Welt aus dem Takt, im Rückspiegel klebt beharrlich ein Sonnenstrahl. Ein hell klingendes Geräusch, lauter als erwartet. Herr Bernstein hat seinen Ehering aus dem Seitenfenster geworfen und wundert sich. Ebenso der auf eine kleine Spende hoffende Obdachlose, der die folgende halbe Stunde vergeblich nach einem verloren gegangenen Geldstück suchen wird.

Warm ist es, viel wärmer jedenfalls als von den meisten Meteorologen vorausgesehen. Nicht unbedingt der Grund, höchstens eine vage Entschuldigung dafür, dass Bernstein die Dinge aus den Fugen geraten. Durcheinander gewirbelt vielleicht auch durch eine Lichtreflexion, das kurze heftige Aufscheinen eines Blitzes, wie beim Auslösen einer Kamera.

Bernstein, so viel scheint sicher, ist einer spontanen Eingebung gefolgt, hat einer plötzlichen Laune nachgegeben. Eine Kurzschlusshandlung, eine gewitterartige Entladung von aufgestauten Stimmungsschwankungen, verursacht durch ein Aufeinanderprallen von emotionalen Kalt- und Warmluftmassen wohl.

Wie auch immer, Herr Bernstein sucht nicht nach einer plausiblen Erklärung, noch nicht, er hat gegenwärtig kein Interesse am »Warum?«. Fragt sich vielmehr: Warum eigentlich nicht? Warum nicht schon viel früher?

Er hat weder Ziel noch konkrete Pläne. Dafür die Gewissheit, ihn wird nichts aufhalten. Ein großartiges Gefühl. Ein Gefühl, das ihm längst verloren gegangen zu sein schien. Nach dem er instinktiv gesucht haben muss, nicht erst seit gestern, sondern lange schon. Ohne sich bewusst zu sein, wonach er eigentlich sucht.

Bernstein spürt das Blut in den Adern fließen. Bis in die Fingerspitzen, bis in die kleinsten Kapillaren hinein. Wie nach einem guten Schluck exzellenten Rotweins. Gut möglich, dass er irgendwann Rechenschaft wird ablegen müssen. Vor wem auch immer, unter Umständen vor sich selber.

Ach Bernstein, wie lange hast du dich schon nicht mehr so frei gefühlt, so unbeschwert? So über den Dingen stehend? Weißt es selber schon gar nicht mehr, nicht wahr? Hast bleischweren Ballast helltönend über Bord geworfen und schon bist du wie ausgewechselt, so schnell geht das.

Bruchstückhafte Erinnerungen. An andere Zeiten. An eine Epoche, in der er noch glaubte, das Glück sei etwas, auf das man ein Anrecht habe. Als er das Unglück anderer als etwas Selbstverschuldetes ansah. Als ihm der unglückliche Rest der Welt gestohlen bleiben konnte. Als das Bild von einer schönen Frau nach und nach zum Leben erweckt wurde, und alle Sehnsüchte und Hoffnungen, die er in das neun mal dreizehn Zentimeter große Foto hineinprojiziert hatte, Wirklichkeit wurden. Wann war das nur?, fragt sich Bernstein, muss im Mittelalter gewesen sein, oder in der Antike, in einer Zeit, die mir irgendwie abhanden gekommen ist.

Also, auf in ein anderes Zeitalter, so lautet der erste Entschluss, auf in eine andere Welt, in das Hoheitsgebiet der unbegrenzten Möglichkeiten, muss ja nicht gleich Amerika sein.

Erinnerungen an glückliche Zeiten im Herzen, und im Kopf einen Haufen Bilder, die allmählich Konturen annehmen. Zukunftsbilder. Fantasiebilder eher. Bernstein, der Entdecker. Der Erforscher neuer Landstriche. Der Eroberer unbekannter Planeten. Er wird so manche Schlacht schlagen in fernen Galaxien. Und nicht mehr zurückkehren. Wenn er den Mut dazu hat. Und das nötige Glück.

Freiheit, denkt Bernstein und biegt an der Kreuzung ab Richtung Autobahn. Entdeckt an einer Hauswand einen Zigarettenautomaten, hält kurz an und sucht nach passenden Münzen. Freiheit, und gerne auch Abenteuer. Marlboro, dem Anlass entsprechend, allerdings light. Er zündet sich eine an, die erste Zigarette nach sechs Jahren. Hannah zuliebe hat er damit aufgehört. Aus nichtigem Grund.

Denk doch an die schönen weißen Wände, hatte sie ihm in den Ohren gelegen, damals. Die würden immer so schnell gelb von seiner Raucherei.

Schöne weiße Wände, durch vorzeitigen Tapetengilb gefährdet, wie eine vom Aussterben bedrohte Tierart – und wenn schon. Wie es in seiner Lunge aussah, war anscheinend nicht weiter von Belang. Irgendwann hatte er klein beigegeben, ihr zuliebe. Der weißen Wände zuliebe. Sich zuliebe fängt er nun wieder an. Vorsätzlicher Wiedereinstieg ins Rauchen, ein wenig trotzig fast, ohne wirklichen Genuss, aber der wird sich schon einstellen, mit der Zeit. Und der Hustenreiz wird nachlassen, auch mit der Zeit, eine Frage der Gewöhnung.

Die Sachlage: Tank fast voll, Scheckkarten an Bord und auch seine Magentabletten, der Fotoapparat, das reicht für den Anfang, alles andere bekommt man überall. Er ist rundum zufrieden, mit allem und vor allem mit sich selbst. Nur ein lästiger Juckreiz an der Stelle, wo der Ring war. Im Verkehrsfunk die Durchsage einer Vermisstenmeldung, jedoch nicht sein Name, Kennzeichen und Farbe des Fahrzeugs sind unbekannt.

An der Autobahnauffahrt muss er sich entscheiden. Keine schwerwiegende Entscheidung, aber eine schwer zu treffende. Vielleicht eine richtungweisende, wer kann das wissen? Bernstein hält auf dem Seitenstreifen. Er muss erst mal in Ruhe über alles nachdenken. Muss sich daran gewöhnen, dass ihm nun die Welt offen steht, nach allen Seiten. In alle Richtungen. Im Norden befindet sich der Nordpol, im Süden der Südpol und im Westen Amerika, so viel, immerhin, ist klar. Bis dahin wird er’s heute nicht mehr schaffen, besser also Richtung Osten. Der ist noch unerforscht, also nichts wie hin.

Schon nach einer Stunde bekommt er Hunger und allmählich auch Durst. Er verlässt die Autobahn und fährt die nächste Stadt an. Ein großer Platz inmitten schmuckloser Nachkriegsbauten, zwischen denen leicht bekleidete Menschen ohne Eile umherlaufen, den Temperaturen entsprechend. Ein paar Geschäfte, ein Eiscafé, eine Bankfiliale und eine Trattoria, der das große T im Schriftzug abhanden gekommen ist. Hoffentlich kein Indiz für eine nachlässig geführte Küche, denkt Bernstein und wählt einen Tisch mit Blick auf den Platz. Bei Pinot Grigio bewertet er Beine, gewichtet Brüste und erwartet Medaillons in Salbeisoße. Er betrachtet schamlos und denkt dabei unverhohlen. Betreibt Bewegungsstudien, registriert feste Fesseln und weiche Waden, angedeutetes Auf- und Abwippen und schwerfälliges Hin- und Herschaukeln. Das Fleisch ist weiß und zart, am Nebentisch streitet ein Ehepaar. Verhalten, mit gedämpften Stimmen, aber doch gut zu verstehen.

Sie: Du hörst mir nicht zu, du hörst mir schon lange nicht mehr zu.

Er: Bitte, jetzt höre ich dir zu.

Sie: Ja, aber du hörst mir nur dann zu, wenn ich mich darüber beschwere, dass du mir nie zuhörst.

Er: Irrtum, ich höre dir öfter zu, als du denkst, manchmal sogar, wenn du dir sicher bist, dass ich es nicht tue.

Sie: Und warum bekomme ich dann keine Antworten?

Er: Vielleicht weil du die falschen Fragen stellst.

Bernstein fühlt sich prächtig. Nach dem Hauptgang bestellt er Tiramisu und macht ein paar Sofortbilder von flanierenden Paaren. Von Körpern, die ein Bild wert sind, auch wenn es spätestens am Abend im Papierkorb landet.

Andere Bilder, jahrzehntealt inzwischen, keine, die materiell existieren. Kopfbilder, für die Ewigkeit abgespeichert. Wären sie aus Papier, man könnte sie wenigstens vernichten. Ein warmer Maiabend in einem Freibad. Außer einer jungen Frau ist niemand mehr im Schwimmbecken. In Rückenlage zerteilt sie das Wasser mit ruhigen, raumgreifenden Zügen. Ein nahezu lautloses Flügelschlagen in Zeitlupe, ein mühelos erscheinender Bewegungsablauf. Beim Wenden entstehen kaum Wasserverwirbelungen, ein federleichtes Dahingleiten, dem keine Anstrengung anzusehen ist. In gleich großen Abständen von ihrem Körper wegströmende Wellen, die sich ohne Eile an den Beckenrändern brechen.

Unablässig zum Himmel gerichtet, beinah starr ihre Augen, die fast genau dieselbe Farbe haben wie das Wasser. Die Frau wirkt trotz der Leichtigkeit, mit der sie schwimmt, sehr konzentriert, scheint alles, was sich außerhalb des Beckens befindet, zu ignorieren.

Jede einzelne Bewegung fügt sich zu einem Ganzen, alles geschieht mit fließender Regelmäßigkeit. Das Heben und Senken des Brustkorbs, der präzise Takt des Arm- und Beinschlags. Nur die langen Haare geraten mehr und mehr außer Kontrolle. Bahn um Bahn löst sich die Spange ein bisschen mehr, bis sie schließlich nur noch eine Strähne festhält und der Kopf von einer Art Schleier umspielt wird.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit steigt sie aus dem Becken, Wassertropfen perlen von der gebräunten Haut, ihre Brustwarzen zeichnen sich deutlich unter dem wasserglänzenden Stoff ab. Ihre Haarspange hat sie zwischen die Lippen geklemmt, sie wringt, den Kopf seitlich geneigt, ihre langen, blonden Haare aus. Ein kurzes Lächeln in Richtung ihres einzigen Zuschauers, dann geht sie, das Haar über die linke Schulter von hinten nach vorn geworfen, zu den Umkleidekabinen.

Wochenlang hat er diese ersten Bilder von Hannah mit sich herumgeschleppt, erst viel später wurde er von ihnen erlöst. Nun sind sie wieder da, und er würde einiges dafür geben, sie vertreiben zu können. Möglichst für immer.

Ein Moment, eine Hundertstelsekunde, die eine Ewigkeit dauert. Die Menschen geraten mit der Zeit in Vergessenheit, die Bilder nicht. Manche verfolgen einen, man begegnet ihnen in regelmäßigen Abständen, und das, was man sieht, hat sich kein bisschen verändert. Mit Clara ist es anders, denkt Bernstein. Nur wenige Fotos von ihrem runden Gesicht, ihren kurz geschnittenen dunkelbraunen Haaren, die sie vor über zwanzig Jahren nicht anders trug als heute. Trotzdem sind es Fotos, die keinen Bezug mehr zulassen zum Gewesenen. Von denen aus keine Verbindung mehr herzustellen ist zu dem, was einmal war. Was ihm damals von ihr blieb, waren ein paar pechschwarze Aufnahmen von einer Nacht am Meer. Und was täglich wiederkehrte, war ein benommener Kopfschmerz beim Aufwachen. Ein paar Gläser Wein zu viel, mit denen er einen Sommer lang seine schlaflosen Nächte betäubte. Und den nachfolgenden Morgen gleich mit.

Zu viel Wein und so manche Demonstration. Das eine gegen die Schlaflosigkeit, das andere gegen Atomraketen. Und für den globalen Frieden. Fast an jedem Wochenende konnte man seiner Empörung über die Weltpolitik Luft verschaffen, wenn man wollte. Oder zu müssen glaubte. Und Bernstein demonstrierte mit, hin und wieder jedenfalls. Dabei war für ihn der Zustand der Welt, so bedenklich er auch sein mochte, nicht weiter von Belang, in diesem Sommer jedenfalls nicht. Manchmal, in seltenen Momenten, taugte sie für ein Foto, das vielleicht Aufmerksamkeit erregen, vielleicht sogar für lange Zeit Bestand haben würde. Das war sein Traum. Ein Foto für die Ewigkeit, das ihn berühmt machen würde. Auf jeder Tageszeitung zu sehen, vorne auf Seite eins. Und in der Folge in Illustrierten und Magazinen und irgendwann vielleicht in Geschichtsbüchern. Leider hatte keins seiner Bilder auch nur annähernd so viel Bestand wie das Foto von dem erschossenen Studenten während der Demonstration gegen den Schah. Oder wie das von jenem Vietcong, der in Saigon auf offener Straße mit einer Pistole exekutiert wurde. Bilder, die einen Menschen in gewisser Weise unsterblich machten, obwohl sie sein Sterben zeigten.

Und, was wäre wenn? Wenn sich damals die Gelegenheit ergeben hätte, so ein Foto zu schießen?, fragt er sich. Hätte ich kühlen Blutes auf den Auslöser gedrückt? Oder wäre ich dem Henker heldenhaft in den Arm gefallen und hätte ihn am Töten gehindert? Wohl kaum, ich hätte weder das eine noch das andere getan. Für das eine hätte mir der Mut gefehlt und für das andere die nötige Abgeklärtheit.

Das hatte Clara damals früh erkannt. Hatte schnell durchschaut, dass er keine ernst zu nehmenden Ziele verfolgte. Dass seine Kamera nicht mehr als ein Spielzeug war, mit dem er seiner Sinnleere ein Alibi verschaffte. Dass er nur deswegen auf Friedensdemos mitlief, um gegebenenfalls den Kriegsfotografen mimen zu können. Und die ein, zwei Fotos, die er täglich mache, gäben wirklich nicht viel her, hatte sie ihm zum Abschied mit auf den weiteren Weg gegeben.

Das hatte gesessen. Durchschaut, in Frage gestellt und davongejagt worden zu sein, das erzeugte Wut und später Trotz. Jetzt erst recht, dachte er und ließ keine Demonstration in der näheren Umgebung aus. Ich tue hier immer noch nichts Sinnvolles, dachte er einmal, aber das, was ich tue, könnte zumindest als sinnvoll interpretiert werden, wenn das kein Anfang ist. Und wenn ich nur die Statistik zugunsten des Weltfriedens verbessere.

An einem sonnigen Samstag hatte er seine Kamera wie immer dabei, trug sie offen zur Schau, über die Schulter gehängt, auch wenn das bei einigen Mitdemonstranten Misstrauen erregte. Aber er machte von ihr keinen Gebrauch, zunächst jedenfalls nicht. Keine Bürgerkriegsszenen, die man fotografieren konnte, kein Straßenkampf. Keine randalierenden Maskierten und keine auf wehrlose Demonstranten einprügelnden Polizisten. Lediglich ein skeptischer Vollbartträger, der wissen wollte, ob er nicht vielleicht vom Verfassungsschutz sei? Nur freundliche, zufriedene Gesichter, jedenfalls in seiner unmittelbaren Umgebung. Nach einer Weile hatte Bernstein genug von so viel Friedfertigkeit und verließ die Demonstration, ein bisschen enttäuscht fast.

In einer Seitenstraße sah er sie wieder, die Frau mit den wasserfarbenen Augen. Er entdeckte sie hinter der Fensterscheibe eines Cafés, wo sie sich mit einem jungen Mann unterhielt. Später hat er oft darüber nachgedacht, ob es Zufall war oder Fügung oder was auch immer. Nicht nur, sie wiedergesehen zu haben, sondern auch die Tatsache, dass sie genau in dem Augenblick, als er auf den Auslöser seiner Kamera drückte, zu ihm herübersah. Eine kleine, unbedeutende Bewegung eigentlich, und doch so eine Art Initialzündung für die Verknüpfung mehrerer Biografien. Das Foto, das so entstand, sollte sein erstes von Hannah werden, und es war mit Sicherheit eines der besten.

Herr Bernstein reist zum Äquator

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