Читать книгу Herr Bernstein reist zum Äquator - Georg Pelzer - Страница 9

Ein Hotelzimmer,
24. August, 21.36 Uhr

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Bernstein beschließt auszugehen. Wer was erleben will, kann schließlich nicht auf dem Zimmer hocken. Das unaufhaltsame, ungenutzte Voranschreiten der Zeit macht ihn unruhig. Im sinnlosen Verstreichenlassen von Minuten oder gar Stunden hat er keine Übung mehr. Er ist zu sehr daran gewöhnt, sich mit allem Möglichen beschäftigen zu müssen, nur nicht mit sich selber. Und ganz abgesehen davon: Müßiggang ist seine Sache nicht. Nicht mehr. Vielleicht sollte genau das wieder seine Hauptbeschäftigung werden. In den nächsten Tagen zumindest.

Draußen brennen zwei einsame Laternen, mehr hat man dem tristen Platz vor dem Hotel nicht zugestanden. Schwachgelbes Licht, das genauso gut aus dem All kommen könnte, von der Venus, vom Saturn, nur nicht von den Stadtwerken. Dazu ist es zu getragen. Zu schwermütig. Wie an jenem Abend vor einem knappen halben Jahr, als Clara und Tom ihnen ankündigten, dass sie sich trennen wollten. Eine Nachricht, mit der er nicht gerechnet hatte. Obwohl die beiden sich oft stritten, manchmal sogar auf eine sehr verletzende Art. Aber das hatten sie schon immer getan. Und dass Tom hin und wieder andere Frauen hatte, war auch nichts Neues, vermutlich auch nicht für Clara. Warum also auf einmal?

Er hatte die beiden oft beneidet, um die Art, wie sie miteinander umgingen. Hatte hin und wieder beobachtet, wie er ihr etwas ins Ohr flüsterte und sie anfing zu kichern, wie zwei unbekümmerte Teenager kamen sie ihm manchmal vor, ohne dass es peinlich wirkte. Andererseits hatten sie etwas sehr Souveränes im Umgang miteinander, alles wirkte eingespielt und perfekt aufeinander abgestimmt, ihr Erscheinungsbild, ihre Bewegungen, wie eine geschlossene Einheit. Sie tanzten in einer harmonischen Choreografie auf dem Eheparkett, und es war schwer vorstellbar, dass sie einmal ins Stolpern geraten könnten.

Vielleicht hätte ich nicht die Trennung vorschlagen sollen, auch nicht im Scherz, denkt Bernstein, immer noch ein wenig schuldbewusst. Oder vielleicht hätten wir uns nicht gemeinsam diesen traurigen Film im Kino ansehen sollen, an diesem schwermütig beleuchteten Abend, bevor sie es uns gesagt haben. Womöglich wären sie dann noch zusammengeblieben, für ein paar Wochen, einige Monate, für ein Jahr vielleicht.

Ein Bild taucht wieder vor seinen Augen auf, wie die beiden mit eingezogenen Köpfen die Straße hinuntergingen, das Licht schien wie passend zum Anlass gemalt, eine regelrechte Trauerbeleuchtung. Tom, der Riese, und daneben die zierliche Clara. Nicht eng umschlungen wie sonst, sondern mit mindestens einem halben Meter Platz zwischen ihnen. Ein halber Meter, in den das ganze Weltall zu passen schien. Er wäre am liebsten hinterher gerannt und hätte sie tröstend in den Arm genommen. Beide. Auf einmal.

Er staunte nicht schlecht, als Hannah später, nachdem sie zu Bett gegangen waren, damit herausrückte, dass sie es gewusst habe.

Gewusst oder geahnt?

Gewusst.

Seit wann?

Seit zwei Tagen.

Im Stillen überlegte er, warum sie ihm nichts davon erzählt hatte. War er nicht vertrauenswürdig? Hatte sie die Auflage bekommen, es niemandem zu verraten, selbst ihm nicht? Und wenn ja, von wem? Er fragte nicht weiter nach, ihn interessierte etwas anderes.

Hast du auch schon einmal daran gedacht, dich von mir zu trennen?

Ja.

Wann?

Oft. Heute Abend zum Beispiel, als du während des Films gelacht hast. An einer Stelle, wo es ziemlich unangebracht war.

Und, warum hast du es nicht getan?

Auf diese Frage bekam er keine Antwort. Stattdessen schob sie ein Knie zwischen seine Beine und ihre Finger in sein Schamhaar. Er dachte darüber nach, ob er auf das unmissverständliche Angebot eingehen sollte oder nicht. Er dachte zu lange nach. Unter anderem darüber, an welcher Stelle des Films er gelacht hatte.

Wenn es momentan etwas gibt, das Bernstein auf keinen Fall will, dann Erklärungen abgeben. Was soll man sich um Kopf und Kragen reden, wenn man noch nicht so ganz begreift, was man angerichtet hat. Und weshalb eigentlich. Wenn man sich erst einmal ein Bild machen muss, von unversehens herbeigeführten Sachverhalten und daraus resultierenden möglichen Konsequenzen.

Ja, ja, Bernstein, du hängst ganz schön in der Luft. Hast deiner Frau bislang keine Mitteilung zukommen lassen, auf welchem Wege auch immer. Weißt wohl noch nicht, ob du wirklich Nägel mit Köpfen machen wirst, was? Man merkt sie dir an, deine immer wieder auftauchende nervöse Unruhe. Gerade jetzt zum Beispiel, du flackerst wie eine defekte Leuchtstoffröhre.

Bernstein zieht sich an. Raucht. Hustet, aber schon deutlich weniger. Fährt mit dem Auto kreuz und quer, langsam, ganz langsam werden Bürgersteige abgesucht. Eine Straße mit Neonlichtern in allen erdenklichen Farben. Hauptfarbe rot. Ein Hauch von Las Vegas. Allerdings eher ein Pesthauch. Ein Furz ist das hier, denkt Bernstein. Eine jämmerliche Ausgabe der Abteilung Vergnügungsviertel, wie man sie vorwiegend in Städten findet, die man unter normalen Umständen nur dann besucht, wenn man unbedingt muss.

Schließlich wird er fündig, ein rosafarbenes Wesen mit Monroe-Frisur inhaliert Zigarettenrauch und wartet. Auf den Bus? Auf einen Bekannten? Nein, auf jemanden wie mich, denkt er und bekundet Interesse. Das Monroe-Imitat nennt seinen Preis und schiebt ein Qualmwölkchen nach.

Bernstein nickt einvernehmlich, lässiges Zigaretteda-vonschnippen knapp an seiner Nase vorbei und über das Autodach hinweg, man ist sich einig. Hat er noch nie gemacht, so etwas. Dabei ist es doch nichts anderes als ein faires Geschäft, mein Lieber, ein nüchterner Abgleich unterschiedlicher, gleichwohl kompatibler Interessen. Gehört gar nicht viel Mut zu, machen Millionen andere Kerle auch, wenn ihnen das Testosteron bis an die Kehle geht. Aber geht es dir denn bis da? Und bist du wie Millionen andere Kerle?

Ein paar Augenblicke später weiß er nicht mehr, ob er wirklich will. Ob er überhaupt kann. Womöglich wird es nicht gehen, befürchtet er, diese Niederlage könnte ich mir eigentlich sparen. Während der Fahrt zum Tatort wägt er ab. Für und Wider. Gewinn und Risiken. Keine Lust ohne Gefahren, man könnte bestohlen, ausgeraubt, erpresst werden. Von Aids ganz zu schweigen. Den Ausschlag gibt schließlich ihr Geruch, der erinnert entfernt an zu Hause. Zwei Häuserblöcke weiter zahlt er und bedankt sich höflich für das freundliche Angebot.

Nun sitzt Bernstein wieder allein da, hinterm Lenker, und beschließt, sich als Erstes von seinen Bedenken zu verabschieden. Die braucht er nun wirklich nicht mehr. Bedenken und Einwände haben gefälligst der Vergangenheit anzugehören, nimmt er sich vor. Zutritt zur Gegenwart wird ab sofort verweigert. Und zur Zukunft erst recht!

Im Verlauf des weiteren Abends geht er in eine Bar, gerät an eine Eva mit Erdbeerkaugummi zwischen den Zähnen. Und mit glutroten Pickeln im Dekolleté. Ob er ihr Adam sein wolle, heute Nacht? Bernstein will durchaus Adam sein, aber nicht mit dieser Sorte Eva, wenn’s recht ist. Er lässt es gut sein für heute. Nicht so einfach, dieses Abenteurertum.

Im Hotelzimmer trinkt er fläschchenweise Hochprozentiges aus der Minibar. In leicht angetrunkenem Zustand fällt ihm Hannahs Vorschlag wieder ein, eine Forderung eher, eine, mit der er nicht mehr gerechnet hatte. Von weiterem Familiennachwuchs war auf einmal die Rede gewesen, völlig unvermittelt und während eines x-beliebigen Frühstücks. Seine Nase steckte in der Wochenendbeilage der Tageszeitung. Gerade hatte er sich ein halbes, noch lauwarmes Aufbackcroissant in den Mund geschoben. Mit etwas zu viel Butter und noch mehr Himbeermarmelade. Und dass es möglichst rasch passieren solle, schob sie nach, sie würde auch nicht jünger.

Ihm war keine Antwort eingefallen, auch nicht, nachdem er sich mittels ausgiebigsten Kauens und mühsamsten Schluckens Bedenkzeit verschafft hatte. Dafür aber eine Menge Fragen, die ihm zuvor so noch nicht in den Sinn gekommen waren. Oder schon lange nicht mehr. Aber die stellte er nicht.

Ein ebenso hilfloser Versuch, eine grundlegende Veränderung herbeizuführen, wie mein heutiges Verschwinden, denkt er nun. Nur mit dem Unterschied, dass ich einen Schlussstrich ziehe und sie wohl einen Neuanfang im Auge gehabt hat.

Ein paar Tage, nachdem Hannah ihm mit ihrem Kinderwunsch gekommen war, begegnete er zufällig Tom in der Stadt, zusammen mit einer jungen hübschen Frau. Und zum ersten Mal dachte er darüber nach, ob er ihn insgeheim um dieses Doppelleben beneidete. Als Tom ein paar Monate später zu Hause auszog und er ihm half, Umzugskartons zu schleppen, da war an Neid nicht mehr zu denken. Ein kleines Apartment im zwölften Stock eines Hochhauses, dessen Fahrstuhl nach Urin stank, war das der Preis? Er hatte Tom angeboten, doch bei ihnen einzuziehen, schließlich hatten sie genug Platz, aber dieser winkte nur ab. Und Hannah war von der Idee auch nicht gerade begeistert gewesen. Genauso wenig wie er über die Aussicht, noch einmal Vater zu werden. Von seinem gegenwärtigen Standpunkt aus kann er sich nicht mehr erklären, mit welch perfiden Mitteln sie es bewerkstelligte, ihm wieder einmal sein Einverständnis für etwas – diesmal ihre Familienerweiterungspläne – abzuringen. Beziehungsweise seinen Unwillen zu überwinden. Früher hatte er diese Eigenschaft einmal geschätzt. Aber das war lange vorbei.

Und das soll es jetzt also gewesen sein, denkt er, und schaut dabei betrübt nach draußen. Das Hotel mag vier Sterne haben, der Blick aus dem Fenster reicht nicht mal für einen. Der Platz vor dem Hotel wirkt auch nach dem Genuss einer beträchtlichen Alkoholmenge nicht heimeliger. Ein unattraktiver Flecken Asphalt in einer farblosen Stadt, wenn man einmal vom Vergnügungsviertel absieht, das diese Bezeichnung kaum verdient.

Wie sind wir eigentlich an diesen Punkt gekommen?, fragt er sich. Wann war der Zeitpunkt, an dem es angefangen hat, so zu werden, wie es jetzt ist, und wie man es sich zu Beginn nicht hätte vorstellen können? Vielleicht schon, bevor es überhaupt richtig angefangen hat? Wahrscheinlich. Jede Fäulnis beginnt mit der Zeugung, jeder Grabgesang ist ein traurig vorgetragenes Wiegenlied. Jegliches Übel scheint ursprungsimplantiert zu sein, da helfen später auch keine aufwändigen Wurzelbehandlungen mehr.

Und jede Liebesbeziehung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, sagt er sich. Das ist eine schlichte Erkenntnis ebenso wie eine naturgegebene Tatsache. Aber niemand zieht seine Lehren daraus. Jeder glaubt, er wäre derjenige, der die Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen könne. Am Anfang zumindest. Ist mit Sicherheit hormonell bedingt. Manche Hormone sind anscheinend nur dazu da, um unser angeblich so hoch entwickeltes Gehirn zu täuschen, um nicht von Vernunft geleitete, ja mitunter vollkommen unsinnige Entscheidungen zu fällen, die einen geradewegs ins Unglück treiben. Als ob wir nicht alle wüssten, dass jede Liebe nicht anders als traurig enden kann. Entweder aufgrund von Trennung oder Tod. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Die einzige Hoffnung, die uns bleibt, ist somit eine dauerhaft glückliche Beziehung, die mit dem gleichzeitigen Lebensende zum Abschluss kommt. Das ist dann nur noch für die Nachkommen traurig und somit durchaus als Option in Erwägung zu ziehen.

Konsequenz aus diesen Überlegungen: Wenn sich schon auf eine Liebesbeziehung einlassen, dann nur unter der Bedingung, keine Kinder zu zeugen und sich bei den ersten Anzeichen einer bevorstehenden Trennung gemeinsam das Leben zu nehmen.

So könnte es gehen.

So, und nicht anders.

Also eigentlich gar nicht.

Ruf wenigstens an, Bernstein, los, du kannst es nicht ewig hinauszögern. Er schaut auf das Telefon neben seinem Bett. Wiegt den Hörer in der Hand, legt ihn nach einer Zeit wieder zurück in die Halterung. Spielt gedankenverloren mit den Windungen der Spiralschnur. Streicht über den weißen Kunststoff des Apparats. Das geht eine ganze Weile so. Dann wählt er doch die Nummer. Schneller als sonst meldet sich ihre Stimme, darauf nun gar nicht eingestellt, legt er wieder auf. Er weiß sowieso nicht, was er sagen soll, er hat nichts Erhellendes mitzuteilen, momentan, immer noch keine Erklärungen abzugeben. Wüsste gar nicht, wo er anfangen sollte. Ein überflüssiges Sich-Austauschen über Diffuses, nicht Greifbares, Unausgegorenes. Nein, das muss nicht sein, wirklich nicht, denkt er und nimmt einen großen Schluck. Der kaum noch in der Kehle brennt. Dafür nur wenige Tage alte Gesprächsfetzen in den Ohren.

Inzwischen reichlich angetrunken, öffnet er ein weiteres Fläschchen und greift zu Stift und Papier.

Hallo Hannah!

Betrachte dies als schriftliche Kündigung, gerne auch gerichtsverwertbar. Wenn wir schon nicht imstande sind, vernünftig miteinander ins Gespräch zu kommen, dann wenigstens ins Gerede. Bernstein verlässt Haus und Hof, schon gehört? Du sollst es wenigstens als Erste erfahren, ist das nicht fair?

Der Grund? Meinetwegen. Eigentlich sind es nur unbedeutende Unerträglichheiten, in ihrer Fülle nicht mehr zu ertragen, im Einzelnen wahrscheinlich kaum der Rede wert. Ein Beispiel? Nun gut, hier ist eins. Hast du gewusst, dass dein Parfüm, das ein Vermögen gekostet hat, billig riecht? Hätte ich’s sagen sollen? Und wenn ja, hätte es etwas bewirkt? Ich glaube, eher nicht. Oder soll ich dir deine falsche Heiterkeit zum Vorwurf machen? Oder deine künstliche Melancholie?

Im Grunde ist alles, was mir einfällt, banal. Aber so ist das nun mal. Und die archäologische Freilegung und Erforschung tieferer Ursachen kann auf Dauer nicht vor der Unerträglichkeit des Banalen schützen. Oder anders formuliert: Selbst wenn all meine ungeäußerten Vorwürfe, Vorhaltungen, Verdächtigungen ausgeräumt würden, bliebe immer noch der allgemeine Verdruss, und der hat sich tief eingegraben. Unerreichbar selbst für hochmodernste Bohrvorrichtungen.

Das Haus kannst du übrigens behalten, dir hat es ja immer schon mehr bedeutet als mir. Das Finanzielle regeln wir dann noch, auch was Nellies Studium angeht. Ich werde sie anrufen, beizeiten.

Viele Grüße und nichts für ungut.

Bernstein

P. S. Wetten, du liest das hier wieder zuerst? Das habe ich nie verstanden, warum du bei Büchern und Zeitungen immer den Schluss zuerst gelesen hast.

Oje, Bernstein! Jetzt bist du womöglich auch noch stolz auf dich. Hast rausgelassen, was schon lange in dir schwelt. Ja, ja, Schreiben ist verlockend. Schreiben bleibt ohne Widerspruch, und wenn eine Antwort retour kommt, kann man sie einfach ungelesen beiseite legen. Oder wenn man signalisieren möchte, dass man nicht diskussionsbereit ist: Annahme verweigert und ungeöffnet an Absender zurück. Sicher – wäre eine sehr angenehme Form der Auseinandersetzung, wenn man alle strittigen Punkte des Zusammenseins nur noch mittels Papier und Kugelschreiber klären könnte, keine Frage.

Und nun hast du also tief Empfundenes an die Oberfläche transportiert. Lass es erst mal eine Weile dort schwimmen. Kann doch sein, dass du es dir noch anders überlegst. Vielleicht solltest du eine Reuse bereithalten, mit der du die Kröte nötigenfalls wieder einfangen kannst, ehe du sie zum Schlucken freigibst. Vielleicht brauchst du aber auch jemanden, der dich an die Hand nimmt und dir in dieser konfusen Phase Orientierung gibt. Schlafe erst mal, Bernstein, müde wie du bist und schwer vom Alkohol, wenn auch scheinbar vom Ballast einer ganzen Epoche befreit.

Herr Bernstein reist zum Äquator

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