Читать книгу Herr Bernstein reist zum Äquator - Georg Pelzer - Страница 8

Am Ende einer Autobahnausfahrt,
24. August, 17.35 Uhr

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Bernstein beschließt, ein Hotel zu suchen. Ein gutes Hotel. Vier Sterne, wenn nicht fünf. Sauna, Schwimmbad. Nach ein wenig Luxus steht ihm der Sinn, den hat er sich weiß Gott verdient. Nicht, dass er auf etwas hätte verzichten müssen in den letzten Jahren, aber geleistet hat er sich auch nichts. Er braucht keinen italienischen Sportwagen und auch keinen englischen Oldtimer. Nur einmal wöchentlich ein Essen beim besten Italiener der Stadt und hin und wieder ein Menü in einem Feinschmeckerlokal. Ansonsten hat er sich kein kostspieliges Hobby gegönnt, nicht einmal einen teuren Fotoapparat. Für seine Schnappschüsse reicht ihm inzwischen eine alte Polaroidkamera. Die macht zwar nicht gerade preiswerte Bilder, aber eine kleine Extravaganz darf es schon sein.

Eine genügsame Existenz hat er geführt, immer schon, und Geld, der Liebe herzloser Feind, war nie ein Problem gewesen, wenn man einmal von den frühen Jahren absieht. Da musste so manche Mark zusammengekratzt werden, vor allem zu der Zeit, als Nellie gerade zur Welt gekommen war und er seine junge Familie mit diversen Jobs durchfütterte. Als Aushilfskellner, Maurergehilfe, Paketzusteller. Inzwischen ist er der stellvertretende Leiter einer Bibliothek, da nagt man nicht mehr am Hungertuch, vor allem dann nicht, wenn man ein schuldenfreies Haus besitzt.

Über Geld wurde kaum geredet, nur manchmal gab er einen missmutigen Kommentar von sich, wenn Hannah wieder einmal ein neues Parfum entdeckt hatte, sündhaft teuer und seinem Empfinden nach auch nicht besser als das vorherige. Gestritten haben wir eigentlich nur über die allerbanalsten Dinge, stellt Bernstein fest. Zum Beispiel darüber, wer von uns beiden das Eselsohr auf Seite siebenundfünfzig der gebundenen Ausgabe von Italo Calvinos »Wenn ein Reisender in einer Winternacht« zu verantworten habe. Je banaler der Anlass, umso heftiger die Auseinandersetzung, erinnert er sich. Die lautstarke Erörterung solcher Fragen, deren inhaltliche Klärung nichts, aber auch gar nichts zum Fortgang des Weltgeschehens beiträgt, dient Eheleuten offenbar in erster Linie dazu, ihre noch nicht ganz aufgebrauchten Kräfte zu messen. Und eine Ehe beginnt dann aus dem Gleichgewicht zu geraten, wenn der eine zu oft als Sieger und der andere zu oft als Verlierer durchs Ziel geht. Und wie war das bei uns?, fragt sich Bernstein. Schätzungsweise lautet der Punktestand auf der Krisenskala bröckelnder Ehen: Sieben zu drei für Hannah. Aber nur deswegen, weil ich eher zur Nachgiebigkeit neige als sie. Immerhin haben wir unsere Sträuße niemals vor anderen ausgefochten.

Clara und Tom schon. Bei ihnen ging es meistens um Geld. Er ein gut verdienender Sportjournalist, sie Künstlerin mit unregelmäßigen Einkünften und regelmäßigen Ausgaben. Oft genug war er Zeuge ihres ständigen Gezänks gewesen. Das passte nicht, jedenfalls nicht in finanzieller Hinsicht.

Trennt euch doch, dann habt ihr euren Frieden, hatte er eines Abends einmal scherzeshalber vorgeschlagen, als die beiden zu Besuch waren und sich heftig in die Wolle bekamen, weil Clara wieder irgendwas angeschafft hatte, das Tom für überflüssig hielt. Auf seine Bemerkung hin hatten beide betroffen geschwiegen. Und die Stimmung blieb im weiteren Verlauf des Abends gedrückt. Keine Anekdoten über dummschwätzende Fußballspieler, kapriziöse Eisprinzessinnen und narzisstisch veranlagte Leichtathleten, die Tom sonst immer gerne zum Besten gab. Keine der üblichen Vorträge Claras über ihre Kunst, die nicht die Beachtung fand, die sie ihrer Meinung nach verdiente. Und Hannah war noch stiller als sonst. Ausgelöst durch seine Bemerkung, schien irgendwas aus dem Lot geraten zu sein. Und er war offensichtlich der Einzige, der nicht wusste, was es war.

Damals, in jenem Sommer vor weit über zwanzig Jahren, war ebenfalls etwas aus dem Lot geraten, aber das konnte er nicht wissen. Auch da war Tom unmittelbar beteiligt gewesen, die Konstellation war allerdings eine andere. Wenige Sekunden nachdem Bernstein das Foto von der Schwimmerin im Café gemacht hatte, kam dieser fast zwei Meter große Kerl auf ihn zu, und ihm war sofort klar, dass es nicht in freundlicher Absicht geschah.

Er hatte das Gefühl, dass dieser Schnappschuss ein perfektes Bild war, und er wollte es unbedingt behalten. Kein Bild für die Geschichtsbücher, natürlich nicht, aber eins, das vielleicht mit den Gedächtnisbildern würde konkurrieren können, die ihm seit ungefähr sechs Wochen im Kopf herumspukten und immer wieder auftauchten, in immer kürzeren Abständen.

Er schob die Kamera schnell in seine Umhängetasche und rannte los. Versuchte, in der unübersichtlichen Menschenansammlung unterzutauchen. Er konnte nicht wissen, dass ihm ein Leistungssportler auf den Fersen war, ein Zehnkämpfer, wild entschlossen, an den nächsten Olympischen Spielen teilzunehmen. Irgendwann, irgendwo griff eine Hand nach Bernsteins Schulter, und seine Tasche war verschwunden. Mit allem, was der Mensch so braucht zum Leben. Geld, Papiere, Wohnungsschlüssel, Kamera. Das Foto geriet darüber in Vergessenheit. Eine Weile zumindest.

Geräuschloses, beinah schwereloses Dahingleiten. Und wenn man’s nicht wüsste – geht es eigentlich nach oben oder nach unten? Würde nicht von Zeit zu Zeit eine andere Digitalziffer über der Tür aufleuchten, Bernstein wäre vollkommen orientierungslos.

Außer einem hoteleigenen Bademantel und Badeschlappen trägt er nichts, in der Seitentasche steckt eine geliehene Schwimmhose. Die Erdanziehung scheint außer Kraft gesetzt zwischen gebürstetem Edelstahl, verchromten Handläufen, unbeflecktem, weichem Teppichboden und verspiegelter Kabinenwand.

Irgendwo zwischen fünftem und sechstem Stock drückt er alle zur Verfügung stehenden Tasten. Für jedes Stockwerk. Nur so, zum Spaß. Wie früher zu Kinderzeiten, als er ganze Nachmittage damit zubrachte, in Kaufhäusern Rolltreppen und Aufzüge rauf- und runterzufahren. So lange, bis ihn ein Mitarbeiter des Hauses am Schlafittchen packte und vor die Tür setzte. Hier in diesem Luxuslift wird schon kein Kaufhausdetektiv kommen und ihm die Ohren lang ziehen. Kann man sich erlauben, solchen Blödsinn, ab einem gewissen Alter und oberhalb einer bestimmten Einkommensgrenze. Und wenn man über ausreichend Zeit verfügt. Die hat Herr Bernstein, endlich hat er sie im Griff, und nicht sie ihn, er ist nicht mehr ihr Untertan, sondern ihr Gebieter. Keine beruflichen, familiären, alltäglichen, sich in gnadenloser Regelmäßigkeit wiederholenden äußeren Zwänge und Terminvorgaben, denen man sich kaum entziehen kann. Es sei denn, man entzieht sich vollkommen und für immer. Nun hat er Zeit, so viel er will. Und Übermut im Überfluss.

Das Abbremsen des Aufzugs erfolgt ebenso unmerklich wie das Fahren. Niemand steigt zu. Behutsames, sehr leises Schließen der Lifttür. Weiterfahrt. Bis zum erneuten Öffnen der Tür dauert es eine kleine Ewigkeit. Komfortable Personenbeförderung braucht halt ein Weilchen.

Ein Weilchen, in dem sich allerhand anstellen ließe. Unbeobachtet. Ungestört. Ungehört. Grimassenschneiden, Aufstoßen, Zungerausstrecken, Mittelfinger in die Höhe recken, all die albernen Dinge, die man sich erziehungsbedingt hat abgewöhnen lassen, und die man sich von Zeit zu Zeit durchaus gönnen sollte.

Herr Bernstein betrachtet sich. Das Haar noch voll und dicht, wenn auch inzwischen grau durchsetzt. Er könnte allmählich mit dem Tönen beginnen, behutsam anfangen, sukzessive zur Ursprungsfarbe zurückkehren. Weitgehend unbemerkt von jedermann. Seine Bartstoppeln, nunmehr schon zehn Stunden alt, schimmern grau im Deckenlicht, lassen seine Wangenfurchen noch markanter erscheinen. Noch männlicher, wie er findet, in diesem Moment zufrieden mit sich und der Welt, die sich ihm flauschig weich zu Füßen legt. Nur die Nase gefällt ihm nicht, hat ihm noch nie gefallen. Ein bisschen zu breit findet er sie. Die Vorstellung, dass sie mit zunehmendem Alter Farbe, Form und Oberflächenbeschaffenheit einer Erdbeere annehmen könnte, bereitet ihm Unbehagen.

Nach dem nächsten Öffnen der Tür steigt eine dralle Hausangestellte zu, mit Kopftuch, Schürze und Wäschewägelchen. Sie grüßt freundlich und wendet ihm den Rücken zu. Der mittels einer atemberaubenden Steilkurve in einen ausladenden Hintern übergeht. Dessen Konturen sich überdeutlich unter weißem Stoff abzeichnen.

Was wäre wenn?, denkt Bernstein, wenn jetzt zum Beispiel der Aufzug stecken bliebe. Wenn man ein ganzes Stündchen warten müsste, sich derweil ein wenig näher käme. Und mit gespiegelter Aussicht. Aber solche Dinge kommen im wahren Leben nicht sonderlich oft vor, eher in Büchern, Filmen, Fantasien. In Männerfantasien vor allem. Die fahrplanmäßige Reise bis zur nächsten Etage reicht für die angedachten Aktivitäten keinesfalls aus. Trotz der geringen Geschwindigkeit. Höchstens für einen formvollendeten Gedankengang. Für ein werbendes Lächeln, das vielleicht belohnt wird. Das aber leider nur pflichtgemäß erwidert wird.

Wieder allein im Lift, betrachtet er seine kräftigen Waden, nimmt einen Fuß aus der Badeschlappe und streckt ihn vor. Inspiziert die Hornhaut unter Ferse und Ballen, prüft Länge und Beschaffenheit der Fußnägel. Könnte mal wieder eine Pediküre vertragen, stellt er fest und verliert beinah das Gleichgewicht.

Ein asiatisches Ehepaar steigt zu, Japaner vermutlich. Er mit Fotoapparat, sie mit Handtasche. Beide freundlich lächelnd, ein Stockwerk weit. Stehen da nebeneinander, beide mehr als einen Kopf kleiner als Bernstein, der ebenso freundlich zurücklächelt.

Er würde jetzt gerne ein paar Brocken Japanisch hören. Einen schönen, vielleicht sogar handfesten Ehestreit, in einer ihm völlig unbekannten Sprache. In welcher Sprache lässt es sich wohl am trefflichsten streiten? Auf Italienisch wahrscheinlich, denkt er, womit ein mögliches Reiseziel in die engere Wahl rückt. Er muss ja nicht sofort hin, kann sich Zeit lassen. Nur keine übereilte Reise, wie es heutzutage allgemein üblich ist. Heute geht es doch nur noch darum, möglichst große Entfernungen in möglichst kurzer Zeit zu überbrücken, aber was hat das noch mit Reisen zu tun?, fragt er sich. Ich werde mir alle Zeit der Welt nehmen. Werde die Langsamkeit zum Prinzip erheben. Am besten, ich reise so langsam wie Goethe damals, als er seinerseits aufbrach ins Land der Zitronenblüten. Ich könnte kontinuierlich meine Geschwindigkeit drosseln und mich aufmachen nach Arkadien, Zentimeter für Zentimeter auf der Landkarte vorrücken, auch wenn ich nicht auf eine Pferdekutsche angewiesen bin.

Und dann werde ich ganze Nachmittage auf Piazzen sitzen und streitende Paare belauschen, dem könnte ich etwas abgewinnen. Selbstzufrieden Wortgefechten zuhören, über Nichtigkeiten, die sich zu Kriegsgründen aufgeschaukelt haben. Wild gestikulierend und lauthals schreiend ausgetragene Auseinandersetzungen im geduldigen Schatten römischer Tempelsäulen oder florentinischer Paläste.

Der asiatische Herr richtet plötzlich seine Kamera auf Bernsteins Spiegelbild, lacht dabei kindisch und verfällt in ein heftiges Nicken, das dieser nicht zu deuten weiß. Er ist es nicht gewöhnt, fotografiert zu werden, auch wenn er umgekehrt sehr wohl weiß, wie man abzulichtenden Personen die Scheu nimmt. Er wundert sich, dass man als Hobbyfotograf die gleichen Hemmungen verspürt, sobald man unerwartet in den Fokus eines Objektivs gerät.

Nachdem die Japaner den Lift im Parterre verlassen haben und die Tür sich hinter ihnen geschlossen hat, löst Bernstein den Gürtel seines Bademantels. Unterzieht sich einer eingehenden Betrachtung. Drei bis vier Kilo zu viel Bauch, bei großzügiger Einschätzung, er zieht ihn mit aller Macht ein, ja, so geht es einigermaßen. Sein Glied hat ihm zu Pubertätszeiten viel Anerkennung von männlichen Altersgenossen eingetragen, aufgrund so mancher Strahlweiten- und Längenmessung. Inzwischen schimmern auf ihm deutlich blaue Äderchen, die sich hoffentlich nicht eines Tages zu Krampfadern auswachsen. Kein Foto wert, das gute Stück, aber was soll man machen?

Ja, ja, die Jugend, denkt Bernstein, sie ist nicht viel mehr als ein flüchtiger Moment, der Körper hingegen ein permanenter Verfallsgegenstand. Was uns bleibt, sind Erinnerungen. An unsere Neugier, unsere Unbekümmertheit, die langsam, ganz langsam, so langsam, dass wir es kaum bemerken, von kriechender Fäulnis befallen wird. Man könnte auch Reife sagen, aber was ist Reife schon anderes als eine späte Etappe auf dem unausweichlichen Weg alles Irdischen?

Nun gut, lieber Herr Bernstein, schwelge noch ein wenig in Erinnerungen, das verschafft Halt, wenn man mit dem Fahrstuhl durchs Nirwana irrt. Erinnere dich an entfernte Jahre. An die Monate, die Wochen, an den Tag, an dem sich deine und Hannahs Wege erneut kreuzten. Als das Fleisch noch fest und die Gefühle noch überwältigend waren. An flüchtige Berührungen, an frühe Küsse, um die man lange ringen musste. An erste erotische Handgreiflichkeiten auf einer einsam gelegenen Waldlichtung. An süßen Spumante, der wie ein überdosiertes Aufputschmittel wirkte. Naturumflorte Liebe im Schatten einer Buche. Oder war es eine Eiche?

Aber pass auf, sonst gehst du noch selbstvergessen verloren in längst verblichenen Zeiten. Überhörst und übersiehst dabei vielleicht das Öffnen der Fahrstuhltür, unten im Keller, wo schon zwei ältere Damen, ebenfalls in Bademänteln, auf den Lift warten. Überfühlst dann womöglich eine nicht von der Hand zu weisende Erektion. Und das könnte mehr als peinlich werden.

Bernstein schwimmt. Langsam, hat keine Eile, ist sportliche Betätigung nicht gewohnt, nur nichts übertreiben, für den Anfang zumindest nicht. Allmähliche Verbesserung der körperlichen Verfassung und damit auch der seelischen, das ist ein guter Vorsatz für die nächste Zeit. Gute Vorsätze sind unverzichtbar, wenn man einen Schnitt machen will. Und nicht immer fliegen sie einem unerwartet und urplötzlich zu, so wie damals, als er über gar keine Vorsätze verfügte, erst recht keine guten. Als er meistens bis über den Mittag hinaus schlief und konsequent Lebenszeit vergeudete. An einem frühen Nachmittag klingelte es an der Tür, im Halbschlaf wahrgenommen, der Postbote wahrscheinlich oder Besuch für einen seiner Mitbewohner. Verkatertes Drehen und Wenden von der einen Bettseite zur anderen, ein neuer Anlauf, um wieder in den Schlaf und von da aus in den Nachmittag hinüberzudämmern. Irgendetwas störte, ein paar unbedeutende Geräusche, zu leise, um einen Schlafenden zu wecken. Zu laut, um einen Erwachten wieder in den Schlaf zurücksinken zu lassen. Das Erste, was er sah, war ein Paar weißer, halbhoher Turnschuhe, die zwischen verstreut umherliegenden Wäschestücken standen. Darüber eine Jeans mit langen Beinen, in der ein blaues T-Shirt steckte, mit dem Aufdruck eines Sportvereins. Braun gebrannte muskulöse Arme, breite Schultern, ungewöhnlich breit für eine junge Frau. Lange, von der Sonne gebleichte blonde Haare, auf einer Seite hinters Ohr gestreift.

Wortlos ließ sie seine Umhängetasche, die er längst abgeschrieben hatte, hin- und herpendeln. Warf sie ihm mit lässigem Schwung in die Arme.

Seine Papiere, sein Geld, seine Kamera, alles noch vorhanden. Nur der Film war weg. Er schaute sie fragend an. Fand keine Antwort. Nur einen herausfordernden, wasserblauen Spottblick. Völlig überraschend fing sie an, langsam mit den Hüften zu kreisen, ihre Hände wanderten im Zeitlupentempo zum Gürtel ihrer Jeans. Ihre Finger spielten mit dem blauen Stoff ihres T-Shirts, zogen ihn Zentimeter für Zentimeter aus der Hose, sonnengebräunte Haut kam zum Vorschein. Sekunden später, vielleicht waren es auch Minuten, ihr Bauchnabel. In Gedanken schon so manchen Zentimeter vorausgeeilt, bemerkte er, dass sie sich allmählich im Kreis zu drehen begann. So lange, bis sie schließlich mit dem Rücken zu ihm stehen blieb. Hinten im Bund ihrer Jeans steckte ein Umschlag mit Fotoabzügen.

Sie legte ihm die Fotos aufs Bett und räumte sich einen Stuhl frei, der von einem Bücherstapel in Beschlag genommen wurde. Was er alles fotografiert hatte, wusste er inzwischen nicht mehr. Gut erinnern konnte er sich vor allem noch an eine Aufnahme von einem Verkehrsunfall. Bei einem seiner Streifzüge hatte er an einer Straßenkreuzung einen Menschenauflauf bemerkt, der sich um einen Bus der städtischen Verkehrsbetriebe drängte. Neugierig geworden, gesellte er sich hinzu. Sah einen jungen Mann am Boden liegen, das linke Bein in grotesker Weise verdreht, den Kopf in einer Blutlache, der rechte Scheinwerfer des Busses war gesplittert. Auf dem regennassen Asphalt eine offene Tasche, aus der Unterlagen und Bücher geschleudert worden waren. Handschriftliche Notizen, eine Schreibmappe, mehrere Bücher: Homer, Ovid, Herodot.

Bernstein hatte sich überwinden müssen, hatte lange gezögert, ehe er die Kamera aus dem Rucksack holte. Die Schutzklappe vom Objektiv nahm, einen neuen Film einlegte und durchspannte. Den Sucher ans Auge hielt und schließlich auf den Auslöser drückte.

Und dann wurde er auch schon von einem Rettungssanitäter unsanft beiseite gestoßen und beschimpft. Dass er hier schleunigst verschwinden solle, ansonsten könne er gleich zum Krankenhaus mitkommen. Und zwar als Patient.

Spätestens, als er dieses nicht sonderlich gelungene Foto in den Händen hielt, war ihm klar, dass er nicht über die nötigen Voraussetzungen verfügte, um in brenzligen Situationen genau den richtigen Moment abpassen und mit ruhiger Hand auf den Auslöser drücken zu können.

Bernstein legt eine kurze Pause am Beckenrand ein. Worüber haben wir eigentlich damals geredet?, fragt er sich. Mit Sicherheit noch nicht über Eselsohren, sondern über die Dinge, die einem wesentlich erscheinen, wenn man um die zwanzig ist. Wenn man vermeiden will, belangloses Zeug zu schwafeln. Wahrscheinlich ging es um die Kernfragen menschlicher Existenz. Monate später, so erinnert er sich, hatten sie sich in einer warmen Sommernacht auf dem Sprungturm des Schwimmbads geliebt, in dem Hannah täglich trainierte. Und hinterher auf dem Rücken liegend, ihre jungen, makellosen Körper den Sternen zeigend, Mutmaßungen darüber angestellt, ob ein Drehbuch existierte, ob die Menschen vorgegebene Rollen spielen würden, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Unser Leben ist sicher so eine Art große Oper, hatte Bernstein gesagt, das Libretto bereits geschrieben und die Musik längst komponiert. Eine Oper, in der alle Mitwirkenden dem Irrglauben unterliegen, der eigene Part wäre selbst verfasst. Die Musiker und Sänger spielen und singen klar vorgegebene Melodien, ohne zu wissen, dass die Noten und Buchstaben schon seit ewigen Zeiten existieren.

Und wie heißt diese Oper?, hatte Hannah gefragt, während er selber noch ganz beeindruckt gewesen war von seinem kleinen Metaphernspiel.

Tristan und Isolde, wie sonst? Und vielleicht spielen wir beide ja sogar die Hauptrollen.

Solche Dinge gibt man zum Besten, wenn man verliebt ist und jung, und ein Viertel Leben später schüttelt man den Kopf darüber und kann sich doch rückblickend einer gewissen Sentimentalität nicht erwehren, denkt er nun. Und manchmal wünscht man sich trotzdem nichts sehnlicher, als solche Momente des Glücks noch einmal zu durchleben. In einem unverbrauchten Körper zu stecken, in einer warmen Spätsommernacht nackt unterm Sternenhimmel zu liegen und als Dank für den schönen Anblick, den man bietet, eine leichte, kühle Brise geschickt zu bekommen.

Es war sehr gelungen, das Foto, das er längst abgeschrieben hatte. Hannah, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, ihre Tasse mit beiden Händen vor dem Kinn haltend. Sie schaut zum Fenster hinaus, dessen Rahmen fast millimetergenau mit dem Rand des Fotoabzugs übereinstimmt, die rechte Gesichtshälfte halb verdeckt von ihren Haaren. Am linken Bildrand das Profil des Kerls, der ihm die Tasche weggenommen hatte. Und im Vordergrund das Heck eines vorbeifahrenden Autos.

Sie verbreitete einen wunderbaren Geruch, stellte Bernstein fest, während sie im Zimmer auf und ab ging und die unzähligen Fotos anschaute, die er mit Stecknadeln an der Wand befestigt hatte. Darunter ein Haufen von Abzügen, auf denen nichts zu erkennen war.

Kannst du mir erklären, warum die Bilder schwarz sind?

Das sind Aufnahmen vom Meer.

Aha. Und warum sieht man das Meer nicht? Oder ist es das Schwarze Meer?

Weil ich sie nachts aufgenommen habe.

Und warum machst du Fotos, auf denen man nichts sieht?

Weil es nicht auf das ankommt, was man sieht, sondern darauf, was sich hinter dem Sichtbaren verbirgt.

Und wie soll man das erkennen?

Soll man ja gar nicht.

Hannah sah ihn ein wenig mitleidig an.

Du bist ein ziemlicher Spinner, hab ich Recht?

Aber ein sehr liebenswerter. Mitunter jedenfalls.

Das muss sich erst noch zeigen, sagte sie, und er hoffte insgeheim, dass sie sich in nächster Zeit die Mühe machen würde, das herauszufinden.

Während sie weiter seine Fotos betrachtete, vor allem die, auf denen etwas zu sehen war, versuchte er, sich so viel wie möglich von ihr einzuprägen. Die Topografie des Gesichts, die Proportionen des Körpers, die Länge der Gliedmaßen, das unablässige, reflexartige Zurückstreichen der Haare, die ihr ständig im Weg waren. Er beobachtete das gleichmäßige Dahinfließen der Bewegungen, das ihn schon vor Wochen verzaubert hatte. Nur hatte er da ihren Geruch noch nicht gekannt, den er nun ebenso festzuhalten versuchte wie die visuellen Eindrücke. Ganz ohne Hilfsmittel. Nicht einmal mit einer Kamera.

Was machst du eigentlich, wollte sie wissen. Arbeiten? Studieren?

Weder noch.

Sondern?

Nichts.

Das ist nicht sehr viel.

Aber zurzeit reicht’s mir.

Komische Einstellung.

Na ja, nichts ist auch ein bisschen untertrieben.

Sie sah ihn erwartungsvoll an.

Also?

Fotos, ich mache Fotos wie diese hier.

Und du lebst davon?

Natürlich nicht.

Ein paar seltsame Fotos und jede Menge Unordnung. Das ist immer noch nicht viel mehr als nichts.

Zum Abschied schenkte er ihr das Foto, auf dem sie zu sehen war. Obstgarten, dachte er, nachdem sie gegangen war. Er fand, sie roch nach einem Obstgarten. Oder nach einem randvollen Früchtekorb. Angereichert mit einem Hauch von Chlorwasser. Blieb die Frage, wie sie im Herbst riechen würde. Noch am selben Tag besorgte er sich ein Vorlesungsverzeichnis. Blätterte darin herum, so lange, bis er eine Veranstaltung gefunden hatte, die ihn interessierte. Einschreiben, für was auch immer, konnte er sich dann ja später einmal.

Herr Bernstein reist zum Äquator

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