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März, Iversheim/Eifel

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Karl Riemke saß im Lehnstuhl auf der Veranda vor seinem Wochenendhaus. Tief eingemummelt in eine Decke genoss er die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Von Zeit zu Zeit schob er seine Hand unter der Decke hervor und griff nach der großen henkellosen Teetasse. Er hielt sie einige Sekunden mit beiden Händen umschlungen und genoss den Duft von Rum. Er blies in den Tee und seine Brille beschlug. Dann neigte er den Kopf etwas nach vorne und blickte über die Brillenränder in die Ferne. Doch er erkannte nicht viel mehr, als er durch die beschlagenen Gläser gesehen hätte. Obwohl er die Aussicht seit fast 50 Jahren kannte, konnte er nicht genug davon bekommen. Er hatte sich oft gefragt, was diese Aussicht ausmachte. Der Hartenberg erhob sich auf gerade einmal 350 Meter, war also eher ein Hügel als ein Berg. Es gab auch keinen Blickfang in dieser Aussicht. Aber die Proportionen, die räumliche Tiefe, entstanden durch die Abfolge der ersten unterhalb des Hauses liegenden Schafwiese, eines mit Sträuchern bewachsenen Hügels und den sich dahinter erstreckenden Wiesen mit vereinzelten Obstbäumen, die bis zum Saum des noch nicht ergrünten Waldes reichten, dies alles hätte ein Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts nicht schöner erschaffen können. Wenn er nach links blickte, konnte er die letzten Häuser von Arloff sehen. Der Wald war ein Buchenmischwald mit einzelnen Parzellen Kiefernwald. Den Waldrand säumten Brombeerbüsche. Die Wiesen vor dem Wald wurden durch einen Bach, der rechts dem Wald entsprang und sich in Richtung Arloff schlängelte und einen Schotterweg, der in sanften Serpentinen zum linken Waldrand führte, in drei Flächen geteilt.

Riemke trug sein dichtes graues Haar streng nach hinten gekämmt. Die neue Brille mit dem eckigen schwarzen Gestell verlieh ihm einen Hauch von Künstler.

Noch immer war es für ihn das Wochenendhaus, obwohl er hier fast so viel Zeit verbrachte, wie in Köln. Eigentlich war er als Pensionär nicht mehr an Wochenenden gebunden. Doch Riemke hatte seine Gewohnheiten und so verbrachte er vor allem verlängerte Wochenenden im Grünen.

Trotz seiner 72 Jahre hätte er noch Chancen bei Frauen gehabt, doch er hatte nach dem Tod von Christa mit keiner Frau etwas angefangen. Das war jetzt 5 Jahre her.

Kein Tag war vergangen, an dem er sich nicht gefragt hatte, wieso ausgerechnet sie Krebs bekommen hatte. Wenigstens war es schnell gegangen. Das hatten die Ärzte angekündigt: „Bauchspeichelkarzinom, wir geben ihr noch 6 Wochen“. Ihm wäre es lieber gewesen, er wäre der Erste von beiden gewesen, der ging, und er musste sich eingestehen, dass er fest davon ausgegangen war. All die Statistiken über die höhere Lebenserwartung von Frauen hatten ihn in falsche Sicherheit gewiegt. Und plötzlich hatte er für sich selber sorgen müssen.

Als die Teekanne leer war, stand er mit einer Leichtigkeit auf, die einen Fremden überrascht hätte, und ging mit raschen Schritten ins Haus.

An diesem Morgen hatte er einen Anruf des Leiters seiner früheren Dienststelle erhalten. Der Gutachter hatte die vollständige Resozialisierung Blascheks festgestellt. Dies bedeutetet, dass der Mann, dessen Verhaftung seiner Karriere auf die Sprünge geholfen, aber seine Familie fast zerstört hätte, in drei Monaten wieder auf freiem Fuß sein würde. Eigentlich hatte nicht Blaschek seine Familie fast zerstört, wie er sich eingestehen musste, er selbst war es gewesen.

Zwei Jahre hatte er sich in Blascheks Kopf gedacht und seine Familie fast vergessen. Als Blaschek dann endlich gefangen war, der Medienrummel begann und Blaschek Drohungen gegen ihn und seine Familie ausstieß, war seine Frau kurzerhand mit den Kindern ausgezogen.

Es war ein Warnschuss, und er verstand ihn. Danach hatte es in ihrer Ehe die üblichen Höhen und Tiefen gegeben, aber alles in allem war es eine erfüllte Zeit.

Riemke bezweifelte, dass Blaschek wirklich keine Gefahr mehr darstellte. Plötzlich sah er seine Augen wieder vor sich, den hasserfüllten Blick, mit dem Blaschek ihn angesehen hatte, während sein Mund die Worte "dat zahl ich dir heim" formten. Riemke fielen die anonymen Briefe ein, die ihn nach der Verurteilung erreicht hatten. Er war nie dahinter gekommen, wie Blaschek es anstellte, aber die Briefe kamen unzweifelhaft von ihm. Riemke zwang sich, nicht an die Briefe und deren kranken Inhalt zu denken.

Janson, der jetzige Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen, hatte ihm zugesagt, Blaschek nach dessen Entlassung beschatten zu lassen. Aber wie lang würde er das aufrecht erhalten können. Spätestens nach zwei Wochen würde er sich für die Stunden der Observierung, die vier Beamten, die für die lückenlose Beschattung notwendig waren, rechtfertigen müssen. Angst hatte Riemke nicht, hatte er nie gehabt, nur ein undefiniertes Unwohlsein.

Sein Handy klingelte. Auf dem Display konnte er sehen, dass es sein Sohn war.

"Hallo Stefan, mein Junge" meldete er sich, und trat wieder auf die Veranda.

Stefan Riemke hatte eine Anwaltskanzlei, die, obwohl erst vor wenigen Jahren gegründet, bereits einen ausgezeichneten Ruf genoss. Nach dem Jurastudium hatte er einen MBA in Marketing gemacht und sich auf Medienrecht spezialisiert. Dank seines charmanten Auftretens knüpfte er schnell Kontakte. Das markante Kinn und die strengen Augenbrauen hatte er von seinem Vater, die blauen Augen und die schmale Nase von seiner Mutter. Mit seinen 1,90m und den breiten Schultern war er schon immer ein Frauenschwarm gewesen.

"Was es Neues gibt?", fragte Stefan Riemke.

"Was soll es Neues geben im Leben eines pensionierten Witwers?" Er versuchte Zeit zu gewinnen, während er überlegte, ob er Stefan von Blaschek erzählen sollte. Stefan würde sich nur unnötig Sorgen um ihn machen. Damals war er 16 Jahre alt gewesen und die ganze Geschichte um Blaschek und die Drohungen gegen seinen Vater, die ihm seine Klassenkameraden mit der Bild-Zeitung unter die Nase hielten, hatten ihn sehr bedrückt.

Nach einem tiefen Seufzer begann er zu erzählen. Sein Sohn würde es sowieso erfahren.

Zu seiner Überraschung wusste Stefan bereits Bescheid.

"Eine meiner Anwaltsgehilfinnen hatte mal was mit einem Wärter in Ossendorf und die beiden telefonieren schon mal", sagte Stefan.

Ein leichtes Misstrauen, Ergebnis seiner jahrelangen Arbeit als Ermittler, erfasste ihn, als er die Aussage seines Sohns hörte. Er schalt sich einen alten Narren und beglückwünschte Stefan zu seinem guten Netzwerk.

"Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, was soll einem alten Mann schon passieren."

"Du blöder, alter Egomane, ich mache mir Sorgen um meine Kinder", fuhr im sein Sohn über den Mund.

Riemke wollte schon zurückschnauzen, als ihm klar wurde, dass sein Sohn Recht hatte. Blaschek war ein Kindesentführer und wusste, dass er ihn mehr treffen würde, wenn er seinen beiden geliebten Enkeln etwas täte als ihm. Riemke kratzte sich am Hals.

"Du hast recht. Tut mir leid. Meine Dienststelle wird sich um ihn kümmern", sagte er kleinlaut.

Das Schnauben am anderen Ende der Leitung konnte er schwer deuten, entschied sich aber, es für Erleichterung zu halten. Er hatte getan, was er konnte, um Blascheks Aufenthalt im Knast zu verlängern und ihm Sicherheitsverwahrung einzubrocken. Jetzt konnte er nur hoffen, dass die Gutachter richtig lagen.

„Wie geht es sonst so, mein Sohn?“

„Die gleichen Sorgen wie immer. Was nützt mir mein guter Ruf, wenn die Einnahmen von den horrenden Mietkosten aufgefressen werden. Kein Mensch braucht die überzähligen Büroflächen, die Denger in seinem Größenwahn angemietet hat.“

„Wenigstens bist du Dr. Denger los.“

„Ja, aber der Mietvertrag den er unterzeichnet hat gilt noch für fünf Jahre.“

„Was machen meine Lieblingsenkel?“

„Hast du etwa noch andere?“

„Trotzdem sind es meine Lieblingsenkel.“

„Laura versucht uns mit Handytelefonaten zu ruinieren. Aber wir haben sie jetzt auf Pre-Paid umgestellt. Da ist nach 50 Euro im Monat Schluss. Und Leo denkt, er schafft das Gymnasium, ohne Hausaufgaben zu machen. Zwei Engel also.“

„Ich erinnere mich an einen Jungen, der die 7. Klasse doppeln musste, und der in einem Sportgeschäft erwischt wurde, wie er Fußballschuhe um etikettierte, um sie billiger zu machen.“

„Erzähl das bloß nie Leo und Laura.“

„Oh, mir fallen noch viel bessere Geschichten aus der Oberstufe ein.“

„Ist ja schon gut. Sie sind wunderbar und es geht ihnen gut.“

„Ja, Kinder kommen nicht auf andere Leute.“

„Hältst du mich auf dem Laufenden bezüglich Blaschek?“

„Klar, mach ich gerne. Bis dann“, sagte Riemke und legte auf.

Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Was würde er tun, wenn Laura oder Leo etwas passierte. Er wusste es nicht. Ihm wurde plötzlich kalt.

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