Читать книгу Holderhof - Georg Schmuecker - Страница 6
April, Bonn
ОглавлениеSonja Sandel wachte weinend auf. Es war der gleiche Traum wie seit fünfzehn Jahren.
Anfangs war er jede Nacht gekommen, immer gleich, nur manchmal leicht abgewandelt. Dann, nach der Behandlung nur noch zwei oder drei Mal die Woche. Später träumte sie ihn nur noch ein oder zwei Mal im Monat. Es war immer derselbe Traum. Sie sah ihren Sohn, wollte ihn erreichen, wollte ihn warnen, rief ihn, aber er hörte sie nicht. Dann kam die Nachricht und sie fiel in ein tiefes Loch.
Sie wusste, dass die Nacht für sie vorbei war. Die Uhr zeigte wie immer viertel vor fünf. Sie stand auf, ging ins Bad und dann leise ins Wohnzimmer und las. Meist war es seichtes Zeug, das sie ablenken sollte. Bücher aus einer heilen Welt, in der das Gute gewann, die Guten schön waren und glücklich wurden. Auch sie waren eine schöne, reiche und glückliche Familien gewesen, aber das Glück hatte geendet am 13. November 1989. Lukas war auf dem Weg zum Tennisverein. Wie so viele Jungen hatten die Wimbledonsiege von Boris Becker und Michael Stich seinen Ehrgeiz angestachelt. In der Nähe des Klärwerkes Rodenkirchen war er zum letzten Mal gesehen worden. Jemand hatte einen parkenden weißen Lieferwagen in der Nähe beobachtet. Weitere Spuren gab es nicht. 24 Stunden später ging eine Lösegeldforderung ein. Als der Beweis erbracht war, dass Lukas noch lebte, wurde das Geld beschafft. Mittlerweile hatte die Presse von der Entführung erfahren. Berichte über die Familie und geerbtes Vermögen erhöhten die Lösegeldforderungen. Die Entführer wurden wegen des Medienechos extrem vorsichtig. Mehrfach änderten sie die Modalitäten der Geldübergabe. Das Team von Karl Riemke leitete die Operation auf Seiten der Polizei. Die Geldübergabe erfolgte auf Wunsch der Eltern komplett ohne Polizei. Das Leben des Jungen hatte absolute Priorität. Lukas Freilassung war für genau zwei Stunden nach der Geldübergabe vereinbart. Die Zeit hätte den Entführern gereicht, um das Geld zu prüfen und unterzutauchen.
Dann nahm das Unglück seinen Lauf. Ein übereifriger Journalist sah Peter Sandel das Haus verlassen und folgte ihm. Es regnete heftig. Sandel bemerkte den Reporter nicht. Er nahm ein Taxi zum Bahnhof. Dort bestieg er den Regionalzug von Köln nach Aachen. Auf ein verabredetes Signal warf er eine Sporttasche mit dem Geld aus dem Zugfenster. Der Reporter hatte zwischenzeitlich einen Kollegen informiert, der dem Zug mit dem Auto folgte. So kam es, dass, kaum dass die Entführer die Tasche auf einem selten befahrenen Forstweg an sich genommen hatten, dort der Reporter auftauchte. Männer zwangen ihn auszusteigen, knebelten ihn und fesselten ihn an einen Baum.
Unterdessen nahm der Regen an Heftigkeit zu. Statt wie vereinbart nach zwei Stunden, erhielten Sandels den Anruf erst nach 4 Stunden. Ihnen wurde mitgeteilt, dass sich Ihr Sohn in einem Verließ auf einem verlassenen Bauernhof nahe des zukünftigen Braunkohlereviers Garzweiler II befand. Wegen des anstehenden Kohleabbaus waren zwei Dörfer und fünf Bauernhöfe umgesiedelt und verlassen worden.
Bis die Polizei den Hof gefunden hatte, war es bereits dunkel. Sintflutartig strömte der Regen herab. Ein naheliegender Bach trat über die Ufer. Als die Polizei das von außen verschlossene Kellergewölbe fand, war Lukas bereits in dem überfluteten Raum ertrunken.
Der tragische Tod des Jungen schlug hohe Wellen. Die meisten Entführungen endeten mit der Freilassung des Opfers und früher oder später wurden die Täter gefasst. Aber hier war alles schief gegangen. Alle Beteiligten machten sich Vorwürfe. Peter Sandel machte sich Vorwürfe, den Reporter nicht bemerkt zu haben. Der Chefredakteur, der von der Aktion seiner Leute noch vor der Geldübergabe erfahren hatte, warf sich vor, dass er das Ganze nicht energisch genug unterbunden hatte. Der lokale Polizeichef machte sich Vorwürfe, dass sie unkoordiniert und mit schlechter Ausrüstung den Hof abgesucht und dadurch wertvolle Zeit verloren hatten.
Es wurde zu einem Trauma für alle.