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Dienstag 5. Juni, Köln-Bayenthal

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Stefan Riemke fuhr auf der Suche nach einem Parkplatz, ein weiteres Mal an seinem Haus in Köln-Bayenthal vorbei. Er ärgerte sich, dass er den letzten Anruf im Büro noch entgegengenommen hatte. Nun war er eine Viertelstunde zu spät dran und alle Parkplätze der Straße waren belegt. Nach einer weiteren Runde wurde ein Platz frei.

Stefan stieg aus, nahm Aktentasche und Jackett unter den Arm und ging mit müden Schritten auf das rot geklinkerte Reihenhaus zu, dass er seit einem Jahr sein eigen nannte. Bevor er die Tür aufschloss, rekapitulierte er noch einmal, wo er seinen Wagen abgestellt hatte, damit er ihn am nächsten Morgen wiederfand.

Eine halbe Stunde später saß er mit seiner Frau und seinen Kindern beim Abendessen. Er war angespannt und in Gedanken. Erst, als seine Tochter ihn zum dritten Mal ansprach, reagierte er.

"Papa, jetzt hör mir doch mal zu", sagte Laura mit genervtem Unterton.

"Was gibt‘s denn mein Schatz?" Er versuchte sich zu konzentrieren.

"Wollen wir nach dem Essen etwas spielen?"

"In Ordnung, spielen wir Geheime Botschaften", antwortete Stefan.

"Och, nee, nicht schon wieder", maulte Laura.

"Doch komm, Geheime Botschaften", meldete sich Leo.

Leo war elf und Laura dreizehn Jahre alt. Vor wenigen Wochen hatte Leo zum ersten Mal gewonnen und seitdem wollte er es dauernd spielen.

Geheime Botschaften hatte sich Karl Riemke ausgedacht, als sein Sohn 15 Jahre alt war. Es war ein Familienspiel. Das Familienspiel der Riemkes. Erst vor kurzem hatten Leo und Laura festgestellt, dass sie die Einzigen waren, die dieses Spiel spielten. Und das machte es zu etwas Besonderem. Wenn sie versuchten, es mit Freunden zu spielen, waren die vollkommen überfordert. Ziel des Spiels war es, eine geheime Botschaft so zu schreiben, dass der Gegenspieler sie nicht entschlüsseln kann, der Mitspieler aber schon.

Leo suchte für jeden ein Blatt und einen Stift. Die Regeln waren einfach. Alle würfelten, und wer die meisten Punkte hatte, begann und war erster Setzer. Die anderen waren im Uhrzeigersinn ein Verschlüsseler und zwei Entschlüsseler. Der Setzer dachte sich eine kurze Information aus. Diese musste der Verschlüsseler in 3 Minuten in einen unverfänglichen Text, die geheime Botschaft, von maximal 50 Worten einbinden. Aufgabe des Verschlüsselers war es, die Botschaft so zu formulieren, dass der erste Entschlüsseler sie nicht entschlüsseln konnte, der zweite aber schon. Der erste Entschlüsseler bekam die Botschaft für eine Minute zu sehen. Wenn er sie entschlüsselte, bekam der Verschlüsseler einen Punkt abgezogen und der erste Entschlüsseler gewann einen Punkt. Konnte der erste Entschlüsseler sie nicht entschlüsseln, bekam der zweite Entschlüsseler die Botschaft für 3 Minuten zu sehen. Wenn er den Text entschlüsselte, bekam er einen Punkt und der Verschlüsseler zwei. Danach ging es im Uhrzeigersinn weiter. Wenn alle einmal Verschlüsseler waren, war die Runde um, und die Punkte wurden gezählt.

Laura war erster Setzer, schrieb etwas auf und gab die Information ihrer Mutter. Die überlegte und begann zu formulieren: "Mein Frust mit Frodo beim zweiten Wort, der seine Fröhlichkeit verlor und gegen Liebe tauschte. Das erste Wort war das Eine zu dem am Ende kam keiner. Das Dritte Wort kam einfach dazu."

Nun war es an Stefan zu entschlüsseln. Er überlegte kurz, ob der Text kindgerecht sei und begann zu übersetzen. Anscheinend bestand die Nachricht aus drei Worten. Das zweite Wort war zentral, denn es wurde als erstes erklärt. Frust, Frodo und Fröhlich fielen ihm auf.

Und etwas davon musste weg ("verlor") und wird getauscht gegen Liebe. FR war in allen Worten und wenn ich das weg lasse habe ich ust, odo und öhlich. Mit Liebe passt nur Lust. Das zweite Wort war also Lust, dachte er sich und rieb sich die Wange.

"Zeit ist um", sagte Laura im gleichen Moment.

Nun war Leo an der Reihe. Nach 45 Sekunden schrieb er Lust auf sein Blatt. Er begab sich an den zweiten Satz. Die Buchstabendopplung war bei "keiner kam" und "Das das dem". Der, die, das traten zu häufig auf, waren zu missverständlich. Also "keiner kam". Der Buchstabenwechsel deutete auf einen Tausch auch hier, aber der Text sagte am Ende keiner.

Also war das Wort "keine" oder "ka". Leo schrieb „keine“ auf. Bisher stand also „Keine Lust" auf dem Zettel. „Das dritte Wort kam einfach dazu“

Das Dritte Wort schien unverändert zu sein. "Keine Lust dazu", rief er.

"Richtig", antwortete seine Mutter.

Stolz trug Leo sich einen Punkte ein und seiner Mutter zwei. Nun musste sich Charlotte eine Nachricht ausdenken und Stefan sie zu einer Botschaft verwandeln. Ihre Nachricht war: Essen morgen Mittag.

Stefan war nicht bei der Sache und brauchte einige Zeit, um eine Botschaft zu formulieren: Känguru sagt Trinken gestern um Mitternacht. Leo nahm die Botschaft.

„Da hast du wohl einen Punkt verloren“, sagte er nach wenigen Sekunden. „Ich bin doch kein Baby mehr. Alles umgedreht, wie in Australien also: Essen morgen Mittag."

"Hätte aber auch pinkeln morgen um 12 Uhr sein können", antwortete Stefan, um das Gesicht zu wahren.

"Ja", sagte Laura, "aber Mama ist im Gegensatz zu dir mit den Gedanken beim Spiel und schreibt keinen Unsinn."

Sie spielten die Runde zu Ende, und Leo gewann vor seiner Mutter und Laura.

Als die Kinder im Bett waren setzten sich Stefan und Charlotte auf die Terrasse.

"Du warst nicht bei der Sache. Was ist los", fragte Charlotte.

Er hatte das Thema umgangen so lange er konnte. Jetzt war es Zeit. Noch länger zu warten, würde bedeuten, einen Riesenstreit zu riskieren.

"Blaschek kommt raus", sagte er so gleichgültig wie möglich.

"Was?", antwortete sie entsetzt. "Wann?"

"In 20 Tagen, am 25ten. Ich weiß, ich hätte es dir eher sagen sollen, aber ich dachte, es würde dich nur unnötig aufregen."

"Und was ist mit unserem Urlaub?"

"Was soll mit unserem Urlaub sein?"

"Wir können deinen Vater nicht allein mit den Kindern in der Eifel lassen und in die Toskana fahren, wenn Blaschek aus dem Knast kommt."

"Mach dir keine Sorgen, er wird bestimmt von Papas Dienststelle rund um die Uhr überwacht. Sobald er ein krummes Ding dreht, ist er wieder drin."

"Ja, aber so naiv wird er nicht sein. Du hast immer gesagt, der Mann ist gefährlich, und es ist das Beste, wenn er für immer hinter Gitter bleibt. Was ist, wenn etwas schief geht und wir in der Toskana sitzen?"

„Die Polizei wird ihn beobachten. In den ersten Wochen besteht keine Gefahr. Er wird Zeit brauchen, bevor er etwas unternimmt“, versuchte Stefan sie zu beruhigen.

Charlotte schaute nachdenklich in den Garten.

"Ich habe doch mein Handy“, begann Stefan. „Wir haben uns so auf diesen Urlaub gefreut. Endlich frei, endlich Ferien, wie wir sie wollen. Kein Aufpassen auf Kinder, kein Stress im Restaurant. Museen, Opern, guter Wein und ungestörter Sex. Wer weiß, ob mein Vater in einem Jahr noch rüstig genug ist, die Kinder zu nehmen?"

"Ja, aber in zwei Jahren will Laura sowieso nicht mehr mit uns fahren und Leo dann bald auch nicht. Ich finde es nicht fair deinem Vater gegenüber, genau dann weg zu fahren", sagte Charlotte.

"Er ist alt genug, sich zu melden, wenn es ihm nicht passt."

"Er weiß doch auch, wie sehr du dich auf den Urlaub freust. Lass uns den Urlaub absagen. Wir können es uns sowieso nicht leisten. Außerdem könnte ich den Urlaub vor lauter Sorgen sowieso nicht genießen."

Stefan sah sie entgeistert an. Wenn er sich auf etwas gefreut hatte, seine Pläne gemacht, sich jedes Detail ausgemalt hatte, konnte er nicht zurück. Dann den Plan zu ändern war, als würde man einem Kind das Eis wegnehmen.

"Nein, wir fahren", sagte er und verschränkte die Arme.

„Da steckt doch mehr dahinter.“ Charlotte sah ihn streng an.

„Nun gut. Ich werde mich mit einigen wichtigen Leuten vom italienischen Fernsehen in Mailand treffen. Die Fernsehmärkte wachsen zusammen, die Unternehmen werden europäisch und Berlusconi ist ein Big Player.“

„Du triffst dich mit Berlusconi?“

„Nein, aber mit Anwälten und Marketingleuten aus seiner Firma. Sie brauchen Leute, die das deutsche Medienrecht kennen und die Verträge, die sie mit den Firmen kaufen, interpretieren können. Das ist die Gelegenheit. Wenn ich da rein komme, füllen sich unsere überzähligen Büros bald mit eigenen Mitarbeitern.“

„Verschiebe den Termin.“ Charlotte sah ihn flehend an.

„Habe ich schon versucht, das geht nicht. Die brauchen mich drei Tage.“

„Und was, hast du gedacht, soll ich während der Tage tun?“

„Schoppen, in die Scala gehen, Cafes besuchen.“ Er strahlte sie an, als hätte er den Himmel versprochen.

"Und was, wenn ich hier bleiben will?" Sie verschränkte die Arme.

"Dann fahre ich eben alleine. Wenn ich schon mal da bin, will ich auch Urlaub machen." Er schob die Unterlippe vor.

Charlotte fragte sich wieder einmal, ob sie mit einem Kind verheiratet war. Die Vorstellung, dass Stefan allein ins Museum ging, war absurd. Ohne sie würde er einen Maler nicht von einem Bildhauer unterscheiden können.

"Viel Spaß in der Mailänder Scala", sagte sie mit einem süffisanten Lächeln.

"Den werde ich haben", antwortete Stefan leicht beleidigt und ging ins Haus.

Charlotte blieb draußen sitzen. Vielleicht war sie ja übervorsichtig, überlegte sie. Karl Riemke hatte noch immer gute Beziehungen zur Polizei. Die würden sie schützen.

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