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VIER

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Als Kind konnte Stefan mit Gleichaltrigen nichts anfangen. Ihr kindischer Spieltrieb und ihr ständiger Drang nach Aufmerksamkeit teilte er nicht im geringsten. Stefan war ein stilles Kind, das sich am liebsten mit sich selbst beschäftigte. Er war immer schon ein Einzelgänger, der sich stundenlang in seinen Büchern vergrub. Am wohlsten fühlte er sich, wenn sein Vater währenddessen im Nebenraum seinen Geschäften nachging. Die Tür war meist offen, sodass er seinen Vater hörten konnte, wenn er telefonierte.

Seine Mutter war es, die ständig darum bemüht war, Spielkameraden für Stefan zu finden – gegen den Willen des Jungen. Ein Geschätspartner und guter Freund von Stefan’s Vater war Heinrich Meissner. Ihm gehörte eine kleine Forsthütte im Falkenstein Nationalpark. Diese ursprüngliche Naturlandschaft voll dicht bewaldeter Steilhänge, die durchzogen waren von tiefen Schluchten und Wasserfällen lag eine knappe Stunde von Freistdt entfernt und war ein beliebtes Ausflugsziel. Stefan’s Vater Roman Zauner war ein begeisterter Wanderer und liebte die Natur. Er kam gerne an den Wochenden in den Nationalpark und wanderte auf einem der vielen Wege entlang des Welz-Flusses, der sich seinen Weg durch die gewaltigen Gesteinsmassive bahnte. Als er beim Essen eines Tages erzählte, dass Heinrich Meissner einen Sohn in Stefan’s Alter hatte, war dessen Mutter sofort begeistert. Sie drängte darauf, dass die Geschäftspartner die beiden – damals 10-jährigen - Burschen das nächste Mal mitnehmen in den Nationalpark.

Es war ein sonniger Tag im Herbst, als sich die beiden Männer mit ihren Söhnen aufmachten vom Parkplatz am Fuße der Schlucht. Stefan konnte Meissner’s Sohn Ralph von Beginn an nicht ausstehen. Seine quirrlige Art und sein ständiges Geplapper über die Waldhütte seines Vaters gingen Stefan auf die Nerven. Die beiden Väter gingen vorne und tauschten sich über ihre Arbeit aus, dann plauderten sie über die Zeit ihrer Kindheit, wie sie unbeschwert die Wälder erkundeten.

Stefan stapfte hintendrein, während Ralph um ihn herum tollte wie ein verspielter Welpe, der das erste Mal Ausgang hatte. Überdreht hüpfte er herum und lag Stefan mit seiner sägenden Stimme in den Ohren. Stefan sprach kaum etwas und sah Ralph auch nicht an – in der Hoffnung, dass der Quälgeist irgendwann merkten würde, dass Stefan sich nicht für ihn, noch für den Wald oder diese Scheiß-Forsthütte interessierte. Doch Ralph schien das nicht aufzufallen. In einem endlosen Schwall plapperte er ohne Unterlass. Als sie die Hütte erreichten, die auf einer Anhöhe im Wald an einem kleinen Bach lag, machten sich die beiden Männer daran, Holz für die Feuerstelle vor der Hütte zu sammeln. Erst als die Sonne hinter den schroffen Felsen der Schlucht verschwand, wurde Stefan klar, dass sie in der Hütte übernachten würden. Der Rückweg wäre zu gefährlich in der Dunkelheit.

Stefan war sehr wütend. Vor allem auf seinen Vater, der ihm das Ganze erst eingebrockt hatte. Ralph’s gute Laune stieg indes noch weiter. Gemeinsam gingen die beiden Jungen Feuerholz sammeln. Ständig belehrte Ralph Stefan über die Besonderheiten der Umgebung, die er wie seine Westentasche kannte. Jede Pflanzen und jeden Vogel nannte er beim Namen. Ralph führte sie zu den besten Stellen, um Holz zu sammeln. Stefan kochte innerlich wie ein Vulkan, der gleich ausbrechen würde. Er entfernte sich immer wieder von Ralph, preschte nach vorne oder blieb trödelnd zurück, um endlich Ruhe zu haben. Als Ralph ihn ermahnte, doch bei ihm zu bleiben, damit er sich nicht verläuft, platzte Stefan der Kragen. Er beschimpfte ihn wüst und stieß ihn weg. Ralph fiel hin und stürzte einen steilen Abhang hinunter. Der schmächtige Junge überschlug sich mehrmals und blieb am Fuß der Böschung liegen. Ohne sich nochmal umzusehen, stürmte Stefan davon. Er dachte nicht nach, was mit Ralph sein könnte, war nur froh, diese Nervensäge endlich losgeworden zu sein. Stefan war sicher, sich den Weg zur Hütte gemerkt zu haben. Als er so durch den Wald ging, grübelte er doch darüber nach, was wohl mit Ralph passiert war und was er seinem Vater und Herrn Meissner über den Verbleib seines Jungen sagen sollte. Eine Weile stieg das Gelände an und als er auf eine Lichtung kam, hielt er inne und sah sich um. Die Umgebung sah nach allen Seiten gleich aus. Panik befiel ihn, und die Dunkelheit des Waldes schien sich gerade in diesem Moment auszubreiten und alles zu verschlucken. Unheimliche Geräusche ließen ihn zügig aufsteigen. Immer wieder stolperte er in der Finsternis über Wurzeln und Dickicht. Und er schlug sich die Knie auf an spitzen Felsen. Stefan wusste, dass er längst vom Weg abgekommen war, denn sie waren nie über solch steiles und unwegsames Gelände gegangen. Doch folgte er der Logik, dass er von ganz oben einen besseren Ausblick haben würde und das Feuer vor der Forsthütte ausmachen könnte. Und so stieg er immer weiter hinauf und versuchte eine lichte Stelle auszumachen. Doch der Wald wurde immer dichter. Die nächtliche Kälte fiel über ihn her, kroch in seine Glieder. Dann wurde der Untergrund steiniger und die Bäume weniger, einen Grat oder ein Ende des Hanges konnte er nicht erkennen. Schließlich hockte er auf einer Anhöhe inmitten von dicken Baumwurzeln und groben Gesteinstrümmern. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit; trotzdem konnte er kaum etwas erkennen. Weder rauf noch runter. Einige Male rief er ins Schwarz der Nacht hinaus, so laut er konnte. Die kalte Nachtluft erstickte ihn und aus seiner Kehle kam bloß ein heiseres Krächzen. Die Arme eng um seinen Körper geschlungen, kauerte er sich auf den harten Boden, verlassen und verloren.

Schließlich beschloss er, den Hang wieder hinabzusteigen. Als Stefan einen Fuß auf loses Geröll setzte, rollten die Steinbrocken weg und er rutsche haltlos ab. Er überschlug sich und prallte gegen Felsen.

Fast zwei weitere Stunden war Stefan damals noch durch den Wald geirrt. Zitternd vor Kälte stolperte er durch die Nacht. An Dornen des Dickichts zeriss er sich die Kleider und an den scharfkantigen Felsen holte er sich tiefe Schrammen.

Noch nie in seinem Leben hatte sich Stefan so verloren gefühlt wie in dieser Nacht. Schließlich kauerte er sich auf dem Waldboden nieder und begann bitterlich zu weinen. Sein Ärger über den Ausflug wich Verzweiflung und Angst. Er wünschte sich nur, seinen Vater zu sehen und in seine Arme zu laufen. Er fand sich mit der Vorstellung ab, die Nacht dort draußen in der Kälte verbingen zu müssen. Die ganze Aufregung ließ ihn erschöpft einschlafen. Und im Traum erschien ihm sein Vater. Und er rief seinen Namen. Immer wieder rief er den Namen seines Sohnes, bis dieser aufwachte. Er erinnerte sich wieder, wo er war und als er die vertraute Stimme seines Vaters hörte, hielt er es erst wieder für einen Traum. Doch er war es wirklich. Sein Vater kam, um ihn zu holen. Stefan lief ihm entgegen und fiel ihm in die Arme. Ohne viel zu reden, gingen sie zurück zur Hütte. Dort saßen Ralph und dessen Vater am Lagerfeuer. Ralph war anscheinend nach seinem Sturz unversehrt aufgestanden und sofort zurück zur Hütte gegangen. Stefan hatte damit gerechnet, Ärger zu bekommen, weil er Ralph niedergestoßen und einfach abgehauen war. Doch zu Stefan`s Verwunderung hatte Ralph nichts von dem Vorfall erzählt. Auch Stefan gegenüber hatte er es nie erwähnt.

Der Ausflug blieb der letzte seiner Art. Doch kurz darauf traf Stefan Ralph wieder: die beiden kamen auf diesselbe Privatschule. Stefan gab sich größte Mühe, Ralph aus dem Weg zu gehen, was ihm auch ganz gut gelang.

Überhaupt schottete er sich immer mehr von seinen Klassenkollegen ab. Die anderen Jungen konnten nichts mit dem stillen Sonderling anfangen. Manche hatten sogar Angst vor ihm.

Bereits mit 16 begann Stefan Zauner, in die Geschäfte seines Vaters hineinzublicken. Mit 17 bekam er von seinem Vaters – seine Mutter wusste nicht davon – seine erste Kreditkarte. Stefan begann, an der Börse zu spekulieren.

Oft arbeitete Stefan auch während des Unterrichts an der Ausarbeitung von Finanzplänen, denn der Schulstoff langweilte ihn schrecklich, unterforderte ihn. Die Nachmittage verbrachte er meist im Büro seines Vaters. Er half ihm dort bei Abrechnungen und komplizierten Kalkulationen. Roman Zauner war ein Mann mit genialem Sinn für Profit versprechende Investitionen und schier grenzenlosem Ehrgeiz. Immer schon war er ein harter Arbeiter gewesen. In den 80er arbeitete er als Vertreter für Swimming-Pools; der begnadete Verkäufer erzielte hohe Provisionen. Doch irgendwann kam er an einen Punkt, da ging es nicht mehr weiter; Verdienstmöglichkeiten und Aufstiegschancen waren erschöpft. Und er wusste, seine Karriere als Verkäufer hatte ein Ablaufdatum. Denn er wollte mehr erreichen und beschloss, sich als Finanzberater selbstständig zu machen. Er bewies außerordentliches Geschick. Durch seinen Vertreter-Job hatte er eine ganze Kartei von Kontakten teils vermögender Leute, die ihm allesamt ihr Geld anvertrauten. Denn sie wussten, bei Roman Zauner war es in guten Händen. Und sie hatten Recht, denn er vermehrte es, bewies immer den richtigen Riecher. Innerhalb von ein paar Jahren hatte Roman Zauner sich einen Namen in der Branche gemacht und ein kleines Vermögen verdient. Und natürlich freute er sich später, dass sein Sohn denselben Weg einschlug. Er brachte Stefan alles bei, was er über Finanzen wusste. In ihren gemeinsamen Stunden in seinem Arbeitszimmer war er immer wieder erstaunt über den analytischen Verstand seines Sohnes. Komplizierte Renditenrechnungen, für die sein Vater Stunden brauchte, schaffte Stefan in einem Bruchteil der Zeit.

Nach Abschluss der Schule machte sich Stefan als Finanzberater selbstständig und der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Für ein Studium am Institut für International Finance in Freistadt war er somit geradezu vorbestimmt.

Am Abgrund

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