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Sechste Wahrnehmung

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Heinrich kommt die Unterbrechung nicht ungelegen. Sie gibt ihm Zeit, sich eine Vorstellung zurechtzulegen, bei der er das Gesicht wahren und den Dozenten nicht vor den Kopf stoßen muss. Und so geht er, kaum, dass sich die Tür hinter dem vom Zustand der Welt bitter enttäuschten Akademieleiter geschlossen hat, gleich in medias res.

Er heiße Heinrich Függe, 1943 in Dachau geboren, wo es die Mutter hin verschlagen habe. Sie sei Malerin gewesen, der Vater Techniker, eine ungewöhnliche Konstellation. Der frühe Tod des Vaters habe dazu geführt, dass er das Gymnasium abbrechen musste, um das Seine zum Familienunterhalt beizutragen. Ein Schritt, der ihm als wissenshungrigen jungen Menschen nicht leichtgefallen sei. Den Großteil seines Berufslebens habe er in der Privatwirtschaft zugebracht, in verschiedensten Funktionen, die längste Zeit als Abteilungsleiter. Seit gut sechs Wochen genieße er die mit dem Vorruhestand verbundenen Annehmlichkeiten. An sich eine gute Sache, denn die Pension könne nur nach vorne verlängert werden.

Aber nachdem er schon früh zu arbeiten begonnen habe und es seiner Natur widerstrebe, im Ohrensessel sitzend Denksportaufgaben zu lösen, wäre ihm bereits in den ersten Tagen des neuen Lebensabschnittes die Idee gekommen, sich in der Akademie einzuschreiben. Er wolle sein Leben Revue passieren lassen, auf das Erreichte zurückblicken, kurz, Zeugnis ablegen. Der Kurs sei ihm als passendes Instrument dazu erschienen, also habe er nicht lange gezögert und nun sei er hier.

Heinrich lehnt sich zurück. Vom Geburtsjahr und -ort abgesehen, ist das Gros seiner Ausführungen eine Aneinanderreihung von Unwahrheiten. Nicht einmal der Vorname stimmt, in Wirklichkeit heißt er Hans Maria Heinrich. Doch ist das noch der lässlichste Schwindel; denn die mit seinem Namenswechsel verbundene Geschichte ist keine, die man ohne Androhung der Folter erzählt. Mit angelegten Daumenschrauben würde er Folgendes zu Protokoll geben: Als ich in die Familie meiner Frau gekommen bin, gab es dort bereits einen Hans. Meine Schwiegermutter, damals noch meine Schwiegermutter in spe, hat befürchtet, es würde zu Verwirrungen führen, wenn man zwei Träger dieses Namens hätte. Und ihren Hans könne man wohl schlecht umbenennen, nicht nur wegen seiner älteren Rechte. So wurde ich zu Heinrich. Und blieb es, auch als der Namensvetter bald darauf verschied. Ein Versuch, wieder zu meinem angestammten Namen zurückzukehren, wurde von der Schwiegermutter mit dem Hinweis, die Erinnerung tue zu weh, abgelehnt. Zehn Jahre habe man das brave Tier gehabt, dieses Bild von einem deutschen Schäferhund. Bis heute hängt sein Foto in ihrem Ankleidezimmer. Hans von Hartenstein, bissig bis zuletzt, ein zutiefst widerliches Vieh.

Doch daran denkt Heinrich im Augenblick nicht. Er ist mit sich, dem Gesagten und seiner Positionierung gerade sehr zufrieden. Die anderen Kursteilnehmer schweigen. Andächtig, wie ihm scheint. Geschichten vom Aufstieg werden immer gerne gehört. Der Zustand währt indes nicht lange, denn an der Fensterseite wird gelacht. Die Oberstudienrätin. Sie kann also lachen, wenn auch nur heiser und bösartig. Wie eine Hyäne. „Es ist interessant – und bezeichnend“, sagt sie und fixiert ihn auf unangenehme Weise, „dass Ihre Frau mit keinem einzigen Wort Erwähnung findet.“

„Sie kennen meine Frau?“, fragt Heinrich mit mühsam verborgenem Grauen, „woher kennen Sie meine Frau?!“

„Ich kenne Isolde. Aus einem Kurs. Auch wir beide sind einander übrigens schon begegnet. Letzte Woche. In der Rahmenabteilung – erinnern Sie sich nicht?“

Heinrich beginnt zu schwitzen.

„Isolde hat viel von Ihnen erzählt. Durchaus interessante Geschichten … Sie würde Ihre Herkunft und Ihren Werdegang wohl etwas anders schildern. Nun, wir werden hoffentlich noch einiges zu hören bekommen.“

Die Oberstudienrätin lächelt. Heinrich spürt ein Gefühl der Übelkeit aufsteigen. Ihre Vorderzähne sind gelb und lang. Das Bild einer Ratte drängt sich auf.

Der Dozent wirkt mittlerweile entspannter als zuvor. Er ist froh, dass die grässliche Person von ihm abgelassen und sich in Herrn Függe verbissen hat. Hoffentlich bleibt es dabei. Das Letzte, was er brauchen kann, sind Konfrontationen – gleich welcher Natur. Dafür sind ihm die Kursteilnehmer zu gleichgültig, ist der Job zu schlecht bezahlt und sein Nervenkostüm zu dünn. Schwarzbach ist ja nicht freiwillig hier, sondern weil er das Geld braucht. Das Auto muss dringend in die Werkstatt, er ist mit der Miete und den Alimenten im Rückstand, Kleidung und Schuhwerk sind fadenscheinig und abgenutzt. Und das ist erst die Spitze des Eisbergs. Wenn er den Kernstock-Preis nicht bekommt, kann er eigentlich gleich in den Karpfenteich gehen. Nüchtern. Eine innere Stimme sagt ihm allerdings, dass er ihn nicht bekommen wird, den Preis. Er darf gar nicht daran denken.

Schwarzbachs Eröffnung ist die eines Opportunisten; er schlägt sich auf die Seite, auf der er die Macht vermutet. Die Frau Oberstudienrätin habe mit ihrer Bemerkung einen sehr wichtigen Punkt angesprochen; nämlich jenen, dass Autobiographien nur dann glaubwürdig sind, wenn sie etwas Unschönes zugeben. Denn von innen her betrachtet, sei das Leben nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Niederlagen. Der Dozent blickt erwartungsvoll in die Runde.

Das sei aber sehr negativ, meint Herma, das sehe sie nicht so. Pessimistischer Schwachsinn, sekundiert die Oberstudienrätin. Auf Ihr Leben mag das Gesagte ja zutreffen. Auf meines nicht, meint Heinrich, entschlossen, den Dozenten nun nicht mehr zu schonen.

Er habe George Orwell zitiert, sagt der Dozent.

„Dann ist es eben sozialistisch-pessimistischer Schwachsinn“, ruft die Oberstudienrätin. Die Sozis möge man dort, wo sie herkomme, gar nicht, bemerkt Herma. Heinrich sagt nichts. Er freut sich über die roten Flecken im Gesicht des Dozenten, dem in diesem Augenblick klar wird, dass es klüger gewesen wäre, eine andere Allianz einzugehen. Und da man in der Defensive immer gut beraten ist, auf Zeit zu spielen, gibt Schwarzbach seinen Feinden, denn als solche sieht er die Kursteilnehmer nun, die erste Übung bekannt.

Sie dreht sich um die Frage, wie der Stoff beschaffen sei, aus dem einer gemacht ist. Um die unmittelbaren Vorfahren. Kurz: um Vater und Mutter. Man möge mit Ersterem beginnen, einer biographischen Skizze des Vaters. Die, das betont er noch einmal, nur dann Sinn mache, wenn sie nicht geschönt sei. Als zeitlichen Rahmen schlage er dreißig Minuten vor, bei Bedarf könne gerne verlängert werden. Ob es dazu noch Fragen gebe? Nein? Sehr schön, dann könne die Arbeit ja beginnen.

Das kann sie nicht, denn die Oberstudienrätin möchte an dieser Stelle wissen, ob es patriarchalen Denkmustern geschuldet sei, dass mit dem Vater begonnen werde. Das Primat des Mannes könne und werde sie in ihrer Existenz als Frau nicht akzeptieren. Schwarzbach entgegnet, das sei mitnichten der Fall, sie könne auch gerne mit der Mutter der Ratte anfangen. Nur komme man bei Säugetieren um den Vater gemeinhin nicht herum, dem Vater entrinne man nicht. Eine Problematik, die seines Wissens auch vom Feminismus noch nicht befriedigend gelöst worden sei. Wobei ihm durchaus bewusst sei, dass es in Gottes wundersamer Natur Lebewesen gebe, die sich ohne männlichen Samen fortpflanzen. Wenn er sich recht erinnere, nenne man dieses Phänomen Parthenogenese, es komme bei Blattläusen, Wasserflöhen und Fadenwürmern vor. Allesamt Tiere, die im Kinderbuchsektor stark unterrepräsentiert seien. Dies nur zur Anregung, und nun wünsche er ein frohes Schaffen.

Zwei der drei Teilnehmer haben Schwarzbachs gute Wünsche und den ihnen vorausgegangenen naturwissenschaftlichen Exkurs zur Jungfernzeugung gar nicht mehr gehört. Sie arbeiten bereits. Analog zum Pawlow’schen Hund, der auf den Klang der Glocke mit verstärktem Speichelfluss reagiert, sind bei Herma und Heinrich Schreibreflexe aktiviert worden, als die Worte dem Vater entrinne man nicht fielen. Es hat seine Gründe. Der Ankündigung der Oberstudienrätin, diese Frechheiten nicht hinnehmen zu wollen, begegnet Schwarzbach gestisch, indem er den Finger an die Lippen legt und auf die beiden Schreibenden deutet.

Und tatsächlich wäre es eine Sünde, die beiden zu stören, denn hier bricht sich lang Aufgestautes Bahn. Es ist eine Freude, zu sehen, mit welcher Schnelligkeit sich das Papier mit Worten bedeckt, eine Freude, in die sich im Falle des Dozenten auch ein wenig Neid mischt. Denn Schwarzbach ist ein ringender Autor, einer, der seine Texte nur unter Schmerzen gebiert. Mit leisem Seufzen öffnet er den Klapprechner, um sich dem eigenen Werk zu widmen.

Es herrscht tiefer Frieden. Alles fließt. Herma und Heinrich füllen Seite um Seite, was die Oberstudienrätin macht, ist nicht ganz ersichtlich. Jedenfalls raschelt sie in ihren Papieren, was sich harmonisch in die Rattenthematik einfügt. Und doch ist nicht alles so, wie es sein sollte. Der Dozent ist unzufrieden. Er starrt auf den Bildschirm, auf dem ein einsamer Satz geschrieben steht. Der Satz ist nicht so, wie er sein sollte. Der erste Satz aber entscheidet über das Schicksal eines Buches. Er hat eine Schlepperfunktion, soll den Leser in den Text hineinziehen wie in einen Strudel. Geht man in eine Buchhandlung und beobachtet die Leute, so fällt auf, dass praktisch jeder mit der ersten Seite beginnt. Folglich steht und fällt alles mit dem Beginn. Das ist das Wesen erfolgreicher Literatur. Später kann es dann schwächer werden.

So oder so ähnlich hätte es Schwarzbach den Kursteilnehmern erklärt, wenn er dazu eine Gelegenheit gehabt hätte. Sein eigener Anfang ist jedenfalls ein Dreck. Es bedürfte eines anderen Einstiegs, um weiterschreiben zu können, aber welchem? Ihm fällt nichts ein.

Die vorgegebene Zeit ist längst um. An sich hätte er vor zwanzig Minuten unterbrechen und nach der Notwendigkeit einer Verlängerung fragen müssen. Doch wäre es töricht gewesen, die Ruhe der Kampfpause zu stören. Auf der anderen Seite ist es sinnlos, weiter in den Laptop zu starren. Und so ist Schwarzbach erleichtert, als es an der Tür klopft, der Akademieleiter, ohne auf ein „Herein!“ zu warten, eintritt und die Herrschaften dringend ersucht, zum Mittagessen zu kommen.

Die Bitte wird von den Kursteilnehmern schlecht aufgenommen, sie sind über die Störung ungehalten. Herma und Heinrich, weil sie mit der Bannung des väterlichen Dämons noch lange nicht fertig sind, die Oberstudienrätin, weil sie sich bei der Mischung der idealen Fellfarbe ihrer Ratte kurz vor dem Durchbruch wähnt. Sie ist es auch, die ihrem Unmut Luft macht.

Sie sehe nicht ein, sagt sie mit schneidender Stimme, weshalb man als zahlender Gast eines Hauses, das mit Achtsamkeitsversprechen gegenüber schöpferischer Menschen Werbung mache, an strikte Essenszeiten gebunden sei. Der Akademieleiter zeigt sich unbeeindruckt. Es sei kurz nach eins, sagt er, mit dem Finger gegen das Glas seiner Armbanduhr tippend, höchste Zeit, die Küche nehme nach halb keine Bestellungen mehr entgegen. Er könne auch nichts machen, der Schwager des Kochs sei bei der Gewerkschaft, und wenn zu essen gewünscht werde, dann wäre man gut beraten, sich Richtung Speisesaal zu begeben.

Die Oberstudienrätin ist noch nicht fertig. Den tropfenden Pinsel wie eine Waffe gegen Ördög gerichtet, erklärt sie, dass sie sich in dieser Hinsicht ein höheres Maß an Flexibilität erwarte. Andernfalls werde man eben woanders zu Mittag essen. Das glaube er nicht, meint der Leiter. Im vergangenen Jahr habe der Schwarze Bär zugesperrt und der Besitzer der Goldenen Sense … aber das sei kein Essensthema. Jedenfalls gebe es in der näheren Umgebung keine Wirtshäuser mehr, in denen noch warm ausgekocht werde. Selbst die Option auf eine Packung Kekse im Gemischtwarenladen des Dorfes falle flach, weil dieser heute Nachmittag geschlossen habe.

Im Übrigen seien Herrn Schwarzbach die Essenszeiten bekannt gegeben worden. Die Dozenten der beiden anderen Kurse seien mit ihren Teilnehmern auch zur gegebenen Zeit erschienen – alles eine Frage der Einteilung. Dies nur zur Information und der Vollständigkeit halber, und jetzt wäre man gut beraten, sich zu sputen, wenn man daran interessiert sei, vor dem Abendessen noch etwas zu sich zu nehmen.

Die Natur der Dinge

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