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Achte Wahrnehmung

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Heinrich sitzt im Seminarraum. Er ist allein, seine Gedanken kreisen um Herma. Er findet, dass ihr etwas Königliches innewohnt. Wobei es das Wort königlich nicht trifft. Frei wäre der richtige Ausdruck. Der Auftritt eines freien Menschen. Solche sind ihm im Leben nicht viele begegnet. Normalerweise bewegt man sich ja als Knecht unter Knechten. Wenige nur sind Herr. Und nach dem, was er bisher von ihr gehört hat, muss auch sie die längste Zeit Magd gewesen sein. Man kann von ihr lernen. Vielleicht …

Seine Überlegungen werden von der eintretenden Oberstudienrätin gestört. Sie bebt vor Empörung, sagt, sie sehe nicht ein, wie sie dazu komme, sich dieser schrecklichen Person auszusetzen. Dabei habe sie durchaus Sinn für Humor – solange er die Grenzen des guten Geschmacks nicht verletze. Genau das sei aber geschehen, und als praktizierende Christin könne sie nicht umhin, Konsequenzen zu ziehen. Doch wird Heinrich, der kurz davor steht, ihr zu sagen, dass sie selbst eine grässliche Person sei, nicht erfahren, von welcher Art die zu ziehenden Konsequenzen sind. Denn in diesem Augenblick öffnet der Dozent galant die Tür und Herma tritt, fröhlich vor sich hin plaudernd, in den Raum. Sie trägt ein anderes Dirndl, auch Schwarzbach hat sich frisch gemacht. Oder zumindest mit einem nassen Tuch auf seinem Hemd herumgerieben.

„Ich möchte mich“, sagt er, wobei er sich räuspert, „für die Hilfe von vorhin bedanken. Es war wirklich sehr … äh … aufmerksam. Danke. So. Wir waren bei der ersten Übung. Benötigen Sie dafür noch Zeit?“ Herma und Heinrich bejahen. Die Oberstudienrätin schweigt verbissen. Ihr Mund ist ein Strich.

„Ja, dann viel Glück. Väter sind immer ein schwieriges Kapitel.“

Heinrich nickt. Das sind sie in der Tat. Es gibt etliche Kerben in seiner Biographie, aber kaum eine ist so tief wie jene, die ihr sein Vater beigebracht hat. Der Mann ist vergleichsweise spät in sein Leben getreten. So hat er sich die eine oder andere Erinnerung an die Zeit davor bewahren können. Die freilich auch nicht besonders gut gewesen ist. Nachkriegszeit eben, verschärft durch die Gegenwart der Mutter, eine alles andere als unbeschwerte, heitere, lebensbejahende Existenz. Aber das gehört in ein anderes Kapitel.

Wenn auch vieles wie in einem grauen Nebel verschwunden ist, an die erste Begegnung mit dem Vater kann er sich in einer Klarheit erinnern, die fast schmerzt. Wobei man das Adverb streichen kann. Dem Auftauchen des Vaters war eine schlecht vertuschte Unruhe der Mutter vorausgegangen. Sie war nervös, hatte noch mehr geseufzt als sonst. Die Ursache, eine stark verschmutzte Korrespondenzkarte, steckte im Rahmen des Vorzimmerspiegels. Sie kündigte die Rückkehr eines Mannes an, der noch vor Ende des Krieges aus ihrem Leben verschwunden war. Ein Verschwinden, das nicht als Verlust empfunden worden war; im Gegensatz zum allgemeinen Brauch hatte die Mutter für seine glückliche Heimkehr aus der Sowjetunion nie eine Kerze ins Fenster gestellt.

Auf der Karte war kein genaues Datum angegeben, nur das unheilvolle Wort demnächst. Demnächst werde ich kommen, hatte der Vater geschrieben, in seiner pedantischen Handschrift, die in merkwürdigem Kontrast zum verdreckten Aussehen des Papiers stand, bereite alles für meine Rückkehr vor.

Doch geschah nichts dergleichen. Die Mutter änderte lediglich ihre Lesegewohnheiten. Sie begann die Zeitungslektüre nicht mehr mit dem Kulturteil, sondern mit der Liste der heimkehrenden Kriegsgefangenen. Gott sei Dank, murmelte sie, wenn der Name des Vaters nicht aufschien, Gott sei Dank, vielleicht … Sie führte den Gedanken nie aus. Doch eines Tages, ganz ohne weitere Vorankündigung, stand er plötzlich vor der Tür. Heinrich, damals noch Hans, war allein zu Hause, als es läutete. Es war die Zeit, zu der die Mutter von der Arbeit zu kommen pflegte. Er öffnete, ohne zu fragen, und bereute es augenblicklich. Vor ihm stand ein Mann, wie er noch keinen gesehen hatte. Sein Gesicht war widernatürlich bleich und von dunklen Flecken entstellt. Wie ein schwarz marmorierter Schimmelkäse. Das erste Bild, das sich dem Knaben in den Kopf schob, war das einer missglückten Maori-Tätowierung. Er musste wohl gerade etwas über die Reisen von James Cook gelesen haben.

Er starrte den schäbig Gekleideten, der ihm wie der Leibhaftige vorkam, an. Der Mann starrte zurück. Nach einer Zeit, die ihm sehr lange vorkam, öffnete dieser den Mund: „Nun?“

Es dauerte, bis Hans eine Antwort einfiel. Er überlegte, was die Mutter in dieser Situation tun würde. Sie pflegte Bettlern, Vertretern, Männern generell die Tür zu weisen. So sagte er den Satz, den er immer und immer wieder von seiner Mutter gehört hatte: „Wir geben nichts.“

Die Augen des Fremden bekamen einen glosenden Ausdruck. Hans hatte Angst. Er wollte die Tür schließen, wagte es aber nicht. Der Mann starrte ihn weiterhin unverwandt an.

„Tatsächlich“, fragte er schließlich, „bist du dir da ganz sicher?“ Das Kind senkte den Blick.

„Wenn man“, fuhr der Mann fort, „seine Sachen genau durchgeht, dann findet sich manchmal etwas, das nicht mehr gebraucht wird. Lass dir dabei helfen, zu zweit sieht man mehr.“

Mit diesen Worten betrat er die Wohnung, wobei er Hans beiseiteschob. Der stolperte sprachlos hinter dem Mann her, der, Unverständliches vor sich hinmurmelnd, von Raum zu Raum ging, Kastentüren öffnete, Schubladen aufzog, ihnen Dinge entnahm, sie betrachtete und wieder zurücklegte. In der Küchenkredenz fand er eine Packung Zigaretten, drehte und wendete sie stirnrunzelnd, als wäre eine geheime Botschaft darauf geschrieben, wandte sich endlich an den Knaben, den er mit unheilschwangerer Stimme fragte: „Wer raucht hier?“

Es gab einen Mann, dem die Mutter die Tür nicht wies. Das war Onkel Gustav, genannt Gustl, der seit zwei Jahren bei ihnen verkehrte. Seit die Unglücksbotschaft von der väterlichen Rückkehr ins Haus gekommen war, hatte er sich allerdings nicht mehr blicken lassen. Hans war nicht unfroh darüber gewesen. Er mochte den Onkel, der die Angewohnheit hatte, ihn mit Malzzucker zu beschenken, nicht. Es lag weniger am Malzzucker als an der Verabreichung der Gabe, die mit tabakgebeizten Fingern tiefer als nötig in den Mund gesteckt wurde. Es grauste ihn, wenn er nur daran dachte. Jetzt freilich hätte Hans einiges darum gegeben, wenn der Gustl hier gewesen wäre.

„Ich habe dich etwas gefragt!“, fuhr ihn der Fremde an, „wird’s bald?!“ Hans begann zu weinen. Der Mann ging wütend auf und ab. „Rauchen auch noch! Mit zwölf! Ich sage dir, wenn ich dich ein einziges Mal mit einer Zigarette erwische, dann setzt es was! Hast du mich verstanden?!“

Hans nickte schluchzend.

„Ich höre nichts!“

Das Kind brachte ein ersticktes „Ja“ heraus.

„Dann ist es ja gut. Und in Zukunft sagst du nicht Ja, sondern?“ Das Kind sah ihn mit verständnislosen, angstgeweiteten Augen an.

„Du sagst: Ja, Vater! Wiederhole es!“

„Ja. Vater.“

„Na also. Geht doch! Und jetzt zeigst du mir dein letztes Zeugnis und die Schulhefte!

Sie waren bei Mathematik, als die Mutter heimkam. Die Fächer Deutsch, Erdkunde und Physik hatten sie bereits hinter sich. „Das kann nicht wahr sein, so begrenzt können die Fähigkeiten eines Gymnasiasten doch gar nicht sein!“, hatte der Mann, den er Vater nennen musste, bei jedem Gegenstand gesagt.

Vater. Hans brachte das Wort nur mit Würgen heraus.

Die Natur der Dinge

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