Читать книгу Die Natur der Dinge - Georg Thiel - Страница 6
Erste Wahrnehmung
ОглавлениеWerfen wir einen Blick auf den Mann, der sich unserer Wahrnehmung nun nicht mehr entzieht. Sein Name ist Heinrich, er steht stark in den Fünfzigern. Zumindest wirkt er so. Zumindest wird er so gerufen.
Der Mann hat sich nie unwohler gefühlt, niemals einer schrecklicheren Feier beigewohnt. Das Ambiente: trist, die Gäste: wie Schatten aus der Unterwelt. Wenn es nach ihm ginge, wäre er weit weg. Überall sonst, nur nicht hier. Was ein Wunsch bleiben muss, weil er Anlass und Mittelpunkt dieses freudlosen Festes ist.
Nicht weit entfernt hat die Schwiegermutter Position bezogen. Sie sitzt im Rollstuhl, was ihrer Gefährlichkeit keinen Abbruch tut. Der Rollstuhl, weiß Heinrich, ist lediglich ein Requisit, um Hilflosigkeit vorzutäuschen. In Wirklichkeit ist sie nicht darauf angewiesen. Würde man behaupten, dass sie den um ihren Hals hängenden einäugigen Fuchs eigenhändig erschlagen hat, würde es geglaubt werden. Aktuell unterhält sie sich mit Blochin, einer unangenehmen Person. Vielleicht liegt es an seinen vorstehenden, rot geränderten Krötenaugen? Ihrer angewiderten Miene nach zu urteilen, dreht sich das Gespräch um Heinrich. Blochin mustert ihn mit Hohn. Es liegt nicht nur an den Augen.
Heinrichs Frau gesellt sich dazu. Entsetzlich, wie Isolde heute wieder aussieht. Sack und Asche.
Das Krötenauge stellt Fragen, nickt, grinst. Dann geht ein Engel durch den Raum, das Hadesgemurmel erstirbt, und in die plötzliche Stille hinein hört man die Worte: „Er hat ja nicht einmal ein Stück Brot besessen, wie er zu uns gekommen ist! Wie ein Flüchtling!“
„Mehr noch hat sich Mama daran gestoßen, dass er anfangs nicht gesellschaftsfähig war“, sekundiert Isolde.
Heinrich verspürt einen Stich. Er muss hier raus. Gleich wird das Krötenauge mit der Ansprache beginnen. Sie wird, daran zweifelt er keinen Augenblick, von brillanter Niedertracht sein, und ihm und dem Abend den Rest geben.
Die Befürchtung ist kaum zu Ende gedacht, da klopft der Redner auch schon gegen sein Glas. Es sei ihm, erklärt er, die schöne Aufgabe zugefallen, ein paar Worte zu diesem erfreulichen Anlass zu sprechen. Wobei er das Wort erfreulich durchaus mit Bedacht gewählt habe. Denn wenn er sich so umhöre, komme er nicht umhin, die Biographie des Jubilars als eine Geschichte des Erfolgs zu werten. Eine Erfolgsgeschichte, die umso erstaunlicher sei, wenn man die desolaten Verhältnisse bedenkt, in denen unser lieber Heinrich groß geworden ist! Aber er habe alles tadellos richtig gemacht; sowohl privat als auch beruflich. In eine alteingesessene Familie eingeheiratet. In eine renommierte Firma eingetreten. Dass ihm dort niemals eine wichtige Aufgabe gestellt wurde, sei ihm nicht vorzuwerfen. Wie er eine solche gelöst haben würde, könne man nicht wissen.
Der Jubilar registriert, dass die Summe der Befindlichkeitsstörungen, die sich seiner bemächtigt haben, mittlerweile beträchtlich ist. Übelkeit, ein Zucken, das die linke Gesichtshälfte erfasst hat, Schweißausbruch.
Eben gesellt sich Harndrang hinzu. Es wird nicht mehr lange dauern, bis der Kontrollverlust ein totaler ist.
Das Beste, was ihm in seiner jetzigen Situation widerfahren könnte, wäre eine gnädige Ohnmacht. Es würde die Rede abkürzen.
Und wirklich, ein Gott hat Erbarmen. Heinrich sackt zusammen. In dem Moment, in dem er auf dem Boden aufschlägt, schreckt er aus dem Schlaf.