Читать книгу Die Natur der Dinge - Georg Thiel - Страница 7
Zweite Wahrnehmung
ОглавлениеSechs Wochen sind seit dem Traum vergangen, der den Schlaf des Mannes so empfindlich gestört hat. Das war in der Nacht vor dem Vorruhestand. Man kennt hoffnungsvollere Passagen des Übergangs. Der – wie fast alle Übergänge – nicht reibungslos vonstattengegangen ist. Die innerfamiliären Spannungen sind gewachsen. Plötzlich sitzt der Mann die meiste Zeit in seinem Zimmer. Man bekommt ihn nur selten zu Gesicht, aber die bloße Anwesenheit irritiert. Man war gewohnt, dass er acht, neun Stunden des Tages außer Haus verbrachte. Man muss dem Mann Wege in die außerhäusliche Beschäftigung weisen. Es muss etwas geschehen. Dringend. Es fragt sich nur was.
Ansonsten vollzieht sich die Wandlung zum Ruheständler kaum merklich. Heinrich hat die Angewohnheit, die Tage in Anzug und Krawatte zu verbringen, noch nicht abgelegt. Abzüglich der Füße, die in löchrigen Hausschuhen stecken, ist der äußere Eindruck tadellos. Im Lehnstuhl des sogenannten Herrenzimmers, in dem er sich eben mit der Zeitung niedergelassen hat, hat er nicht immer gesessen. Hier war der Platz seines Schwiegervaters. Es hat lange gedauert, bis Herr Gründler den Stuhl geräumt hat. Der Schwiegervater war zäh. Das muss man in dieser Familie auch sein.
Das Möbel ist verschlissen und unbequem, doch geht es um … was genau, weiß er eigentlich selbst nicht. Um eine Botschaft vielleicht. Eine kaiserliche Botschaft. Zumindest ist es nicht wahrscheinlich, dass sie bei denen, an die sie gerichtet ist, ankommen wird.
Die Zeitungslektüre beginnt Heinrich bei den Konflikten. Mit Waffen ausgetragene, schwelende, drohende; die beigelegten werden nur mehr überflogen. Immer in dieser Reihenfolge, das hat er lange so gehalten. Es hat mit seinem ehemaligen Beruf zu tun. Es passt auch zu seinem Privatleben; abzüglich der mit Waffen ausgetragenen und der beigelegten.
Danach widmet sich Heinrich den Ressorts Innenpolitik und Wirtschaft. Zuletzt das Feuilleton, niemals Sport. Sport ist etwas für Plebejer, hatte der Alte gesagt. Den Alten wird er auch nicht mehr los. Die Seite mit dem Sudoku, das er gerne lösen würde, ist immer herausgerissen, wenn ihm die Zeitung ausgehändigt wird. Sie ist dann schon durch die Hände von Schwiegermutter und Frau gegangen und weist Frühstücksspuren auf. Quittengelee von der Schwiegermutter, grauer Hildegard-von-Bingen-Brei von der Frau. Früher gab es auch noch die Fettflecken vom Schwiegervater, doch wird seit seinem Tod kein Frühstücksspeck mehr zubereitet. Eine Verbesserung, wenn man so will.
An manchen Tagen wünscht sich Heinrich, dass als Nächstes das Quittengelee verschwindet, an anderen der Brei. Die Bilanz der Verwünschungen ist ziemlich ausgewogen. Im Innersten zweifelt er daran, es zu erleben. Nicht einmal die Quitten, denkt er, wenn er düster gestimmt ist. Über solchen Überlegungen sind die Blätter wieder in ihre richtige Reihenfolge gebracht, ein erster Überblick gewonnen. Die Morgenlektüre, und mit ihr der erfüllteste Teil des Tages, kann beginnen.
Leider sind Störungen häufig. Heute schon beim ersten Absatz des ersten Artikels. Es wäre um die Offensive der Mauretanier in Subsahara gegangen. Auch sie ist stecken geblieben.
Heinrich lässt die Zeitung sinken, als er seinen Namen hört. Es würde den Konflikt nur vertiefen, wenn er nicht reagierte. Das Aufstehen gerät zu keinem Akt der Levitation. Heinrich schlurft zwei Zimmer weiter. Das ist neu. In der Rolle als Pensionär macht er Fortschritte.
Die Störungsgründe sind immer lächerlicher Natur. Diesmal ist es ein Braunton, der dringend benötigt wird. Kein Haarfärbemittel, das hätte im Fall Isoldes die Tönung ranziger Butter. Es geht um Jod- oder Tundra- oder Sudanbraun. Er wird es, kaum, dass es ausgesprochen ist, schon wieder vergessen haben. Das Braun ist nur in einem sogenannten Künstlerbedarfsgeschäft erhältlich, das am anderen Ende der Stadt liegt. Er wird gebraucht, er ist der Einzige, der einen Führerschein hat. Einer der Gründe, warum ihn diese Familie noch nicht umgebracht hat. Vorläufig.