Читать книгу Die Natur der Dinge - Georg Thiel - Страница 12
Siebente Wahrnehmung
ОглавлениеHeinrich fühlt sich in die Sage des Rattenfängers von Hameln versetzt. Das liegt an Ördög, der, zufrieden das Torerolied vor sich hin pfeifend, die Gruppe anführt. Hinter ihm, den Kopf leicht außerhalb des Taktes wiegend, geht der Dozent. Er macht trotz der erlittenen Demütigung keinen geknickten Eindruck. Vielmehr steht Schwarzbach die Gratismenüvorfreude ins Gesicht geschrieben – er ist wirklich sehr hungrig. Ihm folgt Herma, geistig abwesend, das Schreibheft gegen den Solarplexus gepresst, in Gedanken noch ganz bei ihrem Vater. Gefolgt von der Oberstudienrätin, die ihre riesigen, in Ballerinen steckenden Füße voll Ingrimm auf den Boden setzt. Was Heinrich, der den Zug beschließt, an Feuerpatschen erinnert, die gegen einen Brand zum Einsatz kommen, der nicht mehr zu löschen ist.
Im Speisesaal sitzen die beiden anderen Gruppen tatsächlich schon bei Tisch. Dem ausnahmslos aus Damen bestehenden Aquarellkurs wird bereits die Hauptspeise serviert. Eine der Teilnehmerinnen kennt und grüßt die Oberstudienrätin. Sie heißt Raphaela. Die ausschließlich aus Männern bestehende Gruppe des Moduls Holzskulptur mit der Kettensäge ist noch bei der Suppe. Die neben den Herren stehenden Biergläser sind fast leer, und man erfasst rein intuitiv, dass die zweite Runde noch vor der Hauptspeise serviert werden wird.
Ördög platziert die Schreiber an einem Katzentisch beim Eingang. Dieser, wie auch das Essen selbst, bieten Anlass zur Klage. Der Platz sei zugig, die Suppe versalzen, der Salat mit zu viel Essig angemacht. Auch der Hauptspeise ist es nicht gegeben, die Gemüter zu besänftigen. Zwar ist der Karpfen geschröpft, aber lauwarm, desgleichen die Flensburger Laibchen der Oberstudienrätin. Die Situation ist nahe davor, zu eskalieren, als Schwarzbach eine Gräte in den Hals gerät und er gotterbärmlich zu husten beginnt. Man ist bemüht, zu helfen; Heinrich formt und reicht ihm ein zu einer Kugel geformtes Stück Brot, nötigt ihn, als das nichts hilft, Salatmarinade zu trinken. Schwarzbach hustet weiter, worauf Herma beginnt, ihm auf den Rücken zu schlagen. Dabei erzählt sie, dass man in ihrer Jugend in Achleithen in solchen Fällen den Heiligen Nikolaus angerufen habe, damals sei man am Land eben noch sehr abergläubisch gewesen.
Und wirklich gibt Schwarzbach kurz darauf mit einem Schwall das marinierte Brot, die Gräte und etwas Fisch von sich. Eine vollkommen desinteressierte Servierkraft erscheint und fragt, ob die Herrschaften noch eine Nachspeise wünschen. Doch niemand hat Lust auf ein Dessert. Der Dozent bedeckt sein Missgeschick mit einer Serviette. Er ist im Begriff, sich stammelnd für das Geschehene zu entschuldigen, als Herma in ein schallendes Gelächter ausbricht. Es ist ein homerisches, alles durchdringendes Lachen. Die Aquarellistinnen werfen indignierte, die Skulpteure glasig-erstaunte Blicke zum Katzentisch. Und Herma lacht weiter, die Tränen rinnen ihr hinunter. Die Oberstudienrätin ist peinlich berührt, desgleichen der Dozent, der freilich auch froh ist, nur noch im Zentrum, aber nicht mehr im Epizentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.
„Ich mach mich gleich an!“, kreischt Herma, deren Zwerchfell schon ganz wund sein muss. Die Skulpteure, von denen manche schon beim dritten Bier angelangt sind, fallen dumpf in das Gelächter ein. Vom Aquarellistinnen-Tisch ertönen „Zahlen!“-Rufe. Sie verhallen ungehört. Herma, am Ende ihrer Kräfte, wischt sich mit der Dirndlschürze über das Gesicht. Ördög kommt aus einem Nebenraum gehastet. Der Serviette nach zu schließen, die in der Kragenöffnung steckt, ist er beim Genuss der Jagdsuppe gestört worden. Die Zahlen! Rufe werden schriller. Ördög brüllt nach den Servierkräften. Das Gelächter der Biertrinker verebbt. Es ist plötzlich ganz still. Und dann hört man Herma sagen, es tue ihr leid, aber sie habe an etwas Komisches denken müssen, an die Bibelstelle von der Speisung der Fünftausend am See Genezareth nämlich. Die Geschichte mit den fünf Broten und den zwei Fischen, von denen alle satt geworden wären. Ihr sei der Gedanke gekommen, dass damals Ähnliches geschehen sein müsse wie gerade eben. Etwas, das dazu geführt habe, dass keiner der Fünftausend noch Appetit hatte. Apropos. Herma blickt an sich herunter. Jetzt müsse sie sich kurz entschuldigen. Manche Überlegungen bestrafe der Herr sofort. Das sei natürlich ein Scherz. Nach einem Leben mit zwölf Schwangerschaften könne so etwas mit achtzig schon einmal passieren. Das sei ja kein Wunder. Genau wie die Brotvermehrung. Sie lacht, als sie aufsteht und geht.