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Vierte Wahrnehmung

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Was ihre Mutter sagt, denkt und will, ist auf der Rückfahrt, die aufgrund von Verkehrsbehinderungen noch länger dauert als die Hinfahrt, das beherrschende Thema: Es gibt Neuigkeiten. Sie sind schlecht. Mama hat beim Frühstück gemeint, sie fühle sich so beweglich wie schon lange nicht. Der in Erwägung gezogene Kuraufenthalt werde Erwägung bleiben. Gleichwohl müsse man sich für alle Eventualitäten wappnen, weshalb sie sich zum Einbau eines Treppenliftes entschlossen habe.

Nicht zuletzt wegen der Hunde, die dann nicht mehr in den Garten getragen werden müssten. Auf Heinrich sei in dieser Hinsicht ja kein Verlass, er lasse Cupido und Psyche immer die Treppen laufen, wenn er sich unbeobachtet fühle. Obwohl er genau wisse, dass Dackel zu Lähmungserscheinungen neigen, wenn man sie Stufen steigen lasse.

Darauf gibt es nichts zu erwidern. Die Vorwürfe treffen zu. Er mag keine Hunde. Weder ihren Geruch noch ihr Bellen noch ihre Angewohnheit sich im Alter mit gelähmten Hinterläufen auf dem Teppich zu entleeren.

Ein Treppenlift also. Die Montage wird nicht ohne Schmutz und Lärmentwicklung vonstattengehen. Ganz zu schweigen von den Kosten.

Viel schwerer wiegt freilich der Mobilitätsgewinn der Schwiegermutter. Seit ihrem Sturz vor drei Jahren ist der zu ihrer Wohnung führende Aufgang eine Art natürliche Barrikade. Heinrich findet, dass in der Hüftfraktur eine göttliche Gnade lag, denn allein hat sie den Abstieg danach kaum noch gewagt. Wenn sie etwas will, pflegt sie seither mit dem Stock auf den Boden zu klopfen. Wird ihrer Ansicht nach nicht schnell genug reagiert, schlägt sie gegen die Heizungsrohre. Das ist zwar lästig, aber immer noch besser als ihr bis dahin praktiziertes, unangemeldetes Auftauchen. Es wird wieder in diese Richtung gehen. Es ist …

Hinter ihm hupen Autos. „Es ist grün! Wieso fährst du denn nicht?! Ja, so fahr doch schon! Also wirklich!“

Heinrich fährt.

Der Kübel an Verdrießlichkeiten ist noch nicht vollends ausgeleert. Um den Treppenlift montieren zu können, wird man nicht umhinkommen, den Wandschmuck zu entfernen. Neben Zeugnissen von Isoldes bildendem Unvermögen besteht dieser aus Jagdtrophäen des Schwiegervaters. Heinrichs Frage, wo all die Spießer, Gabler, Sechs-, Acht- und sonstige Ender hinkommen werden, bleibt unbeantwortet. Das verheißt nichts Gutes für sein Zimmer. Wiewohl er sich zwischen all den Krickln, Geweihen und Präparaten nicht einmal schlecht machen würde. Denn in gewisser Hinsicht ist auch er bereits tot.

Tags darauf ist er von Schwiegermutter und Frau zum Frühstück vorgeladen. Kurz überlegt er, sich mit Unwohlsein zu entschuldigen, lässt es aber bleiben. Vielleicht ist sein Refugium ja doch noch zu retten.

Als er die Etage der Schwiegermutter betritt, beginnen die Hunde zu knurren. Die Frühstückstafel ist frugal, es gibt nichts, was Heinrichs Gaumen locken würde. An seinem Platz steht eine Schale mit Hildegard-von-Bingen-Brei, in den er etwas Quittengelee rührt. Gegessen wird schweigend. Dann ergreift die Schwiegermutter das Wort. Heinrich wisse ja, dass Unannehmlichkeiten ins Haus stünden, bauliche Maßnahmen, an denen er nicht ganz unschuldig sei, nein, er solle nicht widersprechen. Die Handwerker seien bereits bestellt. Das Letzte, was man beim Umbau brauche, sei ein jammernder, im Weg herumstehender Mann. Das gehe nicht an, also werde Heinrich für ein paar Tage verreisen. Man wisse auch schon wohin. Es habe sich eine ausgezeichnete Möglichkeit aufgetan: Heinrich kenne doch die Akademie, in der Isolde all die wunderbaren Kurse belegt habe? Nun, mit der gestrigen Post sei ein Gutschein für einen Gratiskurs gekommen. Den sie, nach Rücksprache mit ihr, Heinrich zur Verfügung stelle. Was er dazu sage?

Er male nicht, sagt Heinrich.

Das sei bekannt. Doch gebe es eine Fülle von Angeboten, von Möbelrestaurierung über Herrgottschnitzen bis hin zur Portraitphotographie. Es werde sich etwas finden.

„Ich …“, sagt Heinrich.

„Du brauchst dich nicht zu bedanken.“ Die Schwiegermutter streckt ihm die knochige, immer etwas klebrige Hand zum Kuss entgegen. Es schmerzt; sie trägt den Ring mit dem schartigen Stein, den sie gegen die Lippen des Schwiegersohnes presst. Die Audienz ist beendet.

Zum Abschied wird ihm die Zeitung ausgehändigt. Sie ist dicker als sonst, da ihr der Veranstaltungskatalog beigelegt ist. Heinrich verbeugt sich, ehe er geht.

Sein Zimmer ist an diesem Morgen nicht zur Sprache gekommen.

Die Natur der Dinge

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