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Sich dem Zeitgeist stellen

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Der evangelikale Katholizismus bekennt, dass die Menschheit von Jesus, Marias Sohn, das Gefäß der Inkarnation des Sohnes Gottes ist. Ebenso bekennt der evangelikale Katholizismus, dass die außergewöhnliche Gnade Gottes durch die gewöhnlichen Substanzen des Lebens – die Substanzen der sieben Sakramente: Brot, Wein, Öl und Wasser – in die Geschichte eintritt, die Freunde Jesu nährt und sie in ihrer missionarischen Jüngerschaft stärkt. Diese katholische Sakramentalität, diese sakramentale Vorstellung von der Welt, ist eines der kulturellen Erkennungsmerkmale des evangelikalen Katholizismus im 21. Jahrhundert und eine der schärfsten Herausforderungen der Kirche an den Zeitgeist – einen »Geist«, auf den die schlichten katechetischen Formeln und Frömmigkeitspraktiken des gegenreformatorischen Katholizismus nicht wirkungsvoll hatten antworten können.

Dieser »Geist« ist, um es mit zwei technischen Begriffen zu sagen, gnostisch und antimetaphysisch.

Die späte Moderne und die Postmoderne haben – auf kultureller Ebene – den Gnostizismus machtvoll wiederaufleben sehen, die älteste aller Irrlehren, die die Gutheit der Schöpfung leugnet und nicht in der Geschichte und der Erfüllung der Geschichte, sondern außerhalb der geschichtlichen und materiellen Welt nach Erlösung sucht. In seiner aktuellen Spielart verkündet der Gnostizismus des 21. Jahrhunderts die uneingeschränkte Formbarkeit des Menschseins: Bei Männern und Frauen ist nichts, nicht einmal ihr Geschlecht, gegeben; alles ist wandelbar; alles lässt sich verändern, um die Wünsche des alles beherrschenden autonomen Selbst zu erfüllen (oder seine »Bedürfnisse« zu befriedigen, wie es in der Regel heißt). Und auch in der Gesellschaft gibt es nichts, das vorgegeben wäre. Im Hinblick auf die Ehe zum Beispiel ist nichts vorgegeben; »Ehe« – und natürlich auch »Familie« – kann jede gewünschte Bedeutung haben.

Der Zusammenbruch jedweder kulturell überkommenen Vorstellung von einer tiefen, in die Welt und in die Menschen hineingelegten Wahrheit kennzeichnet die späte Moderne und Postmoderne: eine Wahrheit, die wir (unvollständig, aber unzweifelhaft) mit den Mitteln unseres Verstandes erfassen können. Dieser Zusammenbruch wurde im 18. Jahrhundert durch die von David Hume und Immanuel Kant geübte Kritik an der klassischen und mittelalterlichen Metaphysik vorbereitet: eine Kritik, die mit der Zeit (und ungeachtet dessen, was Hume und Kant eigentlich beabsichtigt hatten) die Überzeugung der westlichen Welt untergrub, wonach das Leben und damit auch die Geschichte zweckorientiert sind. Die Welt bot nun einen unerschöpflichen Vorrat an potenziellen Bedeutungen, doch diese Bedeutungen waren auf keinerlei Zweck hingeordnet. Folgerichtig setzte man die individuelle Freiheit mit der Maximierung der möglichen Mittel gleich. Was aber rechtfertigt diese Mittel, wenn sie nicht durch ihren Zweck gerechtfertigt werden, nämlich das Gute, das von Gesellschaften und Individuen angestrebt werden soll? Ohne eine Vorstellung vom »Zweck« – den guten Dingen, die wir erstreben sollten, weil wir sie als gut erkennen können – sind die Mittel Trumpf. Technik und Nutzen sind das Einzige, was zählt.

Wie sich all das auf die Würde der menschlichen Person und auf die Gesellschaft auswirkt, hat Aldous Huxley in Brave New World (»Schöne neue Welt«) auf brillante Weise vorweggenommen. Irgendwie scheint Huxley, noch bevor seine Schreckensvision von der menschlichen Zukunft durch die Entschlüsselung der DNA-Doppelhelix wissenschaftlich plausibel wurde, geahnt zu haben, dass die alte gnostische Lehre von der Formbarkeit des Menschseins, wenn man sie mit moderner Technologie kombiniert und auf eine Kultur loslässt, die gar nicht mehr versucht, die tieferen Grundwahrheiten der Dinge aus den Gegebenheiten der menschlichen Natur herauszulesen, eine Welt hervorbringen würde, in der sich die prometheische Versuchung als unwiderstehlich erweist. Aldous Huxley war kein großer Literat. Aber er hat die Tragweite der kulturellen Herausforderung erfasst, der der gegenreformatorische Katholizismus nicht gewachsen war und auf die der evangelikale Katholizismus reagieren muss. Das zeigt sich in einem Abschnitt etwa in der Mitte seines Romans, in dem er beschreibt, was einem der allmächtigen Weltkontrolleure beim Lesen eines wissenschaftlichen Aufsatzes durch den Kopf geht, den er prüfen soll, ehe er ihn zur Veröffentlichung freigibt. Offenbar hat der Denker, der ihn verfasst hat, einige alte Grundwahrheiten wiederentdeckt:

»›Neue Theorie der Biologie‹ hieß die Abhandlung, die Mustafa Mannesmann soeben zu Ende gelesen hatte. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn saß er eine Weile da, dann nahm er den Stift und schrieb schräg auf das Titelblatt: ›Die mathematische Behandlung des Begriffs der Zweckbestimmtheit durch den Verfasser ist neu und scharfsinnig, die Schlüsse aber, zu denen er kommt, sind ketzerisch und, soweit sie die bestehende Gesellschaftsordnung betreffen, gefährlich und möglicherweise zerstörerisch. Zur Veröffentlichung nicht freigegeben.‹ Diese Worte unterstrich er. ›Der Verfasser ist im Auge zu behalten. Seine Versetzung in die Station für Meeresbiologie auf Sankt Helena könnte erforderlich werden.‹ Schade, dachte er, während er unterschrieb. Es war ein Meisterwerk. Aber wenn man erst einmal Erklärungen zum Thema der Zweckbestimmung zuließ – ja, dann waren die Folgen nicht absehbar. Solche Gedanken untergruben nur zu schnell die Normung der weniger gefestigten Geister innerhalb der höheren Kasten, sie raubten ihnen den Glauben an das Glück als das höchste Gut und lehrten sie stattdessen den Glauben an ein Ziel, das irgendwo jenseits, irgendwo außerhalb des gegenwärtigen menschlichen Bereichs lag. Solche Irrlehren führten dahin, den Sinn des Daseins nicht in der Erhaltung des Wohlbefindens zu sehen, sondern in der Vertiefung und Verfeinerung der Erkenntnis, der Vermehrung des Wissens. Vielleicht war das, überlegte der Aufsichtsrat, sogar ein wahrer Glaube. Aber unter den derzeitigen Verhältnissen unzulässig. Er nahm noch einmal den Stift und zog unter die Worte ›Zur Veröffentlichung nicht freigegeben‹ einen zweiten Strich, dicker und schwärzer noch als der erste.«27

In der schönen neuen Welt der huxleyschen Anti-Utopie ist das, was die klassische und mittelalterliche Theologie als die Anima naturaliter christiana bezeichnet hat – dass also der menschliche Geist sich von Natur aus zu der Wahrheit des christlichen Glaubens hingezogen fühlt – unter dem Druck des Lustprinzips, eines innerweltlichen Tugendersatzes, verkümmert. Die schöne neue Welt, die Huxley sich vorstellt, ist eine weitgehend seelenlose Welt oder, besser vielleicht, eine Welt der sehnsuchtslosen Seelen (wobei Sehnsucht weder mit »Wunsch« noch mit »Bedürfnis« verwechselt werden darf). Vielleicht erscheint uns diese fiktive Zukunft zu extrem, als dass sie wahr werden könnte; doch wenn wir ihre Möglichkeit ignorieren oder leugnen, schaden wir uns selbst.

Die amerikanische Schriftstellerin Flannery O’Connor hat vor denselben kulturellen Unterströmungen und ihren entmenschlichten Auswirkungen gewarnt und dem Nihilismus der späten Moderne vorgeworfen, er habe Menschen hervorgebracht, die wie »flügellose Hühner« seien: Männer und Frauen, die, wie O’Connor es nennt, die »Gewohnheit, zu sein« verloren haben. Sie haben diese wesentliche menschliche Qualität verloren, weil sie sich das Leben als durch und durch plastisch und formbar vorstellen und ihnen seine Gegebenheiten nicht mehr bewusst seien; sie haben ihre Menschlichkeit verloren, weil die sakramentale Sensibilität, die die westliche Zivilisation in erster Linie dem Christentum verdanke, – jene Ahnung des Außergewöhnlichen, das sich im Stoff des Gewöhnlichen offenbart – kulturell aus ihnen weggezüchtet worden sei.

Unter diesen düsteren kulturellen Umständen, deren soziale und politische Auswirkungen zuweilen durch den materiellen Wohlstand überdeckt werden, war es in der Tat providenziell, dass der Katholizismus im Zuge seiner tiefgreifenden Reform, die Leo XIII. gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Weg brachte, wiederentdecken sollte, dass Wort und Sakrament die beiden Grundpfeiler der gelebten Christusnachfolge sind. Die lebensverändernde Macht des Wortes Gottes in den Worten der Bibel ist die gegenkulturelle Antwort der Kirche auf die postmoderne Geringschätzung der menschlichen Fähigkeit, die tiefen Wahrheiten des Menschseins zu erkennen. Die Sakramente sind das Gegengift des evangelikalen Katholizismus gegen den herrschenden Gnostizismus der späteren Moderne und Postmoderne, weil das sakramentale System der Kirche den Stoff der Welt und der menschlichen Beziehungen als Gefäße der göttlichen Gnade betrachtet und denkbar ernst nimmt.

Die Erneuerung der Kirche

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