Читать книгу Der Mann mit dem Tattoo am Hinterkopf - Gerald Edinger - Страница 8
ОглавлениеGEFÜHLSCHAOS
„Eigentlich war ich als Kind nicht der Richtige!“ Ein bewegender Satz, der Ringo P. immer wieder über die Lippen kommt, wenn er an seine Kindheit denkt. Eigentlich hätte er nämlich ein Mädchen werden sollen – das war zumindest der Wunsch seiner Eltern, erzählt er. Dass er das immer noch erwähnt, sagt viel über ihn aus. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, konnte mit sich und dem Gefühlschaos in seinem Kopf und seinem Herzen nichts anfangen. Nun ist er über 60 und immer wieder sagt er diesen einen Satz, wenn er vor Schülern sein Leben schildert. Eine Geschichte, auf die er nicht gerade stolz ist - zu großen Teilen jedenfalls.
Wenn er an seine Mutter denkt, glaubt er inzwischen: „Sie wollte mich zu jemand anders machen, als ich bin. Auf Bildern sehe ich aus wie ein Mädchen. Sie hat mich verbogen und nicht als Jungen angenommen. Bei meinem Vater war das anders, er hat mich so genommen, wie ich bin!“ Die langen Haare wurden erst abgeschnitten, als er in den Kindergarten ging. Plötzlich sollte er der Junge sein, der er bisher nicht sein durfte. Dieser harte Bruch, die völlige Wandlung in seinem Leben war für den Dreijährigen nicht zu verstehen. Sein Zuhause beschreibt er trotz dieser inneren Zerrissenheit als herzlich.
Das Gefühl, nicht richtig zu sein, weil er nicht die gewünschte Tochter, sondern ein nicht gewollter Sohn war, machte ihn aus seiner Sicht zu einem Sonderling: „Mein Innerstes war ganz geknickt, weil ich gespürt habe, dass ich nicht der Richtige war!“ Als er in die Schule kam, begann die zweite Katastrophe: Er war Linkshänder, was in den 1950er und `60er-Jahren ein Makel war, den es auszumerzen galt. So mancher Lehrer wollte Schülern deshalb das Schreiben mit der linken Hand mit fragwürdigen Methoden austreiben. Wie oft habe ich selbst den Satz gehört, wenn jemand in meiner Klasse mit links schrieb: „Nimm die schöne Hand!“ Die „zwangsweise Umschulung“ der Linkshänder war in meiner Wahrnehmung damaliger Standard an den Schulen. Ringo traf es noch schlimmer, er schrieb mit der linken Hand in Spiegelschrift. „Da konnte mit mir ja etwas nicht stimmen“, erzählte er und machte dabei eine kleine Pause, die mich nachdenklich stimmte. Sein Selbstwertgefühl war zu dieser Phase praktisch nicht vorhanden. „Ich fing an zu stottern, weil ich irgendwie nicht reden konnte. Mir wurde das Lernen kaputtgemacht. Alles in mir war verdreht und ich habe ins Bett gemacht.“ Damals habe er sein Selbstbewusstsein verloren, das er bis dahin durchaus hatte. „Als meine Eltern etwas gemerkt haben, war es eigentlich viel zu spät…“ Aufgrund des Stotterns kam der Junge auf eine Sonderschule für Sprach- und Hörgeschädigte. Dort hatte er eine schöne Zeit, schloss Freundschaften.
„Sonderschulen“, so nannte man in jener unsensiblen Zeit Einrichtungen, auf die Kinder mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung geschickt wurden. Immerhin hatten sie einen Anspruch auf Schulbildung, den es erst ab Mitte der 1960er-Jahre gesetzlich verankert gibt. Landläufig wurden alle Kinder, die eine solche „Sonderschule“ besuchten als „Behinderte“ bezeichnet, was noch eine eher harmlose Formulierung war. In dem kleinen Dorf, in dem meine Eltern mit meinem jüngeren Bruder und mir lebten, waren die Ausdrücke für diese Außenseiter der Gesellschaft deutlich derber. Für uns Dörfler waren es „Dubel“ oder „Dorfdeppen“. Davon gab es in jedem Ort mindestens einen, daran erinnere ich mich sehr gut. Grausame Ausdrücke, die wir Kinder den Erwachsenen nachplapperten, die diesen Kindern allerdings überhaupt nicht gerecht wurden. Heute sehe ich diese Menschen selbstverständlich ganz anders. Aus Erfahrung bin ich klug geworden. Menschen mit Behinderung sind ein Teil unserer Gesellschaft. Sie haben es verdient, dass wir uns um sie kümmern. Niemand kann etwas dafür, wie und wo er geboren wird, gesund oder mit einer Behinderung.
Ringo war nun also Sonderschüler in einer Einrichtung für Sprach- und Hörgeschädigte, deshalb fühlte er sich noch mehr als Außenseiter, ausgegrenzt, abgeschirmt von der Welt der „Normalen“.