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Pantomime

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In Leith steht ein Stein aus Telemark. Er kam mit dem Motorschiff Vim aus Bergen hierher, als Ballast. Aber als das Schiff auf Grund lief und hier ins Dock kam, warfen ein paar helle Köpfe ihren Blick auf diesen Stein. Dann brachten sie ihn an Land und stellten ihn vor der norwegischen Seemannskirche auf. Hier konnten sich alle hinsetzen, die aus Norwegen waren und Heimweh hatten. Es ist ein ganz normaler Prellstein. Grau und ursprünglich liegt er hier und schaut von seiner kleinen Rasenfläche vor The Scandinavian Church hoch. Die Kirche selbst ist grau und klein zwischen Edinburghs hohen Gebäuden.

Jeden Sonntag kommen Dutzende junger Leute hierher. Einige haben vielleicht keine Beziehung zu Gott, für den diese Kirche errichtet worden ist, andere kommen gerade seinetwegen. Aber alle suchen die Kirche auf und sehen den Stein. Das Wort, das sie suchen, ist nicht leicht gesagt, aber der Stein sagt es in einer Sprache, die niemandem fremd ist. Er sagt gerade hier, in dieser unbekannten Hafenstadtgegend, was er nicht sagen könnte, wenn er noch immer auf seiner Felskuppe in Telemark läge.

Das war der Ort, an dem die norwegischen Au-pair-Mädchen in Edinburgh, die Mother’s help-Mädchen, die angehenden Ingenieure, die Zahnmedizin- und Medizinstudenten und sogar die Bierbrauereistudenten ihre Würde wiederfanden. Denn auf der Rückseite dieser Kirche mit dem Stein lag ein Zimmer mit einer Reihe von Regalen, und dort lagen Adresseavisa, Bergens Tidende, Fædrelandsvennen und Fredrikstad Blad, Nachrichten aus genau dem Ort, aus dem sie welche hören wollten; eine mollige Dame saß am Klavier und spielte aus dem Gesangbuch der Seemannsmission „Sing mich heim“; es gab glasierte Kuchen, Pastor Tønnesen segnete sie, und ab und zu tauchte ein Seemann auf.

Inger kam an allen Sonn- und Feiertagen her. Am Heiligen Abend kam auch Sheila mit. Während sie nebeneinander saßen und sich Pastor Tønnesens Predigt anhörten, preßte Sheilas Arm sich plötzlich gegen Ingers. Durch den Mantelstoff. Inger blieb sitzen und spürte den Druck. Es war gut. Wie konnte so wenig so gut tun? Wieso kann ich durch so einen kleinen Druck so glücklich werden? Sie hörte die Weihnachtsbotschaft und dachte: Ich muß ganz ruhig sitzenbleiben. Wenn ich mich auch nur einen Millimeter bewege, kann der Arm verschwinden. Ich kann einfach so sitzen bleiben. Schließlich hat Sheila ihren Arm bewegt. Ich bin nicht verpflichtet, wegzurücken. Ich sitze ja genauso hier wie vorher. Und wenn sie lieber so sitzen will wie vorher, kann sie sich ja wieder anders hinsetzen.

Aber Sheila bewegte ihren Arm nicht. Weißt du, daß dein Arm gegen meinen drückt? Oder ist das der reine Zufall und „Weihnachtsglück“, denn das wurde jetzt gesungen? Da saß Inger und freute sich das ganze Lied hindurch. Das hätten sie wissen sollen, die versammelte Gemeinde.

Inger blieb den ganzen Gottesdienst so sitzen.

Ich bin verliebt in sie, dachte Inger und war entsetzt und verängstigt. Sie saß in ihrem Kabuff und versuchte, sich aus der Verliebtheit herauszudenken. Sie wußte, daß sie die einzige Frau auf der Welt war, die sich in andere Frauen verliebte. Sie wußte, daß es irgendwo solche Frauen gab, aber die waren weit weg wie die Tatsache, daß Nofretete mit dem langen Hals einst gelebt hatte, solche Frauen gab es nicht in ihrer Welt, heute nicht und nie.

Während der nächsten Tage, während aller Weihnachtstage, bei gefülltem Truthahn, Christmas cake mit sixpence und allen Geschenken schämte Inger sich. Sie hätte den Druck nicht spüren dürfen.

Das ist nicht normal, dachte sie. Es trennt mich im allerwesentlichsten Punkt von allen anderen Menschen. Und sie machte sich daran, ihre Freude zu bekämpfen.

Sie bekämpfte ihren Kopf, sie bekämpfte ihren Körper, sie bekämpfte ihre Haut, die spürte, daß Sheila plötzlich die Treppe hinunterkam. Sie sweepte und hoovte und bekämpfte ihre Ohren, die immerzu auf Sheilas Stimme horchten. Sie bekämpfte ihre Augen, die Sheilas begegneten.

Die ganze Familie ging in The Pantomime. Das war Tradition, und sowie sie sich gesetzt hatten, vergaß Inger zu bekämpfen, daß sie die ganze Zeit daran dachte, daß Sheila neben ihr saß. Sie legte ihren Arm auf ihre Hälfte der Armlehne und hoffte, Sheila würde ihren auf die andere Hälfte legen. Im Saal wurde es dunkel. Sheila verschwand. Inger versuchte, sie in der Dunkelheit zu erkennen. Sie spürte, daß Sheila sich leicht bewegte und sie mit dem Knie anstupste. Das jagte ihr einen plötzlichen Freudeschauer durch den Leib. Warum bin ich bloß so blöd? dachte sie. Sie spürte eine Hand, die sich auf ihr Bein legte, gleich über dem Knie. Die Hand drückte sie leicht. Dann blieb sie liegen.

Inger saß da und rührte sich nicht. Ein handförmiges Feld der Freude jagte Welle auf Welle aus reinem Glück durch sie. Und sie wußte, daß sie auf dieser Welt nur einen Wunsch hatte, nämlich, daß Sheilas Hand in alle Ewigkeit auf ihrem Knie bliebe.

Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Nach dem ersten Akt nahm Sheila ihre Hand von Ingers Knie, um damit zu applaudieren. Da erst ging Inger auf, daß sie während des ganzen Aktes vergessen hatte, dagegen anzukämpfen, daß Sheila dort saß. Sie hatte es vergessen! Sie bewegte ihr Bein. Sie versuchte jetzt aus Leibeskräften, nicht zu hoffen, daß die Hand zurückkäme. Aber beim zweiten Akt war die Hand wieder da, und Inger wußte, daß sie auf dieser Welt nur einen einzigen Wunsch hatte, nämlich, daß Sheilas Hand in alle Ewigkeit käme und ginge, käme und ginge, käme und ginge auf ihrem Bein.

Dieser Wunsch ging in Erfüllung – wenn auch nicht in alle Ewigkeit, so doch während der ganzen Vorstellung, und die schien ewig zu dauern.

Inger sitzt mit Sheila in einer ewigen Vorstellung. Vorher hatte sie gedacht: Pantomime? Wie langweilig. Soll ich vielleicht den ganzen Abend dasitzen, nur um mir ein paar Bewegungen anzusehen? Aber da hatte sie sich geirrt. Die Pantomime kommt mit Sang und Klang und einem Prinzen in roter Jacke und Prinz-Eisenherz-Frisur, der von einer Frau gespielt wird. Nun legt sie den Arm um ihre auserwählte Prinzessin, und alle applaudieren. „Eine Frau?“ fragt Inger. „Ja“, nickt Mrs. Mayfield, „das ist immer so. Der Prinz muß von einer Frau gespielt werden.“ Und ganz Edinburgh applaudiert, denn so gehört es sich, it’s most suitable, und am Ende haben sie sich endlich. Ein schönes Paar.

Doch, Weihnachten steckt voller Überraschungen, und Inger ist glücklich. Auf der anderen Seite der Nordsee packt Evelyn einen großen Pappkarton. Sie füllt ihn mit Weihnachtscomics, Strümpfen, Marzipanschweinen, einem Jahresrückblick für 1961, mit allem, was sie hineinbekommt, und mit zehn Rollen Klopapier. „Hier, mein Kind. Jetzt kannst du Klopapier benutzen auf Teufel komm raus! Wünsch allen frohe Weihnachten von Mrs. Holm. Und ein ganz besonderer Gruß an Sheila. Ich bin froh, daß du sie hast. Sylvester werden wir um Mitternacht an dich denken. Dann kannst du vors Haus gehen, dort in der Aberdeen Road Nr. 6, und zu den Sternen hochblicken. Und dann weißt du, daß wir in Bjørnegården auf dem Balkon stehen und zum selben Himmel hochschauen.“

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