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6, Aberdeen Road

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In der Bar der Blenheim sitzt eine charmante dänische Dame von mindestens dreißig Jahren. Sie hat blonde natürliche Locken, eine Zigarettenspitze und lange schlanke Beine mit Seidenstrümpfen, das eine auf dem Barhocker flott über das andere geschlagen. Es ist überhaupt Pech, daß sie nicht in Hollywood gelandet ist, sondern statt dessen eine gescheiterte Ehe hinter sich hat; sie erzählt einem jungen Mädchen auf dem Nachbarhocker ihre ganze Lebensgeschichte. Ihre Nachbarin erzählt ihrerseits aus dem Leben gegriffene Episoden, offensichtlich hat sie bisher ein sorgloses Leben geführt. Die Jüngere wundert sich darüber, daß die Ältere einem wildfremden Menschen so einfach die entsetzlichsten Details erzählen kann, aber sie hat das Gefühl, in kurzer Zeit mitten im Weltabenteuer gelandet zu sein. Der Barmann schenkt ein, und die Dame spendiert. Alles ist spannend. Aber nun haben sie Horten passiert. Bereits hier legt das Schiff sich langsam auf die Seite, mal auf die eine, mal auf die andere, und deshalb bekommt die junge Frau nicht mehr mit, wie der verflossene Ehemann der Dänin am Heiligen Abend den Tisch umgeworfen hat – mit Schweinebraten und allem Drum und Dran, die Einzelheiten des Menüs kann sie nicht registrieren. „Trink einen Whisky, Süße! Das hilft gegen die Wellen!“ sagt die Dame, und die Junge kippt Whisky und prostet der Dame zu, die inzwischen bei einem Würgeversuch an der Nordsee angelangt ist, und als sie den Leuchtturm von Færder passieren, gibt es auf der ganzen Welt nur noch eine einzige Möglichkeit: die Toilettenschüssel!

Inger sah ihre Mitreisenden aus der zweitbilligsten ersten Klasse erst wieder, als sie verwirrt und frierend anderthalb Tage später in einer riesigen grauen Halle auf dem Tyne Commission Quay stand.

Das neue Land war flach und grau, mit einer Unendlichkeit von Eisenbahnschienen, Schornsteinen, winzigen Grasflächen und Wäscheleinen und darüber einem finsteren tiefhängenden Himmel. „Berwick!“ rief der Schaffner mit rollendem r, es hörte sich ganz anders an als alles Englisch, das sie bisher gehört hatte, und so ging es ihr bei allen, die etwas sagten. Sie schienen die Sprache im Mund zu haben. Deutliche Aussprache war nicht gefragt. The industrial revolution.

Sie geht hinter dem Gitarrenhals zur Sperre in Waverley Station. Ihr restliches Gepäck hat sie aufgegeben. Siebzehn Gepäckstücke insgesamt. Warum hat sie bloß die Gitarre mitgenommen? Die wirkt völlig fehl am Platz. Eine Gitarre ist immer fehl am Platz, bis sie auf einem Fest auf deinem Schoß landet. Hier weist nichts auf ein Fest hin.

„Are you Inger?“

Eine wildfremde Dame mit grauem Haar, Tweedkostüm und großen nervösen Augen bringt sie mit dieser Frage plötzlich zum Stehenbleiben. Inger möchte am liebsten „nein“ sagen und sofort wieder nach Hause fahren. Sie hat noch nie in ihrem Leben wildfremde Menschen gesehen. In Fredrikstad gibt es keine wildfremden Menschen. Selbst die, die man nicht kennt, hat man schon einmal gesehen. Inger starrt die Dame erschrokken und feindselig an. Mit dieser Frau habe ich nichts zu schaffen. „Yes“, sagt sie tiefunglücklich.

„Ist das dein ganzes Gepäck?“ fragt die Dame auf Englisch. Aber im Gegensatz zu allen anderen, die Inger gehört hat, redet sie deutlich. „No, it... ist-auf-ge-geben... it, it, it... comes, I mean... it...“

Wo ist ihr Englisch?

„Will-it-be-sent-separately?“ fragt die Dame. „Yes.“ Inger nickt so heftig, daß sie sich fast den Kopf ausrenkt, um ihr Englisch zu ersetzen, das sie sieben Jahre lang gelernt, für das sie immer geglüht und für das sie immer „sehr gut“ bekommen hat. Mrs. Mayfield nimmt ihre Reisetasche und marschiert auf schnellen halbhohen Absätzen drei Schritte vor Inger her zum Taxenstand.

Das Taxi fährt einen Hang hinauf und aus dem Bahnhof heraus und befindet sich sofort mitten in der Stadt. Eine in Nebel gehüllte Burg ragt vor ihnen auf. Sie biegen nach rechts und fahren durch ein Gewimmel von burgunderroten Bussen, alle auf der falschen Straßenseite. „Das ist Princes Street!“ Mrs. Mayfield sagt das, als handle es sich um die berühmteste Straße der Welt. „Das ist The Scott Monument.“ Mrs. Mayfield zeigt auf eine Art düsteren Eiffelturm, der vor ihnen emporragt. „Hattest du eine gute Überfahrt?“

„No“, antwortet Inger. „I was... I was...“

„Were you sea-sick?“

Es ist entsetzlich. Der Mund will nicht. Und die Arbeiter in den Bergwerken während the industrial revolution im Anglo-American Reader I, II und III waren nie seekrank gewesen. Die waren the Iron Law of Wages unterworfen. That wages tend to fall to the lowest level which the most desperate man will accept. Ob sie das sagen sollte?

Sie fahren hangauf und hangab durch schnurgerade Straßen, die Häuser werden immer kleiner, sie liegen in endlosen Reihen da, paarweise, und alle Türen stehen offen. Sie sind grün. Und darüber befindet sich eine Zahl. Sie halten vor einem Haus mit der Zahl „6“. Mrs. Mayfield nimmt ihre Tasche und marschiert voraus über den kleinen Gartenweg. Inger hat noch nie ein tristeres Haus gesehen.

Ein kühler, leicht süßlicher Geruch schlägt ihr entgegen, als sie das Haus betritt. Sie blickt durch einen langen Flur auf eine Treppe. Mrs. Mayfield bleibt am Ende des Flurs stehen. Inger folgt ihr. „Inger. This is your room.“ Und sie steht da und starrt in ein Kabuff.

Hier gibt es eine schmale, dunkelbraune Kommode, zwei Holzstühle, ein Bett mit graugrüner Überdecke und eine Margarinekiste als Nachttisch. Durch das Fenster sieht sie auf eine Mauer, vor der zwei graue Tonnen stehen. Das Land der Träume, das Edinburgh der Phantasie verschwindet in der Tiefe ihrer Seele. Ein Jahr! denkt sie.

Sie wird hinter einen Berg Kartoffelpüree gesetzt. Jetzt wird „Lunch“ gegessen. Mit kurzem a. Lansch. Mitten in einem Geruch, den sie noch nie in der Nase gehabt hat. Die Familie sitzt rund um den Küchentisch. Sheila sitzt ihr gegenüber und macht große Augen wie die Hunde im Märchen vom „Feuerzeug“. Sie gestikuliert mit der Gabel und schnattert mit ihrer Mutter. „Bt wht kn ju du?“ fragt sie. Da hat Inger in all den Jahren gelernt, daß „but“ „batt“ ausgesprochen wird und nicht „böt“, und jetzt heißt es einfach nur „bt“.

Von all dem Seltsamen, das sie in der letzten Zeit gesehen hat, ist Sheila das Seltsamste. Sie hat einen vorstehenden roten Mund, kleine Sommersprossen auf einer an der Wurzel etwas flachen Nase, und sie sieht absolut nicht aus wie irgendeine von denen, die auf der Phönixtreppe gestanden haben.

Adam ist klein und stochert in seinem Essen herum, und Sheila macht sich über ihn lustig. Glen ist groß und mager, trägt ein militärfarbenes Hemd und ißt wortlos. Der Geruch kommt von ihm. „Iß auf, Adam!“ ruft Mrs. Mayfield. „Warte nur, wenn dein Vater kommt!“ Der Vater und der, der Duncan heißt, sind nämlich nicht anwesend. Sie sind im Büro bzw. in der Schule. Mrs. Mayfield redet zu ihrem kleinen Sohn nur in Drohungen. Was mit ihm passieren wird, wenn sein Vater nach Hause kommt, ist offensichtlich entsetzlich. Trotzdem stochert er weiter. „Mummy?“ sagt er. „This meat is rotten.“ Sein kleiner Mund steckt offenbar voller Phantasie. Mrs. Mayfield explodiert. „Adam!“ brüllt sie. „Was soll Inger denn von dir denken?“

„Die ißt doch selber nicht“, antwortet Adam. Ingers Kartoffelpüree zieht nun die Aufmerksamkeit aller auf sich. Vernichtet starrt sie in die Püreelandschaft. Die Nordsee durchwogt sie jetzt, obwohl sie, zum erstenmal seit zwei Tagen, nicht in Bewegung ist. Seit Rakel Jonassens Blutpudding in der siebten Klasse hat sie sich nicht mehr so verloren gefühlt.

Eine Schande. Da kommt sie in ein fremdes Haus und ist achtzehn Jahre alt. Und als erstes ißt sie ihr Kartoffelpüree nicht auf. Aber als Alternative müßte sie ihre neue Familie bespukken. Mrs. Mayfield entfernt das Püree mit einer Mißfallensäußerung. „H!“ ist deutlich zu vernehmen. Glen legt mit Stakkatobewegungen Fahrradklemmen an. „Cheerio!“ ruft er, als er das Haus verläßt. Das ist das erste, was er gesagt hat. Sheila setzt sich einen Sturzhelm auf. Dann verschwindet sie mit demselben merkwürdigen Abschiedsgruß auf ihrem Moped. Zur Edinburgh University. Sie wirft Inger einen raschen Blick zu, ehe sie verschwindet. Vielleicht kann sie mich nicht ausstehen, denkt Inger plötzlich. Sowas kann ja vorkommen. Du siehst ein Gesicht eine halbe Sekunde lang, und schon weißt du, daß du es nicht ausstehen kannst.

Als erstes brennt Inger bei ihrer neuen Arbeit als Hausgehilfin ein Loch in ein Paar Gummihandschuhe. Die muß sie nämlich sofort anziehen, um einen glühendheißen Rost aus dem Küchenherd zu entfernen, damit alte Glut herausgeschaufelt und Koks nachgefüllt werden kann. Das soll mit dem Poker gemacht werden, nicht mit den Händen. Aber wer hat denn je von The Poker gehört? Inger weiß nicht einmal, wie das auf Norwegisch heißt, und es interessiert sie auch nicht. Aber es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß es sich beim Poker um einen Schürhaken handelt. Jedenfalls brennt sie dieses Loch, und ihr Zeigefinger tut zum Jaulen weh. Mrs. Mayfield starrt auf die Bescherung. „Die waren noch ganz neu!“ ruft sie. Die Brandwunde interessiert sie nicht. „Weißt du was?“ fährt sie triumphierend fort. „Wir haben acht Mädchen hier im Haus gehabt, und keine davon hat im Laufe eines Jahres mehr als drei Gegenstände kaputtgemacht. Wie soll das denn bei dir gehen, wenn du schon am ersten Tag damit anfängst? Wenn du mehr als drei Dinge kaputtmachst, mußt du selber bezahlen.“

Kaputtmachen heißt break. Was Salbe heißt, weiß sie nicht. Ihr Finger tut einfach weiter weh.

Abends um sechs soll Supper im Wohnzimmer eingenommen werden. Das liegt zur Straße, und durch die Fenster sind all die anderen grauen Häuser zu sehen, paarweise seitenverkehrt, genau wie dieses hier. Die Leute, die Wand an Wand wohnen, kann Mrs. Mayfield nicht ausstehen. Die haben Hunde.

Der Abendbrottisch ist gedeckt, groß, dunkelbraun und spiegelblank – und daneben stehen kleingeblümte Tassen und Untertassen auf einem Teewagen. The trolley. „Inger, komm her!“ Mrs. Mayfield zeigt ihr, wie sie anderthalb Teelöffel Zucker in die Teetassen auf the trolley, in Daddys Tasse jedoch drei geben soll. Daddys Tasse ist doppelt so groß wie die anderen und runder. Inger blickt sie mit dem Neid und der Gereiztheit an, die sie verdient. „Wieviel ißt du abends?“ fragt Mrs. Mayfield. Ich esse, bis ich satt bin. Fünf Knäckebrote mit Käse bitte. Und jeden Käse eß ich auch nicht. Und eine Cola. „Äh... I... mäh... what?“ antwortet sie. „Well. Sheila und ich essen drei halbe Scheiben Toast zum Abendbrot und zwei halbe Scheiben zum Frühstück.“ Für Inger hört sich das nach viel zuwenig an. „I will... eat... yes... that... thank you, yes, too“, sagt sie. „Und du darfst nur auf ein Stück Butter streichen und Margarine auf die anderen, und wenn du Marmelade ißt, darfst du darunter keine Butter nehmen“, erklärt Mrs. Mayfield. „Aha“, sagt Inger. „Aha ist hierzulande ein sehr schlechter Ausdruck, Inger.“ – „Aha?... I mean... is it that?“ – „It certainly is.“ – „But, but.“ – „Aber du willst doch sicher ordentlich sprechen lernen?“ – „Yes“, antwortet Inger und vermißt „doch“. Es entsteht gewissermaßen ein „Doch-Loch“. Jetzt muß sie lernen, durch dieses Loch hindurch „yes“ zu sagen.

Mrs. Mayfield verteilt an ihrem Tischende gebratene Wurstzipfel und Speck und läßt die Teller weiterreichen. Daddy verhört seine Familie der Reihe nach. Was haben sie den ganzen Tag gemacht? Sie sagen nur etwas, wenn er sich direkt an sie wendet.

„Well“, sagt Mrs. Mayfield zu Inger, nachdem sie abgeräumt und gespült haben. „Du bist hier im Haus wie eine Tochter. Das heißt, für dich gelten dieselben Regeln wie für Sheila, und ich kann sie dir genausogut jetzt schon sagen. Du hast in der Woche spätestens um halb elf und sonntags spätestens um zehn zu Hause zu sein. Du mußt deine Wäsche einmal in der Woche waschen, und du darfst nicht in The International Club gehen und dich nicht mit Negern treffen.“

Das wollen wir erst mal sehen, denkt Inger. Die hat ja keine Ahnung, wen sie sich da ins Haus geholt hat.

In alle Winde

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