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Die Schlacht von El Alamein

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Inger beschloß bald, die Hausordnung überall da zu brechen, wo es ihr paßte.

Am ersten Sonntag besuchte sie die skandinavische Seemannskirche in Leith und stellte fest, daß sie nicht das einzige Au-pair-Mädchen in Edinburgh war, das um zehn Uhr zu Hause sein mußte. Sie sangen nach dem Gesangbuch der Seemannsmission Nr. 377: „Sing mich heimwärts.“

„Wenn die Fjorde funkeln in der Sonne,

und die Gletscher glitzern voller Wonne.“

Und sie hatten Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals. So etwas war noch nie passiert – nicht aus solchen Gründen. Eine Sekunde lang stieg wieder ihre ganze Würde in ihrem Körper hoch. Denn dort saß Ella Granli aus Bergen mit aufgestecktem Haar und lachte. Inger lachte mit Ella und kam zwanzig Minuten zu spät nach Hause. Im dunklen Flur wartete Mrs. Mayfield auf sie. Sie blickte Inger wütend an: „Inger! I think we’ve got different moral standards.“

Mrs. Mayfield erklärte ihr, daß zehn Uhr zehn Uhr bedeute und nichts anderes als zehn Uhr.

Moralischer Standard! Sie kam in ein fremdes Haus, und gleich warfen sie ihr einen Haufen Regeln an den Kopf. Eine Abmachung ist eine Abmachung, das habe ich auch gelernt, Mrs. Mayfield. Aber das hier ist verdammt nochmal keine Abmachung. Wofür hältst du dich eigentlich?

Sie landete auf einem Fest, wo alle Mädchen aus Skandinavien und alle Jungen aus Jamaica kamen. Zum erstenmal sah sie einen Schwarzen. Den, der 1956 durch Nygaardsgata gegangen war, hatte sie ja verpaßt. Sie hatte es absolut idiotisch gefunden, nun endlich im Ausland zu sein und sich dann nicht mit fremden Nationen zusammenzutun. Sie kam nach Hause und erzählte Mrs. Mayfield, daß nur Neger auf dem Fest gewesen waren.

„Only Negroes, Inger?“

Ihre Stimme bebte vor Entsetzen und Abscheu. „Aber warum mögen Sie sie nicht?“ fragte Inger. „Ich kenne zum Glück keine“, antwortete Mrs. Mayfield. Seltsamerweise hatte das seine Wirkung. Als wäre sie ein Mensch zweiter Klasse, unfähig, etwas Besseres zu unternehmen.

Mrs. Mayfield mochte auch keine Zigeuner. Einen kannte sie sogar. Er kam jeden Mittwoch an die Tür und versuchte, Zwiebeln zu verkaufen, und Mrs. Mayfield jagte ihn schnaubend davon. Sie würde ihren Jungen doch nichts vorsetzen, was er in der Hand gehabt hatte. „Warum nicht?“ – „Er ist Zigeuner!“ erklärte Mrs. Mayfield. Inger ging mit ihm am East Breakwater spazieren. Dort sahen sie den Sonnenuntergang hinter der Forth Bridge, und er machte ihr einen Heiratsantrag. Aber das erzählte sie Mrs. Mayfield nicht.

Jeden Dienstag und Donnerstag bügelte Inger Hemden von Edinburgh Academy. Sie bügelte in der Küche, während Melodien von „Housewives’ choice“ aus dem Radio in der Ecke strömten und Mrs. Mayfield in the scullery Essen macht.

Während sie damit beschäftig waren und Elvis Presley Mrs. Mayfields Lieblingslied „Wooden heart“ sang, redeten sie über alles mögliche, und es stellte sich heraus, daß Mrs. Mayfield auch Deutsche nicht leiden konnte. Von denen kannte sie vier, nämlich ihre früheren Au-pair-Mädchen Hannelore, Heidi, Gisela und Jutta (ausgesprochen „Dschatta“). Die Deutschen hatten zwei Weltkriege angefangen, das lag in ihrer Natur. Alle Deutschen waren im tiefsten Herzen kleine Diktatoren. Inger sagte: „Meine Großmutter ist Deutsche.“

In the scullery war es still. Jetzt geht ihr auf, daß sie dem Diktatorenblut nicht entrinnen kann, auch wenn sie sich eine Norwegerin hat kommen lassen, dachte Inger. „Muß i denn, muß i denn“, sang Elvis. „Ich meine doch nicht, daß deine arme Großmutter den Zweiten Weltkrieg angefangen hat, Inger.“ My poor grandmother, dachte Inger. Sie sollte bloß wissen, wie Emilie damals in der Oper in Berlin Blumen in die Loge von Adolf Hitler geschickt hatte. Hitler nahm die Blumen entgegen und sah sich die Karte an. Und in der Pause wurde ausgerufen: „Der Führer bittet Frau Emilie Gjarm zu sich!“ Leider war Emilie gerade auf dem Klo und kam erst zurück, als der Vorhang aufging, deshalb wurde sie dem Führer nicht vorgestellt. Inger erschien es besser, diese tragische Episode für sich zu behalten. Zum Ausgleich hatte Hans Rudolf einmal Mussolini begrüßt, aber auch das behielt sie für sich.

„Ich meine nur, daß die Deutschen die Weltkriege angefangen haben, und beim nächsten wird das auch so sein. Wart’s nur ab!“ sagte Mrs. Mayfield.

Eines Vormittags ging Mrs. Mayfield mit ihr auf das Klo neben the scullery. Es gab nämlich zwei Klos im Haus, eins upstairs und eins downstairs. „Inger“, sagte sie. „Du nimmst zuviel Toilettenpapier.“

Sie nahm eine Rolle und hielt sie Inger vor die Nase. „Wir waren immer sieben Personen hier im Haus, und wir haben pro Woche nie mehr als zwei Rollen verbraucht. Und nun, im Laufe der letzten beiden Wochen, waren es drei!“

Inger starrte die Rolle an. Das Klopapier war dünn und durchsichtig und total steif, und große Mengen waren nötig, um ihre Ansprüche in dieser Hinsicht zu befriedigen. Mrs. Mayfield riß zwei Blatt ab und zeigte sie ihr. „Hier“, sagte sie. „This is all you need.“

„Aha“, sagte Inger. „I mean... ee-oh?“ korrigierte sie sich, als ihr einfiel, daß „aha“ unsuitable war. Sie beschloß, von nun an ihr eigenes Klopapier zu kaufen. Aber das war sicher auch against the moral standard.

Der Haushalt war altmodisch. Hier wurde an allem gespart. Mrs. Mayfield hatte erklärt, daß sie sich die ganzen modernen Geräte nicht leisten konnten, da sie die Jungen auf die Edinburgh Academy schicken mußten, die beste Schule der Stadt.

Das Haus war durch und durch kalt. In allen Schlafzimmern gab es einen fireplace mit Gasanschluß, nur in Sheilas stand ein Elektroofen. Morgens um halb acht wurde der Kamin im Wohnzimmer zum Anzünden bereitgemacht. Aber er wurde erst angezündet, wenn Mr. Mayfield nach Hause kam. Im Mädchenzimmer neben der Küche gab es keine Heizmöglichkeit.

Inger fror ununterbrochen. Sie fror ein Jahr lang. Edinburgh ist eine kalte Stadt. Von September bis Februar liegt der kalte Nebel vom Firth of Forth über der Stadt, der Wind pfeift um die alten Schornsteine und dringt durch alle Ritzen.

Inger hatte geglaubt, aus einem kalten Land zu kommen. Aber hier bläst der Wind durch alles, was sie hat. Sie hat Schmerzen in den Ohren, vor allem im rechten. Jeden Abend nehmen alle Familienmitglieder eine Wärmflasche mit ins Bett. Inger wird keine zugeteilt, und sie würde nie auf die Idee kommen, um eine zu bitten. Sie behält nachts unter der Decke ihre Kleider an, sonst würde sie es morgens nicht aushalten können, sie anziehen zu müssen. Und vormittags, wenn die Hausarbeit erledigt ist, schließt sie sich in ihrem Zimmer ein. Sie sitzt mit Handschuhen da und schreibt, abwechselnd mit der einen und der anderen Hand. Plötzlich wird die Tür aufgerissen, und Mrs. Mayfield kommt herein und knipst mit wütender Handbewegung das Deckenlicht aus. „Inger! Habe ich dir nicht gesagt, daß Strom bei uns teuer ist? Du hast deine Haare nicht gewaschen und auch deine Wäsche nicht. Du solltest dich im Haus nützlich machen, statt hier zu sitzen. Und dein Zimmer sieht entsetzlich aus. Machst du das alles, um mich zu ärgern?“

„Nein“, antwortet Inger. In diesem Moment knallt ihr Trommelfell, und sie holt Luft. Ihr Ohr sticht. Es hilft, wenn sie Luft holt.

„Don’t snarl at me like that!“ sagt Mrs. Mayfield. Und Inger bricht in Tränen aus. Sie, die schon als Kind nicht mehr geweint hatte, wenn jemand zusah, weint vor dieser blöden und ungerechten Mrs. Mayfield. Snarl? denkt sie. Schnarren? Sie weiß nicht einmal sicher, wie sich das anhört, wenn jemand schnarrt.

Mrs. Mayfield setzt sich ihr gegenüber, beugt sich vor und stützt die Ellbogen auf die Knie. „Are you homesick, Inger?“ Und jetzt hört sie sich ganz anders an.

Sie bekommt keine Antwort. Nur neue Tränenströme.

„Du bist ein liebes Mädchen, Inger. Da bin ich ganz sicher“, sagt Mrs. Mayfield.

Diese rührende und unerwartete Szene führt dazu, daß Inger wochenlang keine Regeln mehr verletzt, sie wäscht Haare und Wäsche und beschließt, gut zu sein.

Sie betet, ganz einfach, zu dem Gott, an den sie vielleicht nicht mehr glaubt, der für Gebete aber noch immer da ist. „Laß mich aushalten! Lieber Gott, hilf mir, bei den Mayfields zu bleiben! Hilf mir, mich mit den Dingen hier abzufinden! Laß mich nicht so böse werden, lieber Gott! Ich habe nur zwei Wünsche für dieses Leben. Daß ich gesund bleibe und keine Ohrenschmerzen mehr habe, und daß mir die erwiderte Liebe begegnet.“

Wo ist die erwiderte Liebe? Inger ist sicher, daß sie sich in Edinburgh befindet. Sie muß sich hier befinden, sonst ist alles umsonst.

Jeden Abend bekommt Sheila rote Flecken am Hals. Sobald ihr Vater nach dem Moped fragt. Jeden Montag hat das Moped eine Panne. Jeden Sonntag leiht Daddy sich nämlich das Moped und fährt damit zum Golfspielen. Er ist zu schwer für das Moped und schaltet falsch. Mrs. Mayfield verbietet ihr, ihm das zu sagen. Das Moped wird zum Anlaß endloser Streitereien zwischen Mutter und Tochter. Und Inger wird immer klarer, daß sie allen hier im Haus einen großen und unschätzbaren Dienst erweist, wenn sie es nur einmal wagt, Mr. Mayfield zu widersprechen.

Denn obwohl sie beschlossen hat, sich mit den Dingen abzufinden, kann sie Mr. Mayfields Regime nicht billigen. Außerdem hat sie sich in Sheila verliebt. Aber das weiß sie nicht. Sie spürt es nur. Es gibt kein Wort dafür, weder auf Englisch noch auf Norwegisch.

Mr. Mayfield ist ein ganz normaler netter Mann. Doch alle haben eine Heidenangst vor ihm. Für Mrs. Mayfield ist er ein Gott. Sie hat ihn 1938 auf der Edinburgh University getroffen, wo sie Medizin studierte und er Chartered Account werden wollte, eine Art Rechnungsprüfer. Sie hängte ihr Medizinstudium an den Nagel und ging auf die Haushaltsschule. Sie heirateten, und sofort wurde sie schwanger. In dieser Reihenfolge. Dann kam Glen, und dann kam der Krieg. Mr. Mayfield wurde in Palästina stationiert und kam nur einmal auf Urlaub nach Hause. Damals machten sie Sheila. Als er zurückkam, war er ein Fremder. Sheila erzählt Inger das alles. „Als ich ihn sah, habe ich mich hinter meiner Mutter versteckt und gefragt: ‚Was will der Mann hier?‘“

Und seither hatten sie ihn auch nicht kennengelernt.

„Ich rede nie mit meinem Vater über irgendwas“, sagte Sheila.

Das alles verwundert Inger, und sie möchte ihnen so gerne helfen, das Eis zu brechen. Er kann sich doch wohl nicht im Ernst für fehlerlos halten! Aber dafür gibt Mrs. Mayfield ihn aus. Inger merkt zu ihrer Überraschung, daß auch sie anfängt, sich vor ihm zu fürchten. Sie ist es nicht gewohnt, sich vor irgendwem zu fürchten. Schon gar nicht vor Papa. Der einzige, vor dem sie sich je ein wenig gefürchtet hatte, war Lehrer Markmo auf der Realschule gewesen. Er hatte es geschafft, mit seinen Quadratsätzen den meisten Mädchenköpfen Dummheit einzutrichtern. Sie hatte nicht gewagt, mit ihm zu reden.

Und nun wagte sie nicht, mit Mr. Mayfield zu reden. Er sprach im Grunde auch nicht mit ihr. Er fragte Mrs. Mayfield: „Wie macht sie sich?“ – „Gut, glaube ich.“ – „Und wie geht es in der Schule?“ – „I think, she is a clever girl. Aren’t you, Inger?“ fragte Mrs. Mayfield. So verliefen ihre Gespräche mit Mr. Mayfield.

In diesem Herbst kämpften in den USA Nixon und Kennedy um die Macht. Als das Wahlergebnis verkündet werden sollte, geschah etwas Ungewöhnliches. Das Radio im Eßzimmer wurde eingeschaltet. „Ich hoffe bloß, daß dieser Kennedy nicht gewinnt!“ sagte Mrs. Mayfield aufgeregt. Inger ihrerseits hoffte auf seinen Sieg. Er sah doch einwandfrei besser aus. „Warum mögen Sie ihn nicht?“ fragte sie. „Er ist Katholik!“

Das Wort wurde ausgespuckt. „Roman Catholic.“ Vor allem „Roman“. Daß es möglich war, Neger und Zigeuner und Deutsche auszuspucken, wußte sie ja schon. Aber sie lernte immer noch dazu. Unter diesen Umständen war das Wahlergebnis ja heiter. Und als Mrs. Mayfield ihre Enttäuschung zum Ausdruck gebracht hatte, fragte Adam: „Mummy, sind die USA eine Kolonie?“ – „Nein, mein Lieber“, antwortete Mrs. Mayfield. „Jetzt nicht mehr.“ Das klang so, als ob die USA sich erst am Vortag losgerissen hätten. „Aber was ist mit Kanada? Ist Kanada eine Kolonie?“

„Eine Art Kolonie“, antwortete sie. „Kanada ist ein Dominion.“

„Was ist ein Dominion? Gehört uns das nicht?“ fragte er.

„Naja“, meinte Mrs. Mayfield und sah ihren Mann an. „Was ist eigentlich ein Dominion, Charles?“

Charles trank einen Schluck Tee: „Ein Dominion regiert sich selbst.“ – „Aber wie kann es sich selber regieren, wenn es uns gehört?“ fragte Adam. „Das verstehst du noch nicht, Adam. Hör auf zu quengeln. Don’t be a nuisance!“ sagte Mrs. Mayfield. „Aber ist die Königin nicht auch Königin von Kanada?“ Er ließ nicht locker.

„The dominions are autonomous communities within the British Empire, equal in status, in no way subordinate one to another in any aspect of their domestic or external affairs, though united by a common allegiance to the Crown and freely associated as members of the British Commonwealth of Nations“, sagte Inger.

Alle starrten sie verblüfft an. „Das war sehr beeindruckend, Inger“, sagte Mrs. Mayfield. Inger sonnte sich in diesem Lob. „Wo hast du das gelernt?“ – „In der Schule.“

„Lernt ihr sowas in der Schule?“ – „Ja, genau das lernen wir“, wollte sie sagen, aber sie hatte nicht gelernt, daß es auf Englisch heißt „that’s what we do learn“, und wieder stotterte sie eine Antwort hervor, die steckenblieb. Aber Adam lachte. „Kannst du das nicht noch einmal sagen?“

„Das ist The Statute of Westminster“, erklärte Mr. Mayfield. „Es ist 1930 beschlossen worden.“ Er nickte anerkennend.

„1931“, korrigierte Inger.

Tiefes Schweigen folgte. Wenn sie es doch dabei belassen hätte! Diese unwiderlegbare kleine Jahreszahl! Aber nein. Das tat sie nicht.

Gerade zu diesem Zeitpunkt wurde ihr Selbstvertrauen in einem ganz anderen Zusammenhang gestärkt. Sie machte ihre ersten Examen in Englisch für Ausländer und bestand alle. Das war in der Geschichte des Hauses noch nicht vorgekommen. Hannelore war im Lower Cambridge durchgefallen und hatte London Stage I und II geschafft, die norwegische Bjørg hatte es genau umgekehrt gemacht, Heidi hatte allesamt verbaut, und bald wußte Inger genau, welche Examen die anderen acht Mädchen im Haus geschafft hatten oder nicht, und der Abendkessel pfiff seinen klagenden Ruf durch das Haus, und Daddy kam nach Hause. Natürlich galten die Regeln für Butter und Margarine mit oder ohne Marmelade für ihn nicht. Er beschmierte immer alle Brotscheiben dick mit Butter und Marmelade. Als er an diesem Tag Toast mit Butter und Marmelade verzehren wollte, hielt seine Hand mitten über der spiegelglatten Tischplatte inne.

Sie hatten jetzt die Erdbeermarmeladenwoche erreicht. Aber in der Schale schwamm nur ein trauriger Rest Saftmasse mit charakteristischen schwarzen Erdbeerspuren, Beeren gab es nicht. Mr. Mayfield sah seine Frau an: „Willst du wirklich behaupten, Inger sei schon zwei Monat hier und wisse immer noch nicht, wie sie die Marmeladenschale zu füllen hat.“

Mrs. Mayfield keuchte leise auf, tiefe Panik verbreitete sich, umfaßte alles, was auf dem Tisch stand, Duncan sprang auf, stürzte hinaus und kam mit dem großen Marmeladenglas zurück, das er vor seinen Vater stellte – was in der langen Geschichte dieses Einweckglases noch nie vorgekommen war. Inger aber war wütend.

Es war zehn vor sechs. Das bedeutete, daß sie frühzeitig vom Tisch aufstehen und in die Schule gehen durfte. Sie stand auf und ging in ihr Zimmer. Sie suchte Schulsachen, Mantel und Handschuhe zusammen. Jetzt reicht es. Jetzt ist aber wirklich Schluß. Sie zitterte vor Wut. To commit a crime. Jam dish. Jam dish! Pfui Spinne. Sie wiederholte den Satz im Kopf. Sie hatte ihn jetzt klar vor Augen. Jedes Wort. Kein Zögern. Ein korrekter englischer Satz. Den sollte Daddy an den Kopf kriegen. Sie marschierte durch den Flur, riß die Eßzimmertür auf und schrie: „You don’t have to treat me as if I have committed a crime, just because I haven’t filled up the Jam-dish!“ Dann knallte sie die Tür zu und stürzte aus dem Haus.

Am nächsten Morgen redete niemand mit ihr. Als alle gegangen waren, holte Inger den Hoover aus dem Kabuff. Der große, braune Sack hing an der Stange. Jetzt sind alle gegen mich, dachte sie. Jetzt habe ich nur noch den Hoover. Nicht einmal Sheila hat meine Rebellion gutgefunden.

Mrs. Mayfields Schritt war auf der Treppe zu hören. Sie war schon mehrmals vorbeigekommen. Sie wollte heute zur Friseuse, und Inger freute sich darauf, daß sie ging. „Inger, komm her!“

Mrs. Mayfield stand dicht hinter ihr. Sie führte sie in Daddys Zimmer. Mrs. Mayfield schaltete das Deckenlicht ein und stellte sich mitten ins Zimmer. Inger blieb auch stehen und sah sie an. Mrs. Mayfield zitterte vor Wut. „Daddy ist es nicht gewöhnt, daß man so mit ihm spricht. Er ist ein wichtiger Geschäftsmann. Er ist Chartered Accountant. Er war schon zweimal in Amerika. Er hat mit vielen Menschen gesprochen. Er ist Oberstleutnant. Er hat im Krieg gekämpft. Er hat zusammen mit Monty gekämpft. Er hat die Schlacht von El Alamein gewonnen.“

Inger hatte nie von der Schlacht von El Alamein gehört. Sie starrte den Teppich an. Das Muster prägte sich ihrem Auge ein. Langsam hob sie den Kopf und sah Mrs. Mayfield voll in die Augen. „Das alles bedeutet nicht, daß er immer recht hat.“

Mrs. Mayfield stieß einen kurzen, vernehmlichen Seufzer aus, und verwirrt rutschte es ihr heraus: „Fast immer, Inger!“ Dann änderte sie ihre Haltung, schlug mit einem Handschuh auf den anderen und sagte: „Du bist noch nicht mündig. Wir haben hier für dich die Verantwortung. Und wenn du dich nicht nach unseren Anordnungen richten kannst, müssen wir dich nach Hause schicken.“

In alle Winde

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