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Die Burg

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Nach einem alten Brauch in Edinburgh wird Arthur’s Seat in der Nacht zum 1. Mai bestiegen, und oben wird ein Gottesdienst abgehalten. Der Berg liegt baumlos wie ein grünes Stück Highlands mitten in der Stadt, es ist ein langer Marsch bis nach oben, und wer hier sein Gesicht mit Tau benetzt, bekommt die ewige Jugend.

Zusammen mit anderen Skandinavierinnen und Bürgern der Stadt, alten und jungen, sieht Inger die Sonne mitten über dem Firth of Forth aufgehen, und sie benetzt ihr Gesicht mit Tau. Sie glaubt nicht an die Prophezeiung und ist froh, daß sie unwiderruflich älter wird.

Bin ich ein besserer Mensch geworden? Was soll ich werden? Eine Frau, die Frauen liebt? Die eine hat die andere abgelöst. Es kommt zu keinem Ende. Und jetzt liebe ich eine einzige. Ich weiß es, und ich sehe es, denn sonst wäre der Sonnenaufgang dort über den Lowlands niemals so schön gewesen.

Durch Lärm und Geknister sind ganz weit weg Stimmen zu hören. Inger hat am Radio gedreht und gedreht und preßt jetzt ihr Ohr an das braune Radio in der Küche. Da kommt es! Da kommen die Flaggen durch das Radio. Sie spielen norwegische Marschmusik, und die Blaskapellen spielen ihr Umpa Umpa unter dem Frühlingsbäumen, quer über die Nordsee. Jetzt sind zu Hause die Abiturienten unterwegs. Jetzt erklingt ihr Gebrüll durch Nygaardsgata. Inger preßt ihr Ohr ans Radio und weint.

In einer späten, späten Frühlingsnacht geht sie zusammen mit Ella durch Princes Street. Überall an ihren unsichtbaren Aufenthaltsorten zwitschern die Vögel, die Straßen sind menschenleer, hell und still. Sie setzen sich am Fuße des Scott Monuments, mitten in Princes Street. Dort erzählen sie einander von zu Hause. Sie reden von ihren Vätern, und wie unmöglich es war, dort zu bleiben.

Ella ist witzig und hübsch. Sie ist die beste Freundin unter den Norwegerinnen, die Inger hier gefunden hat. Damals, zu Weihnachten, als sie beschlossen hatte, zurückzufahren, sagte Ella: „Nein, bleib hier! Ich muß doch bis Juni hierbleiben!“

Es ist das beste, was ihr in diesem ganzen Jahr in Edinburgh jemand gesagt hat. Jetzt wird die Stadt bald von ihren Ausländerinnen verlassen und von neuen gefüllt werden. Ella erzählt von einem Jungen, den sie in Bergen geliebt hat, oder eigentlich einem Mann, er war siebenundzwanzig, und er hat sie betrogen. Sie bleiben lange vor dem Denkmal sitzen. Inger weiß plötzlich, daß sie Ella alles erzählen kann. Sie traut sich nicht, will sie aber auch nicht verlassen. Sie verabreden sich für den nächsten Tag. Sie wollen das Castle besichtigen.

Der 18. Mai war ein unglaublich heißer Tag. Ein funkelnd klarer Sommertag von der Sorte, der der Natur der Stadt zu widersprechen scheint, ihren düsteren Gebäuden und uralten Türmen – und gerade deshalb war er heißer und klarer als alle anderen Sommertage, die sie erlebt hatten.

Ella und Inger fuhren mit Bus Nr. 8 vom East End über The Bridges in die Altstadt, wo Inger in den Buchladen Thin wollte, ehe sie zum Castle gingen, und das war eigentlich ein Umweg. Es wäre kürzer gewesen, Bus 23 oder 27 über The Mound zu nehmen. Aber Inger hatte eine ganz besondere Absicht. Eine Hoffnung, die in ihr aufgestiegen war, als sie die Sonne aufgehen gespürt und gemerkt hatte, wie sehr sie sie durchwärmte und im Laufe des Vormittags immer stärker wurde. Ihre Hoffnung war mit der Sonne verwandt, und sie mußte sich einfach in ihre Richtung strecken, egal, wie vollständig und unbegreiflich schwachsinnig, dumm, lächerlich, unglaublich und unverständlich diese Hoffnung auch sein mochte. Wie konnte sie überhaupt auf so eine Hoffnung verfallen, es war so unbeschreiblich dumm, daß es wirklich ein Glück war, daß niemand eine Ahnung davon hatte, denn die Hoffnung bestand darin, daß sie und Ella, wenn sie gerade diesen Weg zum Castle gingen, durch Chambers Street, am Old Quad vorbeikommen würden, wo vielleicht Sheila saß.

Was in aller Welt läßt mich Umwege gehen, nur um sie fünf Sekunden lang zu sehen, wo ich sie doch jeden Tag – morgens, mittags und abends – sehe, beim Spülen, in der Freizeit, am Abend, an den Wochenenden, sie sehe, immer wieder, immer kommt sie zurück, nichts ist sicherer als das – Sheila kommt, sie taucht auf, plötzlich ist ihr Gesicht da, und sie sagt: „Hello, honey-bun!“ oder sowas, was sie gern sagt, immer sehe ich sie, niemanden sehe ich so oft wie sie, mit niemandem rede, juxe, spiele, lache und singe, scherze, streite, esse ich so oft wie mit ihr. Warum in aller Welt mache ich also Umwege, um sie noch öfter als ohnehin schon zu sehen? Ich muß doch verrückt sein!

Völlig verrückt und ganz außer sich vor innerer Unruhe und wachsender Hoffnung nimmt Inger zusammen mit Ella den Bus Nr. 8 über The Bridges, geht in den Buchladen, wo es gar nicht schwierig ist, ein Buch zu finden, das sie gern kaufen will; bewaffnet mit diesem Buch, einem historischen Atlas von Schottland mit witzigen Bildern von allen verlorenen Schlachten und Siegen, trotz allem – so bewaffnet schreiten sie dann Chambers Street hoch in Richtung The Castle, und nicht wieder abwärts in Richtung High Street, was doch kürzer wäre, nein, nicht nur kürzer, sondern, offen gesagt, eine Abkürzung, die ihnen etliche Blocks ersparen würde, aber Ella läßt sich leicht leiten, sie braucht keine besondere Erklärung dafür, daß sie unbedingt durch das Unigelände müssen, überall wimmelt es von Studenten, niemand trägt jetzt noch einen Schal, sie laufen mit ihren Büchern herum, sitzen, lungern, stehen und reden, manche umarmen einander, blicken sich tief in die Augen, hängen intellektuell aneinander, voller Wissen und Liebe, und Inger und Ella schreiten an ihnen vorbei, und als sie am Old Quad und den alten Gebäuden aus dem 18. Jahrhundert vorbeikommen, hören sie plötzlich von der Universitätstreppe vor dem Heriot Watts College einen munteren Ruf: „Hey, you two!“ und dann ein Lachen. Dort sitzt Sheila und hält ihr Gesicht in die Sonne und versucht energisch, braune Arme und Beine zu bekommen, sie sitzt da mit ausgestreckten Beinen, im Sommerkleid, mit einem Ordner auf dem Schoß, und sie sieht sie sofort, sie sehen einander fast im selben Moment, und genau in dem Augenblick, als sie einander gleichzeitig entdecken, erlebt Inger das plötzlichste und stärkste Glück ihres neunzehnjährigen Lebens.

Ganz unvorbereitet ist sie darauf, daß Sheila, der einzige Grund, warum sie überhaupt hier vorbeigeht, tatsächlich da sitzt. Es ist die größte Überraschung ihres jungen Lebens, und es wirft sie vollständig aus der Fassung.

Daß diese Freude so aussehen, explodieren, alle Gebäude und Treppen in ihrer Umgebung, den Himmel über ihnen, Trottoir und Straßen verwandeln und umformen könnte und sie vor Schönheit brausen lassen sollte – nein, das hatte sie nicht erwartet. Es kommt ganz überraschend, verwirrt sie und macht sie nicht wenig verlegen. Aber mißzuverstehen ist es nicht.

„Was macht ihr hier?“ ruft Sheila. „Wir machen Sight-Seeing“, ruft Inger zurück. Und das ist ja auch keine Lüge. Sie macht das wunderbarste Sight-Seeing ihres Lebens. Sie fügt hinzu: „Wir wollen uns Edinburgh Castle ansehen.“ Dann gehen sie vorbei. Sie gehen weiter bis zur Ecke. Aber als ihr klar wird, daß Sheila sie in der nächsten Sekunde nicht mehr sehen kann, dreht sie sich um, sie muß sich einfach umdrehen, um sie noch einmal zu sehen, und um zu sehen, ob Sheila ihr nachblickt, und das macht Sheila – sie schaut ihnen nach, und als sie sieht, daß Inger das sieht, hebt sie den Arm, einen nackten, sonnenverbrannten Arm, und winkt, und wieder bringt sie Schönheit über den ganzen Stadtteil.

Es ist vorbei. Ich habe sie gesehen. Und jetzt sehe ich sie nicht mehr. Eine seltsame Wehmut, fast wie Übelkeit, überkommt sie. So kurz!

Ein furchtbarer Schwindel überkommt sie, als sie die Ecke hinter sich gebracht haben. Es ist ein ganz unbekanntes Gefühl. Und die Sonne, die jetzt noch heißer ist als vorhin, verstärkt das Gefühl, daß alles, was sie um sich sieht, nicht wirklich ist, weil es so entsetzlich klar ist. Die Beine können sie fast nicht durch diese ganze Klarheit tragen.

Sie kann nichts sagen. Sie reden sonst immer sehr lebhaft. Vor Chambers Street hatten sie ununterbrochen geredet. Und jetzt – ist sie stumm. Sie schämt sich. Sie hat das entsetzliche Gefühl, Ella betrogen zu haben, sie in die Irre, hinters Licht, auf Abwege geführt zu haben, auf perverse und widernatürliche Umwege. Und Ella war ganz ahnungslos mitgegangen.

Verstehst du das, Ella? Weißt du, was geschieht? Dieses Licht und dieser Schwindel, die in allem liegen, spürst du sie nicht auch? Kennst du ihre Ursache? Furcht packt Inger. Ella kann es sehen, kann alles durchschauen! Und gegen jedes Naturgesetz tragen ihre Beine sie weiter, The Royal Mile hinauf.

Hier ist schon Maria Stuart gegangen. Hier sieht Inger all die alten Häuser mit ihren seltsamen Läden, Pfandleiher im Souterrain, lebhafter Verkehr, Schotten in karierten Röcken auf der Esplanade, das alles ist plötzlich schöner, klarer, stärker als jedes Bild oder jeder Roman, den sie gelesen hat, obwohl nichts so schön war wie das, aber nicht einmal der schönste Traum von Schlössern und Türmen aus der Märchenwelt kann sich mit den wirklichen Türmen und Schlössern messen, den echten alten Steinen, hier ist St. Margaret’s Chapel, das älteste Gebäude der Stadt, ziemlich klein, hier ist The Banqueting Hall mit ihrem blanken Boden und dem Brausen vergangener Bälle, hier sind Kronjuwelen und Kanonen, hier liegt die Burg, hier erhebt sie sich über Princes Street Gardens, die da mit ihrer Flower Clock mit – wie es heißt – nicht weniger als elftausend kleinen Blumen, die Ziffernblatt, Ziffern und Zeiger bilden, in der Tiefe liegen, als sei hier die ganze Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengefaßt in einer blühenden Zeitangabe. Und hier steht eine Norwegerin, die gerade die Liebe entdeckt hat.

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