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Moral, Reihnähte und Kartoffeln

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Evelyn saß am Eßtisch, bewaffnet mit Gyldendals Wörterbuch. Sie schlug das Wort „rude“ nach. Unhöflich, unverschämt, brutal, ungehobelt, unfein. Evelyn bezweifelte das keineswegs.

Sie hoffte, daß Paula bald nach Hause käme. Paula hatte immer kluge Kommentare zu Ingers neuem Dasein, und Evelyn übersetzte ihr alle Briefe.

Paulas unerwartetes Eintreffen war wie ein Segen gewesen. Nach fünf Minuten Bedenkzeit war sie mitgekommen, und jetzt – über zwei Monate später – war sie noch immer hier. Der Rest der Familie war verärgert. Sie hatte doch alle besuchen wollen, und statt dessen saß sie in Bjørnegården und lachte. Ørnulf war in seinem Element. Denn Paula war, wie er sagte, etwas sehr Seltenes: eine intelligente Zuhörerin. Sie verstand seine phantastischen Pointen. Deshalb hatte Evelyn sie lieber für sich.

Mrs. Mayfields Brief war mit viereckiger, deutlicher, penibler Schrift verfaßt worden. Durch Ingers zahllose Briefe hatte Evelyn sich schon längst ein Bild von ihr gemacht. Mrs. Mayfield erschien ihr als die Inkarnation von Schrecken, Grausen und Topfblumen. Evelyn hatte Hausarbeit noch nie leiden können, und diese Abscheu hatte sie mit großer Leidenschaft an Inger weitergereicht. Zu Hause hatten sie immer feste Haushaltshilfen gehabt. Evelyn war mit einigen von ihnen dick befreundet gewesen, und als sie heiratete, konnte sie nicht einmal Makkaroni kochen.

Evelyn hörte nicht zum erstenmal Klagen über Inger. Im Laufe der Jahre hatte in den Zeugnissen in der Rubrik „Betragen“ allerlei gestanden. Einmal hatte sie einen Tadel mit nach Hause gebracht, weil sie die Armlöcher der Bluse, die sie im Handarbeitsunterricht nähen sollte, zusammengenäht hatte. „Ich hab bei der Bluse einfach nicht kapiert, wo oben und unten war, Mama!“ erklärte Inger. Und Evelyn glaubte ihr. Fräulein Grytum jedoch glaubte, Inger habe die Klasse zum Lachen bringen wollen. Und das war ihr gelungen, die ganze Klasse hatte gelacht, und verzweifelt hatte Fräulein Grytum gerufen: „Du bist nonchalant und arrogant! Geh an deinen Tisch und trenn die Reihnaht wieder auf!“ – „Und dann?“ hatte Evelyn gefragt. „Ich habe sie gefragt, was diese Wörter bedeuten“, sagte Inger. „Das kannst du zu Hause nachschlagen“, antwortete die Lehrerin. Und Inger bekam eine schlechte Note in Handarbeit und einen Tadel mit nach Hause. Aber sie hatte zwei neue Fremdwörter gelernt.

Evelyn hatte über solche Tadel nur lachen können. Vielleicht war das ein Fehler. Aber sie hatte immer gedacht: Ihr könnt über Inger sagen, was ihr wollt, aber ehrlich ist sie jedenfalls! Das war das wichtigste von allem. Aber jetzt lachte sie nicht. Inger war unglücklich, und darüber war Evelyn unglücklich. Sie fror mit Inger und knallte mit ihr die Tür. Alle Moral schien in der Reihnaht zu sitzen, in der Marmeladenschale zu hausen. Ganz Fredrikstad war von dieser Moral durchsäuert. Die Klage der Nachbarn, die Evelyn nach den ersten drei Wochen in Bjørnegården übermittelt worden war, hatte sie nie vergessen. Familie Holm war von unbekannter Seite darauf aufmerksam gemacht worden, daß noch immer keine Topfblumen in den Fenstern standen.

Nun war Inger an so einen Ort gekommen. Evelyn griff zu Papier und Kugelschreiber. Den letzten Brief auf Englisch hatte sie mit sechzehn Jahren geschrieben. Ihre Gedanken wurden ganz kindlich. Ob Mrs. Mayfield daran dachte? Wie reduziert man in einer fremden Sprache wird? Neun Au-pair-Mädchen hatten sie gehabt. Evelyn kannte all ihre Namen. Hatte Mrs. Mayfield nichts gelernt?

Evelyn versuchte, sich Mrs. Mayfields Leben vorzustellen. Während des Krieges war sie mit zwei Kindern allein gewesen, eines davon war zurückgeblieben. Und vielleicht hatte Mr. Mayfield davon nichts gewußt. Hatte sie sich in all den Jahren vor dem Moment gefürchtet, in dem er es erfahren würde? Hatte es in Edinburgh Fliegeralarm gegeben? Kartoffelschlagen? Hatte sie in einem Keller gesessen, ihren Ältesten an sich gedrückt, und sich vor dem Tag gegraust, an dem sie ihn würde vorzeigen müssen? Einem Mann, den sie fast nicht kannte? Wie war Mrs. Mayfields Leben? Hatte sie vielleicht gar kein Herz?

Während sie die ersten, unüberlegten Worte schrieb, wußte Evelyn, daß Mrs. Mayfield irgendwo ein Herz hatte, und diesem Herzen wollte sie jetzt schreiben.

Ørnulf kam zur Küchentür herein. Er blieb mitten im Zimmer stehen. „Wo ist Paula?“ – „In der Stadt“, antwortete Evelyn und blickte nicht gleich auf. Sie war tief beeindruckt, denn gerade war ihr eingefallen, daß es: „Yours sincerely, Evelyn Holm“ hieß. „Ørnulf, schau her!“ Ørnulf las über Evelyns Schulter hinweg Mrs. Mayfields Brief. „Was zum Teufel!“ sagte er. Dann lief er wortlos im Zimmer auf und ab. Schließlich blieb er vor Evelyn stehen und sah sie an: „Meinst du, ich sollte rüberfahren?“

Am nächsten Tag kam ein langer Brief von Inger, der ausführlich beschrieb, wie die Erdbeermarmelade aussah, wie das Einweckglas beschaffen war und wie die Tür zugeknallt wurde. Abends saßen sie alle drei in tiefen Zweifeln da. „Inger ist wirklich in einem strengen Haushalt gelandet“, sagte Paula. „Wie früher bei mir zu Hause. Findest du es keine gute Idee, daß Ørnulf rüberfährt und sich Respekt verschafft?“

„Aber er kann doch kein Englisch!“ sagte Evelyn.

„Yes, I can talk English“, sagte Ørnulf mit leicht affektiertem Trønder-Akzent. „Or I can talk German“, fügte er hinzu.

„Willst du deutsch mit dem Mann sprechen, der die Schlacht von El Alamein gewonnen hat?“ fragte Paula.

„I can talk to him with this!“ sagte Ørnulf und zeigte seine großen Hände. „With these“, korrigierte Paula. Sie war Englischlehrerin. „With these“, wiederholte Ørnulf, wie ein braver Schulbub.

Aber Evelyn hatte Bedenken. Im Geiste sah sie Ørnulf schon auf der Aberdeen Road, um Mr. Mayfield zu Brei zu schlagen. „Du wärest besser in der Zeit der Blutrache geboren, da hättest du dich viel wohler gefühlt“, sagte sie. Paula lachte.

„Mr. Mayfield ist sicher ein sehr großer Mann“, fügte sie hinzu.

„Jam-dish!“ sagte Ørnulf. „Ich werde ihm seine verdammte Jam-dish sonstwohin stecken!“

Evelyn und Paula wechselten einen raschen Blick, mit der seltsamen Mischung von Beunruhigung und Lachlust, wie so oft bei seinen Bemerkungen. „Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist, Ørnulf“, sagte Evelyn. „Die Schlacht von El Alamein!“ schnaubte Ørnulf. „Der kriegt soviel Marmelade von mir, daß er erst im nächsten Jahrtausend wieder eine Beere ansehen wird.“

„Endlich wird Rommel gerächt“, sagte Paula. Ørnulf sah sie belustigt an und fühlte sich wohl, auch wenn die Zeit der Blutrache vorbei war. „Kommst du mit?“ fragte er.

„Was? Nach Edinburgh?“ Paula lachte.

„Ja“, sagte er. „Du bist doch eine Frau von schnellen Entschlüssen.“ Er legte den Kopf schräg. Er sah wirklich gut aus.

„Nicht ohne Evelyn“, antwortete Paula.

„Ørnulf, wollen wir sie bitten, nach Hause zu kommen?“

Nun schwiegen alle drei. Ørnulfs und Evelyns Augen begegneten einander. „Wir rufen an.“

Das sagten sie im Chor, wortwörtlich. Jetzt verlangte es die Regel, daß sie die kleinen Finger ineinander hakten, die Hände dreimal hoben und senkten und dann einen Dichternamen sagten. Nach einer stillschweigenden Übereinkunft in der Familie Gjarm waren das immer Bjørnson oder Ibsen. Ørnulf und Evelyn verschränkten die Finger, eins, zwei, drei, in stummem Takt. Dann riefen beide: „Bjørnson!“

Jetzt durften sie sich etwas wünschen. Evelyn wünschte, daß Inger nicht so unglücklich sein sollte. Ørnulf wünschte sich einen Schnaps. Etwas anderes fiel ihm so schnell nicht ein. Im Moment fühlte er sich so seltsam wohl.

Inzwischen beschloß Inger, Edinburgh zu verlassen. Die Familie strafte sie mit Schweigen. Eine verblüffende Waffe. Alle, außer Glen, der mit ihr redete, wenn niemand es hörte. Nicht einmal Sheila, die hinter dem Rücken ihres Vaters jeden Tag fluchte und schimpfte, sagte etwas. Sie würde sicher so werden wie ihre Mutter. Hier konnte Inger nicht bleiben. Jetzt mußte sie sich sputen, soviel wie möglich von der Stadt zu sehen, ehe es zu spät war. Sie kannte noch nicht einmal das Zimmer, in dem David Rizzio ermordet worden war. Denkmäler für Morde gab es hier genug, aber sie hatte nur the sweeper and the Hoover gesehen. Und the mopper natürlich.

Drei Tage später stand sie wieder in Daddys Zimmer. Diesmal mit Daddy himself. „Inger“, sagte Daddy, er stand vor ihr, die Daumen in die Weste gehakt, das eine Bein vorgeschoben, und sein Gewicht ruhte auf der Ferse. „Ich bin davon überzeugt, daß du ein intelligentes Mädchen bist.“ – Aber? dachte Inger. „Ich glaube auch, daß du viele Möglichkeiten hast“, fuhr er fort. Aber? dachte Inger. „Aber“, sagte Daddy Mayfield und legte eine kleine Kunstpause ein. „Du mußt lernen, dich zu beherrschen.“ Er blickte sie aufmerksam an und hob dabei die leicht spitzen Augenbrauen. „Inger“, sagte er, änderte seine Haltung ein bißchen und rieb sich unter dem Kinn. „Du sollst wissen, daß ich gern möchte, daß du bleibst.“ – Ach? dachte Inger. „Wir haben heute einen Brief von deiner Mutter bekommen, und sie schreibt – was ich für richtig halte –, daß du im Grunde selber entscheiden mußt, ob du bleiben willst oder nicht“, erklärte Mr. Mayfield. Wieso bildet der sich ein, er könnte meiner Mutter irgendwo recht geben? dachte Inger. „Und ich glaube, wenn du dich entschließt, in meinem Haus zu bleiben, wirst du feststellen – wenn dieses Jahr vorbei ist –, daß du...“ Er grübelte ein Weilchen nach einem passenden Ausdruck, „ein besseres Mädchen geworden bist.“

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hatte Mr. Mayfield direkt mit seinem Au-pair-Mädchen gesprochen.

„Yes“, sagte sie. Mehr fiel ihr nicht ein. Sie hoffte innig, Mr. Mayfield möge recht haben. Sie wollte doch nichts lieber, als ein besserer Mensch zu werden. Sie war schließlich ins Ausland gefahren, um verwandelt zu werden. Und sie hatte bisher noch nicht viel von einer Verwandlung bemerkt. Sie war noch immer dieselbe alte Inger, auf zwei Beinen, und kein bißchen dünner. Jedesmal, wenn sie sich im Spiegel ansah, war sie dieselbe. Und sie war noch genauso trotzig wie früher und dachte nicht einen Moment an das Wohl und Wehe der Familie. Sie versank in Selbstvorwürfen. Eigentlich hatten sie ja ziemliches Pech, daß sie ausgerechnet sie ins Haus bekommen hatten. Sie hatte Heimweh. Hier war es schrecklich. Aber das tat ihr gut. Sie brauchte es, daß es ihr schlecht ging. Und wie würde sich ihr Aufenthalt in Edinburgh im Rückblick ausnehmen, wenn sie jetzt abbrach? Mama rief an. Ingers ganzer Kopf war von Weinen erfüllt. Und da war auch Ellens leichter Atem im Hörer. Weit, weit weg. „Sie hat sicher einen Schrecken bekommen.“ – „Was hast du im Brief geschrieben?“ – „Daß du nicht so schrecklich bist, wie sie meint“, antwortete Mama.

Am Samstag morgen brachte Mrs. Mayfield die allwöchentliche Pfundnote. Das machte sie jeden Samstag, immer zur gleichen Zeit und auf die gleiche Weise. Der Geldschein sah frischgewaschen und frischgebügelt aus und stand senkrecht auf ihrer Hand. „Here is your pound, Inger.“ Als diese feierliche Übergabe zum erstenmal stattgefunden hatte, war Inger so verdutzt gewesen, daß sie sagte: „Den habe ich doch nicht verdient.“ Diesmal fügte Mrs. Mayfield hinzu: „Und ich wollte dir noch sagen, daß ich in dieser Woche mit dir sehr zufrieden gewesen bin.“

Zufrieden? Satisfied. Mrs. Mayfield war satisfied. Diese Worte machten einen so tiefen Eindruck auf Inger, daß sie beschloß, in Schottland zu bleiben. Sofort ging sie in die Küche und schälte Kartoffeln. She did the potatoes. Die Kartoffeln wurden mit einer Kartoffelschälmaschine geschält. Das war ein gelber Topf mit Deckel. Innen am Deckel waren einige Metallfinger und außen eine Kurbel befestigt. 45 Umdrehungen der Kurbel waren nötig, und die Kartoffeln kamen total deformiert wieder heraus, immer noch mit der Hälfte der Schale. Der Erfinder dieser Kartoffelschälmaschine mußte geglaubt haben, alle Kartoffeln seien rund wie Tennisbälle und ebenso groß. Deshalb mußte Inger danach noch zum Potatopeeler greifen. The potatopeeler war ein gewöhnlicher Kartoffelschäler, nur etwas flacher als der durchschnittliche norwegische Kartoffelschäler. Inger kurbelte und zählte. Eins, zwei, drei, vier. Hier mußte sie ihre Kräfte anwenden. Kurbel, kurbel, kurbel. Neun, zehn, elf, zwölf, zählte sie. Denn obwohl sich ihr Kopf inzwischen mit allerlei englischen Wörtern gefüllt hatte, so sind doch die heimischen Zahlen das letzte, was verschwindet.

Überall wird der Kopf von englischen Wörtern infiltriert, nur die Zahlen bleiben. An Standhaftigkeit werden sie nur noch von Flüchen übertroffen. Flüche sind die treuesten Vokabeln überhaupt. Au! Igitt! Pfui! Mist! Hier stand sie nun. Sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn. Die Kartoffeln kämpften gegen ihr Schicksal. Wie viele Zahlen werde ich gezählt haben, ehe ich meinen Fuß wieder auf norwegischen Boden setzen kann? Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig. Wenn ich jeden Tag kurbele und zähle? Das Jahr hat 365 Tage. Zweiunddreißig, dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig. Muß ich wirklich so lange hierbleiben? Wie soll ich das aushalten? Vierzig, einundvierzig, zweiundvierzig, dreiundvierzig. Ich kann es aushalten, wenn ich zähle. Wenn ich zähle, vergeht die Zeit schneller, sie läuft davon, vierundvierzig, fünfundvierzig, sechsundvierzig, aus purem Trotz, eine Extraumdrehung mit der Kurbel. Dann ging sie in ihr Zimmer, nahm einen kleinen Block und schrieb: 365 × 45 = 16 425.

Nach 16 425 Kartoffelschälumdrehungen wäre dieses Leben vorbei. Nach 16 425 Kartoffelschälumdrehungen wäre sie endlich ein neuer und besserer Mensch geworden. Dann marschierte sie in the scullery und informierte Mrs. Mayfield über das Resultat ihrer Berechnung.

Und Mrs. Mayfield lachte.

In alle Winde

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