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Die Welt und die Frauen
ОглавлениеInger dachte an Mamas Worte. Ich bin froh, daß du Sheila hast. Sie sehnte sich danach, Mama zu sagen, wie recht sie hatte. Aber nie im Leben würde sie es schaffen, ihr das zu erzählen.
Inger war in der Hoffnung in die Welt gezogen, die Frauen würden verschwinden. Aber die Welt war voller Frauen. Dicke, dünne, breitschultrige und schmächtige, Frauen mit genau der richtigen modischen Figur, Frauen mit hochgestecktem Haar und Frauen mit wilden Locken, die unbedingt geschüttelt werden wollten. Manche waren so schön, daß Inger sie nicht ansehen konnte. Deshalb machte sie es, immer wieder, und wurde geblendet. Viele riefen und zogen sich zurück, und andere waren ganz grau und taten so, als wären sie gar nicht vorhanden, und wenn sie sich so einer Frau näherte und etwas Lustiges sagte, dann konnte auch so eine Frau plötzlich aufleuchten und schön werden. Die meisten hatten Fehler. Etwas zu breite Schultern, etwas zu breites Lächeln oder etwas zu kaninchenhaftes Lächeln oder ein Nase, die eigentlich eher ein Kloß war, und einige hatten das Pech, daß ihre Beine wie Säulen aussahen, aber es gab keine, die nicht schön werden konnte, wenn sie mit ihr sprach. Fast keine zumindest. Es gab ja auch ganz hoffnungslose, die niemals schön wurden, was sie ihnen auch sagte, aber das waren meistens solche, die ohnehin schon schön waren. Sie hielten sich für Filmstars. Sie lachten immer nur ihr Filmstarlachen, und was eigentlich in ihnen steckte, durfte nicht heraus. Denn etwas wohnte in allen Frauen, tief in ihnen allen wohnte ein schallendes und übermütiges Lachen, das nur darauf wartete, zu seinem Recht zu kommen.
Überall sah Inger Frauen. Sie wußte, daß das nicht richtig, war, aber trotzdem sah sie sie. Sie konnte im Bus sitzen und eine Frau sehen. Sie konnte sehen, wie diese Frau aufstand und daß sie schmale Hände und einen roten Pullover hatte. Die Frau konnte aus dem Bus aussteigen, und sie sah sie nie wieder. Trotzdem brannten sich Pullover und Hände fest, und sie wußte noch Monate – ja, Jahre – später, daß sie diese Frau gesehen hatte.
So konnte das nicht weitergehen. Aber auch in Edinburgh war die Welt voller Frauen. Hier gab es Ella Granli aus Bergen mit Lachen und Lippenstift, Birgitte aus Nakskov mit Erdbeermund und hohen Wangenknochen, Ricarda aus Wuppertal, groß und musikalisch, und Inger konnte sie sich nicht aus dem Kopf schlagen. Immer kam eine Frau, die sie sich nicht aus dem Kopf schlagen konnte, so war das Leben. Die Welt war immer voll von Frauen gewesen, und nun war sie voll von Sheila F. Mayfield (das F stand für Fiona, aber das war ein tiefes Geheimnis).
Sie stritten sich ziemlich oft. So ein Streit konnte aus nichts entstehen. Immer wieder heimste Sheila den letzten Stich ein. Nur selten behielt Inger das letzte Wort, weil sie auf Englisch daherhumpeln mußte. Sie mochte Sheila so gern, weil die immer den letzten Stich einheimste. War das etwa eine Grundlage, jemanden zu mögen? Es machte sie wütend und glücklich zugleich. Das war doch keine Stimmung, auf die sie sich verlassen konnte.
Warum besteht mein Leben aus dem Warten darauf, daß sie kommt? Das einzige, was eine Rolle spielt, ist, daß sie lieb zu mir ist. Wenn sie morgens, ehe sie geht, lieb zu mir ist, geht es mir den ganzen Tag gut, und ich schwebe mit the Hoover durchs Haus. Ist sie abweisend, dann ist alles ruiniert, und während sie in der Universität ihr Leben lebt und mich vergißt, wandere ich nur herum und hebe kleine Gegenstände in ihrem Zimmer hoch und wische den Staub von ihren Haarbürsten und hoffe, daß sie mit mir redet, wenn sie nach Hause kommt.
Inger machte aus Trotz Sheilas Zimmer nur schlampig sauber. Es war ihr schrecklich peinlich, daß sie ausgerechnet hier staubwischen mußte. Das schlimmste war, wenn Sheila manchmal zum Lernen zu Hause blieb. Dann sah sie Inger mit the Hoover.
Sie sangen zusammen. Und manchmal fielen sie plötzlich übereinander her und prügelten sich auf dem Boden. Dazu bin ich zu groß, dachte Inger. Aber sie genoß es.
Am nächsten Tag stritten sie sich wieder. Es reichte, daß Sheila, wenn Inger auf dem Weg aus dem Kohlenkeller mit Eimer und Schaufel an ihr vorbeikam, sagte: „Inger, bist du heute schlecht gelaunt?“ Dann wurde sie schlecht gelaunt, auch wenn sie das vielleicht vorher nicht gewesen war. „Nein!“ brüllte sie. „Das höre ich“, erwiderte Sheila.
Warum kann ich nicht darauf pfeifen, ob sie mich mag? Aber die Hand in der Finsternis der Pantomime, die hätte sie doch nicht dorthin gelegt, wenn sie mich nicht leiden könnte? Der Druck durch den Mantelstoff am Heiligen Abend war etwas anderes. Der hatte vielleicht daran gelegen, daß sie zu eng saßen. Aber es bestand nicht die geringste Möglichkeit, daß sie von der Hand in der Finsternis der Pantomime nichts gemerkt haben könnte. Ich habe nicht die geringste Macht über Sheilas Hand, dachte Inger, und es ist nicht mein Fehler.
Aber daß es so schön war, die Hand dort zu haben, das ist mein Fehler. Und daß es so gut war, auf dem Küchenboden zu liegen und um ein Kerngehäuse zu kämpfen, das ist mein Fehler, mein Fehler und nur mein Fehler. Sheila lacht. Ich auch. Aber wenn sie wüßte, warum ich gelacht habe, würde sie sofort aufhören zu lachen.
Wie oft soll das geschehen, während ich so tue, als ob nichts geschähe? Wie oft soll ich glücklich sein, weil ich mit einer anderen zusammen bin, und so tun, als ob ich nur lachte? Wie oft soll ich an eine andere denken, denken und hoffen, wenn ich genau weiß, daß ich nichts zu erhoffen habe? Soll ich so durchs Leben gehen? Soll ich durchs Leben gehen und so tun, als ob das Allerwichtigste nicht passierte?
Jetzt ist Schluß! dachte sie. Ich werde die Namen aller Frauen in meinem ganzen Leben aufschreiben, seit damals, als ich noch in Colletts gate wohnte und erst drei war, denn damals hat es angefangen, das weiß ich genau! – es hat mit Ulla Jespersen angefangen, in der Ecke, beim Fliegeralarm. Da saß sie zusammen mit ihren Freundinnen im Fahrradschuppen und lachte, zusammen mit den übrigen Hausbewohnern. Ich habe das nicht vergessen, und auch nicht, wie sehr ich mich darüber gefreut habe, daß sie da saß.
Sie nahm ihr Tagebuch und führte ihren Vorsatz aus. Es wurde eine lange Reihe Namen von Mädchen, die sie auf dieser Welt froh gemacht hatten. Sie endete mit: Sheila F. Mayfield, 6, Aberdeen Road, Edinburgh 5. I love you.
Inger starrte die Worte an. Das war pervers. Trotzdem hatte sie das geschrieben. Hier stand endlich das, was alle zum Kotzen gebracht hätte. Sie sehnte sich nach etwas, nach dem sich zu sehnen absolut verwerflich war. Sie wußte, daß sie kriminell wäre, wenn sie ihre Sehnsucht in die Tat umsetzte. Es gab Gesetze dagegen, das wußte sie. Aber um was es sich dabei genau handelte, wußte sie nicht. Sie sehnte sich nur danach, noch einmal um ein Kerngehäuse zu kämpfen. Inger starrte ihre verbotenen Worte an. Sie hatte schon einmal so etwas gemacht. Das war lange her. Sie hatte Gott erzählt, daß sie Beate liebte. Dann hatte sie die Blätter aus dem Buch gerissen und verbrannt. Jetzt versprach sie sich, diese hier niemals zu verbrennen. Nur wenn sie der Wahrheit ins Auge sah, konnte sie sie bekämpfen.
Dann lag sie zwischen ihren kalten blankets und sheets und bekämpfte die Wahrheit. Aber bald fand ihre Hand den Weg zu der Stelle zwischen ihren Beinen, und danach benahm sie sich wie ein Tier, mit ihrem Kopf konnte etwas nicht in Ordnung sein, so, wie sie sich aufführte. Sie beschloß jedesmal, daß nun aber das letztemal wäre, doch es passierte wieder, es passierte einfach, und sie mußte sich aufführen, als ob sie total wirr im Kopf wäre, und dann kam Sheila und legte mitten in der Finsternis der Pantomime die Hand auf ihr Knie, und sie explodierte vor Wonne.
Warum bin ich kein Mann? dachte sie. Wäre ich ein Mann, wäre das mit den Frauen völlig in Ordnung. Ich denke und fühle wie ein Mann, und hier stehe ich mit hochgesteckten Haaren mit fünfundzwanzig anderen Frauen vor einer Wand im Cavendish Ball Room und versuche, auf einen Mann zu hoffen, daß die Schwarte kracht. Da kommt sogar einer. Er sieht mich. Ich sehe, daß er mich sieht, und ich versuche, auszusehen, als ob ich ihn sehe, indem ich in die andere Richtung blicke, und vielleicht findet er mich hübsch, oder jedenfalls hübsch genug, um mit mir zu tanzen. Aber ich bin ein Wolf im Schafspelz.
Der Mann kam. Er war hübsch und dunkel und munter und hieß Ian MacNeal, und Inger versuchte, ihn zu sehen. Ihr Körper wollte tanzen und seinen Körper berühren. Ein Körper ist besser als kein Körper, und sie sollte Männerkörper berühren, wenn sie ihn nur oft genug berührte, würden all die Frauen vielleicht verschwinden.
Er brachte sie nach Hause und küßte sie an der Ecke. Inger peilte Edinburghs Männerwelt an. Sie peilte Ola Yngvarsen an, einen norwegischen Zahnmedizinstudenten, den sie hinter Fredrikstad Blad kennengelernt hatte. „Bist du aus Fredrikstad?“ – „Nein, aus Halden“, antwortete Ola. Dann peilte er Birgitte aus Nakskov an. Einen Erdbeermund hätte Inger haben sollen! Wie sollte sie einen Jungen anpeilen? Sie war zu dick, das war ganz deutlich, etwas Deutlicheres als zu dick zu sein gibt es nicht. Aber Ella aus Bergen war auch dick. Und die peilte Tore aus Haugesund an. Wie sollte Inger einen Jungen anpeilen? „Mit den Augen!“ hatte Unni Tøgersen gesagt. Aber sie hatte keine Augen, die durch den Saal flammen konnten, während der Fjord glitzerte.
Inger sehnte sich nach einem Mann. Wo war er? Sie dachte: Mein Körper braucht einen Mann, meine Seele braucht eine Frau. Nur die Seele ist verliebt. Durch die Augen. Aber mein Körper wartet auf den Mann. Sie sehnte sich danach, umarmt zu werden. Von starken Armen, die direkt aus einem Buch kamen. Direkt aus „Jane Eyre“, das sie gerade las, und das noch besser war als „Bauern ziehen übers Meer“. Aber wo waren die Arme?
Thornfield Hall, dachte sie. Daher kam Mr. Rochester. In Büchern war alles viel klarer. Wer den Geliebten nicht bekam, starb einfach. Die Heldin sank auf der Heide um oder warf sich vor einen Zug. Im wirklichen Leben lebte sie immer weiter, auch wenn sie sich eigentlich vor einen Zug geworfen hatte.
„Du liest Jane Eyre?“ fragte Mrs. Mayfield. „Ja“, antwortete Inger.
„Das ist gut, findest du nicht?“
Ingers Traumwelt zerfiel augenblicklich zu Schutt und Asche. Mrs. Mayfield hatte „Jane Eyre“ gelesen! Wie war es möglich, Jane Eyre gelesen zu haben und immer noch auszusehen wie Mrs. Mayfield? „Doch“, antwortete sie. „Ah! Mr. Rochester!“ rief Mrs. Mayfield. Das war das Leidenschaftlichste, was Inger jemals von ihr hören sollte.
Inger stand allein über the trolley gebeugt im Eßzimmer, das Wort „Teewagen“ war längst aus ihrer Erinnerung getilgt, und gab Zucker in die Tassen und dachte an Mrs. Mayfield und Mr. Rochester. Vielleicht sollte das ihr neuer Roman werden? Mrs. Mayfield könnte im Wäldchen stehen und Mr. Rochester vom Pferd fallen sehen, und dann könnte sie sagen: „I think we’ve got different moral standards!“ Und Mr. Rochester könnte sie um ihren ausgeprägt tiefhängenden Hintern packen und rufen: „Who the Deuce do you think you are?“ Und dann könnte er sie so wild und innig küssen, daß sie sofort beschloß, sich vor einen Zug zu werfen, wenn sie ihn nicht bekäme.
Dies war einer ihrer vielen Romananfänge. Das Buch soll „Bauern ziehen übers Land“ heißen, und im Gegensatz zu normalen Büchern soll der Titel nichts mit dem Inhalt zu tun haben. Es soll ein ganz und gar unnormales Buch werden.
Sie stand über the trolley gebeugt und dachte an ihr Buch. Da spürte sie plötzlich, daß hinter ihr jemand dicht an sie herantrat. Sie fuhr zusammen. Es war Sheila. Inger hatte sie nicht kommen hören, nun lehnte sie sich an sie, und Inger spürte einen Moment lang Sheilas Körper an ihrem Rücken. Sie beugte den Kopf zu Ingers, berührte ihr Ohr mit einer Hand und zog sie mit der anderen an sich, einen Augenblick stand sie da in dieser plötzlichen Umarmung, dann flüsterte Sheila: „Zweieinhalb.“
Schon brachte Mrs. Mayfield die Teekanne, und Sheila ging um den Tisch herum und setzte sich mit verschränkten Armen und harmloser Miene an ihren Platz. Aber ihre Botschaft war deutlich genug. Inger zweifelte keine Sekunde, was sie bedeutete. Sheila wollte zweieinhalb Teelöffel Zucker in ihren Tee!
Aufgewühlt stand Inger neben dem Teewagen. Eins war ganz klar: Dieser zusätzliche Löffel würde in die Tasse geschmuggelt werden, und wenn es sie ihre Ehre und ihre Stellung kosten sollte und man sie mit dem ersten Schiff nach Hause schicken würde.
Ratlos stand sie am Zuckertopf, ihr Herz hämmerte. Denn nun kamen auch die anderen. Sheila zog die Aufmerksamkeit auf sich, indem sie ihre Mutter auf einen Fussel hinten an ihrem Rock aufmerksam machte. Mrs. Mayfield drehte sich um sich selber, um den Fussel zu finden, und im ganzen Aufruhr gab Inger blitzschnell einen Extralöffel Zucker in Sheilas Teetasse.
Dann setzte sie sich auf ihren Platz. Sie saß zwischen Sheila und Adam an der einen Längsseite. Mr. Mayfield kam nach Hause. Es war Freitag, und es gab gebratenen Schellfisch. Daddy verhörte seine Familie. Alles war wie immer. Abgesehen von dem einen Extralöffel Zucker in Sheilas Teetasse. Eine tiefe Allianz. Schließlich fragte Mrs. Mayfield: „Und was hast du heute gemacht, Charles?“
„Fiddling“, sagte er. Das antwortete er jedesmal, und mehr erfuhr seine Familie nie über seine Arbeit. (Aber er war Börsenspekulant.) Da kam die Hand.
Sheilas Hand lag auf Ingers Bein. Sie mag mich, dachte Inger. Warum würde sie das sonst machen? Die Hand lag da, ziemlich schwer und unglaublich spürbar. Inger trank ihren Tee und ließ sich nichts anmerken. Aber von einer Stelle unter Familie Mayfields dunkler, glänzender Tischplatte mit Geschirr und Toastgestell und Stachelbeermarmelade verbreitete sich eine süße, starke und ganz unbegreifliche Wollust in allen Teilen ihres Körpers.
An diesem Abend saßen Inger und Sheila bis halb zwölf in der Küche und quatschten. Der Herd gab noch ein bißchen Wärme, auch wenn er schon für den nächsten Tag bereitgemacht worden war. Inger saß im Sessel in der Ecke und Sheila auf dem Küchentisch, die Beine auf einem Stuhl. Sie führten ein tiefes Gespräch. Tiefe Gespräche handelten immer von Männern. Was sie auch von Männern halten mochten, mit anderen Frauen war immer gut über sie zu reden. Jetzt bin ich verkauft.
Der letzte Satz plumpste einfach so in ihren Kopf. Wer aus Fredrikstad war, dachte eben so. Und im nächsten Augenblick war Inger besessen von dem Wunsch, Sheila zu sagen, daß sie sie liebte.
Sie geriet in Panik. Ziemlich ruhig saß sie voller Panik im Sessel.
„Have you done it?“ fragte Sheila.
Einiges an der englischen Sprache war wirklich überraschend. „Es tun“ hieß also „done it“.
„Nein“, antwortete Inger. „Und du?“
„Nein.“
Sheila erzählte von all ihren Männern. In der Geschichtsvorlesung war einer, der sie immer anstarrte, er hieß David. Dann gab es einen Iraner, mit dem sie einmal Kaffee getrunken hatte. Don’t tell Mum! Jetzt war sie mit einem norwegischen Medizinstudenten namens Truls zusammen. Er kam aus Skjåk und wollte es schrecklich gern tun. Ein bißchen erlaubte sie, wenn sie auf seiner Bude waren, aber nur auf dem Boden. „I feel beds are naughty“, sagte Sheila. Sie liebte nur Peter. Sie trug sein Bild in einem kleinen Medaillon um den Hals. Aber eigentlich wußte sie, daß sie Mr. Alexander heiraten würde, den Sunday School Teacher. Er blickte sie jeden Sonntag über die Köpfe der kleinen Jungen, die er unterrichten sollte, hinweg an, während sie die kleinen Mädchen unterrichtete.
Inger hörte alles über Sheilas Männer und hatte dabei Sheilas Beine auf dem Schoß. Sheila hatte sie nämlich dorthin gestellt, sie waren kalt, sie waren immer kalt, und Inger wärmte sie. „This is not the land of purple heather, it’s the land of purple legs“, sagte Inger. Sie konnte inzwischen ziemlich witzig sein. Sheila lachte. „Bist du nicht verliebt?“ fragte sie.
„Doch“, antwortete Inger.
„In wen?“
In dich natürlich. In dich, du Dussel! Wieder wurde sie von Panik erfaßt. Wo ist Ingers Angebeteter? Sie muß doch schließlich ein Liebesleben haben. Eine Frau von neunzehn Jahren ohne Liebesleben ist unmöglich. Wer kein Liebesleben hat, in dem sie herumschweben kann, in Form eines Jungen, mit dem sie tanzen geht, mit dem sie fast auf einem Fußboden schläft oder dessen Bild sie in einem Medaillon hat, hat doch zumindest ein inneres Liebesleben – in Form eines Jungen, mit dem sie das alles nie erreicht.
Das war die Lösung. Sie konnte die Welt mit existierenden und nicht existierenden Jungen bevölkern, die entweder nichts von ihr wissen wollten oder von denen sie nichts wissen wollte.
Sie erfindet einen Jungen. Sie erfindet, daß sie in Ola Yngvarsen verliebt ist, denn von dem weiß sie mit hundertprozentiger Sicherheit, daß sie ihn nicht haben kann; er hat schließlich Birgitta aus Nakskov angepeilt. Pastor Tønnesen organisiert eine Busfahrt zum Loch Lomond. Inger erfindet, daß sie die heiße Hoffnung hegt, im Bus neben Ola Yngvarsen zu sitzen, sie weiß nämlich, daß Birgitta aus Nakskov nicht mit zum Loch Lomond kommen wird. Aber was passiert? Ola Yngvarsen setzt sich neben Reidun aus Åndalsnes. Da sitzt er und redet mit ihr die ganzen Highlands hindurch, vorbei am kleinen zottigen Highland Cattle, den ganzen Weg bis Glencoe, und als sie dort stehen und in der Talsenke das Massaker von 1697 riechen, steht Ola Yngvarsen neben Reidun aus Åndalsnes, sogar hier, und Inger erfindet, daß das ihr ganzes Erlebnis der sagenumwobenen Erinnerungen an Clans und Massaker und alles, was sie sonst gern gehört hätte, ruiniert. Was noch? Ach! Reidun aus Åndalsnes! Sie erfindet, daß sie Reidun umbringen könnte! Und was soll man auf dieser Welt denn überhaupt machen, als sich umzubringen? fragt sie Sheila.
Und Sheila ist ganz ihrer Ansicht. „Du mußt dich besser zurechtmachen“, sagt sie. „Ich mach’ dir ein home perm.“ – „Mich will ja doch keiner“, meint Inger. „Natürlich gibt es welche, die dich wollen!“ ruft Sheila empört. Inger sonnt sich in dieser Empörung. Sheila verpaßt Ingers Kopf Locken. Inger tut so, als fürchte sie, die Locken könnten mißlingen. Aber das stimmt gar nicht. Ganz im Gegenteil. Sie hofft, daß die Locken mißlingen. Denn dann wird Sheila mit absoluter Sicherheit wieder mit ihren Händen kommen und noch ein home perm legen.
Leider fällt das home perm schon beim ersten Versuch ganz hervorragend aus. Sheila bewundert ihr Werk, und Inger macht sich auf in den Cavendish Ball Room, wo sie in einer langen Reihe mit anderen Mädchen an der Wand steht und auf einen Jungen zu hoffen versucht.
So war das Leben. Sie log sich hindurch. Das ist die Wahrheit. Was für eine Rolle spielte es, daß sie ganz phantastisch und fließend Englisch lernte, schlagfertige Geschichten über das Leben schrieb, die alle zum Lachen brachten, wenn sie nie jemanden lieben konnte? Sie würde sich durch das Leben schwindeln müssen. Die Frauen, in die sie sich verliebte, würden davon nie erfahren dürfen, und dann war es doch genauso, als ob sie sie durch ihre bloße Anwesenheit schon betrog. Sie wußten ja nicht, wie sie sich darüber freute, und deshalb schien sie diese Freude zu stehlen. Würde sie ihr ganzes Leben als Diebin und Lügnerin leben müssen?
Wo war der Mann, der sie davor retten konnte?
Inger wartete auf ein Gefühl, das sie nie gehabt hatte. Sie wartete auf einen Mann, der kommen würde, und wenn er sie berührte, würde sich das ganze Leben verändern. Sie wartete auf das Glück. Fast wie auf ein Haus – mit Farben, wie sie noch nie jemand gesehen hatte, und einem Himmel, der ein anderes Blau zeigte. Warum wohnte das Glück nur in Büchern? Warum konnte es nicht herauskommen? Obwohl ja die Menschen in den Büchern auch nur unglücklich waren? Aber sie waren auf glückliche Weise unglücklich. Das war der Sinn eines Buches.
Ein Jahr lang lebte Inger in einem Haus im Norden von Edinburgh. Es war ein graues Doppelhaus mit zwei Etagen, wie es sie überall auf den Britischen Inseln gibt. In einer Arbeitswoche von 53 Stunden wischte sie hier täglich Staub für 1 £ pro Woche, und nie hatte sie einen freien Tag. Und jeden Tag sehnte sie sich nach dem Tag, an dem sie nach Hause fahren würde.
Das Haus, in das sie gekommen war, und ihr Leben darin hatten so wenig Ähnlichkeit mit dem Glück, das sie sich vorgestellt hatte, als sie auf der Blenheim stand und winkte. Und in diesem Haus fand sie das Glück. Sie wußte es, und sie kehrte ihm den Rücken. Und sie wußte, wenn sie ihr Glück auf diese Weise leben müßte, würde sie für den Rest ihres Lebens unglücklich sein.