Читать книгу Arthur und die Vergessenen Bücher - Gerd Ruebenstrunk - Страница 10
ОглавлениеDer Mann mit der Narbe
Auf dem Bahnhofsvorplatz von Amsterdam herrschte ein lärmendes Durcheinander. Überall dröhnten Schiffsmotoren, quietschten Straßenbahnräder schrill in den Schienen, läuteten Fahrradklingeln und trillerten Polizeipfeifen, mit denen die Uniformierten den Verkehr in den Griff zu bekommen versuchten.
Etwas ratlos standen Larissa und ich in dem ganzen Trubel. Ich kam mir ziemlich verloren vor. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich allein in einer fremden Großstadt. Vor wenigen Stunden noch hatte ich mich auf dieses Abenteuer gefreut. Jetzt sah mit einem Mal alles ganz anders aus. Wie sollten wir uns hier nur zurechtfinden? Ich sehnte mich nach etwas Ruhe, um nachdenken zu können, aber um uns herum drängten die Menschen aus dem Bahnhofsgebäude heraus oder hinein und ständig wurden wir von der einen oder anderen Seite geschubst.
"Wir können hier nicht ewig stehen bleiben", rief Larissa, die von dem Trubel und der fremden Stadt nicht sonderlich beeindruckt schien. Das bewunderte ich insgeheim an ihr: Sie ließ sich nur schwer aus der Fassung bringen und nahm die Dinge stets so, wie sie kamen. Da konnte ich jetzt nicht schlappmachen. Ich gab mir einen Ruck.
Von meinem Studium des Stadtplans wusste ich, wo van Wolfens Geschäft lag: in einer Gegend Amsterdams, die man Spiegelkwartier nennt. Vom Bahnhof aus führte der Weg zunächst den Damrak entlang, eine breite Straße, die genau gegenüber dem Bahnhof lag. Um dorthin zu gelangen, mussten wir aber erst das Chaos vor dem Bahnhofsgebäude durchqueren.
Ich raffte meine Tasche auf und gab Larissa ein Zeichen. Mühsam begannen wir, uns einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen. Das war einfacher gesagt als getan. Die Passanten bewegten sich in zwei verschiedenen Richtungen: Die einen strömten vom und zum Bahnhof, die anderen quer dazu von und zu den Anlegestellen für die Touristenboote, die sich direkt gegenüber dem Bahnhofseingang befanden.
Der Fußgängerstrom zwängte sich über eine schmale Brücke. Einmal in der Menge, gab es kein Zurück mehr. Wir wurden mitgeschoben und konnten uns erst wieder aus dem Pulk lösen, als wir die andere Straßenseite erreicht hatten.
Ich blickte ich mich um, ob der vorgebliche Antiquar Hammer vielleicht irgendwo zu entdecken war. Beim Aussteigen aus dem Zug hatten wir ihn nicht bemerkt, aber das musste nichts heißen. Wenn er uns folgen wollte, gab es kein besseres Versteck als diese Menschenmenge.
"Wonach suchst du?", frage Larissa.
"Ich will mich überzeugen, ob wir auch nicht verfolgt werden", erwiderte ich.
"Wer sollte uns denn verfolgen? Es weiß doch niemand, dass wir hier sind."
"Und dein netter Herr Hammer?", erwiderte ich in etwas schärferem Ton als geplant.
"Pah, warum sollte der denn hinter uns her sein? Du leidest unter Verfolgungswahn. Oder siehst du ihn etwa irgendwo?"
Sie hatte recht. Hammer war nirgendwo zu entdecken. Stattdessen fiel mir eine andere Gestalt auf der anderen Straßenseite auf: ein großer, hagerer Mann, auf dessen rechter Wange eine deutlich erkennbare Narbe prangte. Bei seinem Anblick verspürte ich ein leichtes Kribbeln im Bauch, wusste allerdings nicht, warum. Vielleicht war ich wirklich zu misstrauisch und der Mann war wahrscheinlich nur ein harmloser Passant.
An der anderen Straßenseite zog sich eine der zahlreichen Grachten entlang, für die Amsterdam berühmt ist. Diese Wasserkanäle wurden einst zum bequemen An- und Abtransport von Waren zu den Kaufmanns- und Lagerhäusern angelegt und haben eine Gesamtlänge von fast hundert Kilometern. Die gesamte Innenstadt Amsterdams wird von ihnen durchzogen wie von einem engmaschigen Spinnennetz.
"Wenn die Pole schmelzen", sagte Larissa, während wir den Damrak entlang marschierten, "dann liegt all das hier unter Wasser."
Ich war etwas überrascht von diesem Themenwechsel.
"Warum sollten die Pole schmelzen?", fragte ich.
"Hast du noch nie von der globalen Erwärmung gehört?", erwiderte sie. "Die Atmosphäre heizt sich immer weiter auf. Dann fangen irgendwann die Eisberge am Nord- und Südpol an zu schmelzen. Und dann steigt überall an den Küsten das Wasser ein paar Meter höher. Das wird man hier besonders merken, weil ein großer Teil Hollands ja unter dem Meeresspiegel liegt."
"Aha", nickte ich, unklar darüber, worauf sie hinauswollte.
"Ich habe mir überlegt, was man da machen könnte", fuhr sie fort. "Zum Beispiel könnte man alle Häuser auf hydraulische Stelzen setzen. Wenn dann das Wasser steigt, kann man sein Haus einfach höher pumpen, sodass sie immer über der Wasseroberfläche bleiben."
"Und was ist mit den Straßen und Bürgersteigen?", fragte ich.
"Die müssten ebenfalls beweglich sein. Vielleicht in Form von schwimmenden Pontons, die mit dem Wasserspiegel steigen und fallen."
"Das hört sich ziemlich wackelig an", sagte ich. "Und für Autos ist das auch nichts."
"Autos gibt es dann natürlich keine mehr. Stattdessen bewegt man sich in einer Hochbahn fort, die auch auf hydraulischen Stelzen steht. So ähnlich wie die Schwebebahn in Wuppertal."
Ich nickte stumm. Momentan war mir nicht danach, die Probleme eines überfluteten Amsterdams zu durchdenken.
"Warst du schon einmal in einer so großen fremden Stadt?", fragte ich Larissa, um das Thema zu wechseln.
Sie schüttelte den Kopf. "Ich bin seit sechs Jahren nicht mehr in Ferien gefahren."
"Ich finde das total spannend hier", sagte ich. "Sieh dir nur mal die Leute an. Als ob alle Völker der Welt an einem Ort versammelt wären. So was habe ich noch nie gesehen."
Ich war von den ersten Eindrücken überwältigt. Der Damrak war zwar nicht ganz so voll und laut wie der Bahnhofsvorplatz, aber er bot immer noch mehr Trubel als die belebteste Straße unserer Heimatstadt. Auf der Straße rasselten im Minutentakt die Trams vorbei, und vor den zahllosen Kitsch- und Andenkenläden, dubiosen kleinen Hotels, winzigen Pizzerien, Geldwechselstuben und Imbissbuden, die sich hier schier endlos aneinanderreihten, drängten sich Menschentrauben, aus denen ein babylonisches Sprachengewirr drang. Ich konnte nur einige wenige Sprachen wie Englisch, Französisch oder Deutsch identifizieren. Der Rest war einfach nur Kauderwelsch für mich.
Larissa fuhr fort, ihre Theorien für die Zeit nach der Polschmelze zu schildern. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Immer wieder drehte ich mich um. Und immer wieder sah ich wenige Meter hinter uns den Mann mit der Narbe im Gesicht.
Schließlich erreichten wir das Ende der Straße. Der Damrak mündete in einen riesigen Platz, den Dam. Zu unserer Linken ragte eine helle Steinsäule hoch in den Himmel. Sie war auf einem Podest errichtet, auf dessen Stufen überall Menschen hockten, die sich miteinander unterhielten, den Platz fotografierten oder einfach nur in der Sonne dösten.
Meine Sporttasche wurde von Minute zu Minute schwerer. "Lass uns eine Pause machen", forderte ich Larissa auf. Wir suchten uns eine freie Ecke auf den Stufen, und ich verspürte unendliche Erleichterung, als ich endlich die Tasche von meiner Schulter gleiten lassen konnte.
Larissa zog aus einer Seitentasche ihres Koffers eine Flasche mit Wasser, nahm einen langen Zug und hielt sie mir hin. Ich war etwas beschämt, nicht selbst an etwas zu Trinken gedacht zu haben.
"Danke", sagte ich. Sie zuckte nur mit den Schultern. Als ich die Flasche absetzte, sah ich etwa zehn Meter vor uns den Hageren mit der Narbe. Er hatte einen Reiseführer in der Hand und tat so, als würde er sich über die Säule informieren. Ich schätzte ihn auf vielleicht vierzig Jahre. Sein schwarzes, fettig glänzendes Haar war lang und hinter seinem Kopf zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Mit seiner schwarzen Lederhose und dem langen schwarzen Ledermantel über einem ebenfalls schwarzen T-Shirt sah er aus wie ein Grufti, den die Zeit vergessen hatte. Ich stieß Larissa an.
"Siehst du den da?", fragte ich und machte eine unauffällige Bewegung mit dem Kopf.
"Wen?", fragte sie zurück.
"Den alten Grufti mit dem Reiseführer."
"Und? Was ist mit dem?"
"Ich glaube, er folgt uns seit dem Bahnhof."
"Bist du sicher? Für mich sieht er aus wie ein harmloser Tourist."
Ich seufzte. "Egal, was ich sage, du hast immer eine Erklärung parat, warum es nicht so sein kann, wie ich denke."
Sie lächelte mich an. "Du magst es nicht, wenn man dir widerspricht, was?"
"Ich mag es nicht, wie ein Idiot behandelt zu werden", gab ich zurück. "Aber wir können ja leicht feststellen, wer von uns recht hat."
Obwohl ich gerne noch ein wenig sitzen geblieben wäre, rappelte ich mich auf und schwang mir die Tasche wieder über die Schulter. Larissa sah mich fragend an.
"Wenn er nur ein harmloser Tourist ist, dann wird er uns ja sicher nicht folgen", erklärte ich. "Also machen wir jetzt einen kleinen Rundgang und sehen, wie er sich verhält."
"OK." Sie packte ihren Rollkoffer, und wir gingen zurück in Richtung Damrak. Vor dem Eingang eines riesigen Kaufhauses blieben wir stehen und taten so, als würden wir darüber diskutieren, ob wir nun reingehen sollten oder nicht. Dabei drehten wir uns unauffällig um. Es war, wie ich vermutet hatte: Der Hagere stand nur wenige Meter hinter uns, erneut in seinen Reiseführer vertieft.
Wir überquerten die Straße und machten an einem Imbisswagen halt, der Hotdogs und Getränke verkaufte. Ich fischte ein paar Münzen aus der Tasche und wir erstanden jeder eine Cola. Natürlich war uns der Narbengrufti gefolgt.
"Reicht das?", fragte ich.
Larissa nickte. "Du hast gewonnen." Langsam schlenderten wir zur Säule zurück.
"Mit unserem Gepäck werden wir ihn nie abschütteln", sagte ich.
Larissa blickte sich auf dem Platz um und zeigte dann wortlos über meine Schulter. Ich drehte mich um und folgte mit den Augen ihrem ausgestreckten Arm. Grand Hotel Krasnapolsky stand in großen Lettern auf dem Dach eines imposanten Gebäudes geschrieben, das auf der anderen Seite der Säule am Rand des Dam lag. Ich sah sie fragend an.
"Da stellen wir unsere Sachen unter", sagte sie bestimmt.
"Spinnst du? Wieso sollten die für uns die Gepäckaufbewahrung spielen?"
Sie lächelte mich herausfordernd an. "Dann musst du dir eben was einfallen lassen."
„Und was bitte?“
„Keine Ahnung. Du bist doch der Experte für Ausreden. Erzähl ihnen einfach irgendeine Geschichte. Du schaffst das schon, da bin ich mir sicher.“
Damit war der Schwarze Peter bei mir gelandet. Ich packte ich meine Tasche, verfluchte mich zum gewiss hundertsten Mal an diesem Tag und bewegte mich in Richtung Hotel, Larissa auf meinen Fersen.
Vor dem Eingang stand ein Mann in grauer Uniform, der uns misstrauisch beäugte. "Nur nichts anmerken lassen", flüsterte ich Larissa zu. Zielstrebig marschierten wir an dem Hotelzerberus vorbei in die große Eingangshalle.
Als sei es für mich die normalste Sache von der Welt, mich in Luxushotels zu bewegen, durchquerte ich den riesigen Raum mit seinen Ledersesseln, polierten Säulen und livrierten Kellnern und baute mich selbstbewusst an der Rezeption auf. Einer der Empfangschefs dahinter hatte uns schon seit unserem Eintreten beobachtet und musterte mich jetzt mit hochgezogenen Augenbrauen, so als wolle er sagen: "Und was willst du hier, Kleiner?"
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. "Wir haben hier eine Suite reserviert. Von Schenkenberg. Unsere Eltern sind noch bei einem Empfang aufgehalten worden. Wir wollen schon mal unser Handgepäck hier deponieren und dann ein wenig Sightseeing machen."
Der Empfangschef kniff argwöhnisch die Augen zusammen. "Wie war der Name?", fragte er.
"Von Schenkenberg", sagte ich. "Sie wissen schon – Stahl, Großhandel, Logistik."
Er tippte auf seiner Tastatur herum und starrte auf den Bildschirm. "Ich habe hier keine Reservierung für von Schenkenberg", knurrte er.
"Das muss ein Irrtum sein", erwiderte ich. Meine Stimme rutschte vor Aufregung ein paar Stufen die Tonleiter hinauf, und ich atmete tief durch, um sie wieder in ihre normale Tonlage zu bringen. Mein Herz klopfte wie wild.
"Unsere Eltern übernachten immer hier, wenn sie in Amsterdam sind", half mir Larissa. "Das müssen Sie doch wissen!"
Der Mann schüttelte den Kopf. "Der Name sagt mir nichts."
Ich hatte eine Eingebung. "Wie dumm von mir! Das liegt daran, dass sie immer unter einem Pseudonym reisen", erklärte ich. "Wegen der Terroristen und so."
Auch das überzeugte ihn nicht.
"Sie müssen doch eine Aliaskartei haben, in der die Pseudonyme Ihrer wichtigen Gäste verzeichnet sind", sagte ich. Ob es so etwas wirklich gab, wusste ich nicht – er aber auch nicht, wie sein Gesichtsausdruck verriet.
Ich drehte meine Augen mit gespielter Verzweiflung zur Decke. "Vielleicht sollten wir mal Ihren Chef fragen?"
Jetzt wurde er zum ersten Mal unsicher. Das war der richtige Moment, um nachzusetzen. Ich zog einen Zehn-Euro-Schein aus meiner Hosentasche und schob ihn dem Mann über die Theke zu.
"Hier, nehmen Sie", sagte ich gönnerhaft. "Sie stellen jetzt unser Gepäck unter, bis unsere Eltern kommen, und wir werden keinem verraten, dass Sie die wichtigen Gäste nicht alle kennen."
Der Mann blickte auf den Geldschein, dann auf uns. Dann zuckte er mit den Schultern, strich die zehn Euro ein und dirigierte uns zu einer Tür seitlich vom Empfangstresen. Dahinter verbarg sich der Gepäckaufbewahrungsraum.
Larissa warf mir einen strahlenden Blick zu. "Siehst du, geht doch", schien sie sagen zu wollen. Ich nickte kurz. Ihr Lob ließ mich zwar ein warmes Kribbeln im Bauch spüren, aber das musste ich ihr ja nicht unbedingt zeigen. Wir stellten unsere Sachen ab.
"Bis gleich dann", verabschiedete ich mich von dem Mann. "Und dass mir ja nichts wegkommt. Unsere Eltern können ganz schön unangenehm werden."
Unser Gegenüber nickte stumm. Larissa hustete und drehte sich weg. Als wir durch die Halle zurück zur Tür gingen, konnte sie nicht mehr an sich halten und prustete laut heraus.
"Dass mir ja nicht wegkommt", imitierte sie mich. "Hast du sein Gesicht dabei gesehen? Der arme Kerl wusste nicht, wie ihm geschah."
"Psst", versuchte ich sie zu beschwichtigen. "Nicht hier. Er könnte uns noch beobachten." Verstohlen warf ich einen Blick über die Schulter. Aber meine Sorge war unbegründet. Der Mann war bereits mit einem neuen Gast beschäftigt. Bei mir dauerte es etwas länger, bis die Spannung sich löste. Erst vor der Hoteltür brach auch ich in ein lautes Lachen aus.
Als wir uns nach ein paar Minuten wieder beruhigt hatten, fühlte ich mich zum ersten Mal seit unserer Ankunft etwas besser. Der Narbengrufti hatte vor dem Hotel Position bezogen und dort auf uns gewartet.
"Was machen wir jetzt?", frage Larissa.
"Wir führen ihn erst mal ein wenig an der Nase herum und tun so, als seien wir ganz normale Touristen."
Wir schlenderten quer über den Platz, zunächst zu Madame Tussauds und von dort weiter zu dem mächtigen Gebäude auf der anderen Seite des Dam. Ich zog meinen Reiseführer aus der Hosentasche. Nach einigem Blättern fand ich den richtigen Eintrag.
"Das ist der Königliche Palast", erklärte ich Larissa. "Er wurde vor über 350 Jahren auf 13 659 Holzstämmen errichtet."
"Das ist ja ein ganzer Wald", erwiderte sie. "Und das alles für ein paar Könige und Königinnen. Was meinst du, ob die wohl gerade zu Besuch sind? Ich habe noch nie eine echte Königin gesehen."
"Hier steht, die Königsfamilie kommt nur im Winter her."
"Schade. Aber sie würden uns wohl sowieso nicht empfangen."
Ich steckte den Reiseführer wieder weg. Der Hagere war uns gefolgt, immer in sicherem Abstand, die Nase in sein Buch gesteckt. "Es wird Zeit, ihn endlich abzuhängen", sagte ich. "Bist du bereit?"
"Aber immer!"
Vom Dam gingen mehrere Straßen ab. Eine davon war die Kalverstraat, Amsterdams Haupteinkaufsstraße und eine reine Fußgängerzone. Parallel zu ihr verlief eine weitere Straße, der Rokin. Er war, wie ich auf dem Stadtplan gesehen hatte, über mehrere schmale Gassen mit der Kalverstraat verbunden.
Wir überquerten erneut den Platz und bogen in den Rokin ein. Kurz vor der ersten Gasse ging ich in die Hocke und tat so, als würde ich mir einen Schnürsenkel zubinden. Unser Verfolger war nur ein paar Häuserlängen entfernt und versteckte sich hinter seinem Reiseführer.
"Wenn ich aufstehe, laufen wir in die Gasse", erklärte ich Larissa. Langsam richtete ich mich auf.
"Jetzt!", rief ich, und wir sprinteten los. Die Gasse war nicht lang. Im Nu befanden wir uns in der Fußgängerzone. Wir bogen links ab, hätten fast ein paar Passanten umgerissen und stürmten in die nächste schmale Gasse, die uns zum Rokin zurückführte. Kurz vor ihrem Ende hielt ich an und lugte vorsichtig um die Ecke. Von unserem Verfolger war nichts zu sehen.
"Irgendwann wird er drauf kommen, dass wir wieder zurückgelaufen sind", bemerkte Larissa trocken.
"Das weiß ich auch", erwiderte ich genervt. Bis hierhin hatte mein Fluchtplan gut funktioniert, aber wie sollte es jetzt weitergehen?
"Auf jeden Fall müssen wir raus aus der Gasse, damit er uns von der Einkaufsstraße aus nicht sehen kann", sagte ich.
Wir liefen den Rokin entlang, bis wir die nächste Quergasse erreichten.
"Und wenn er irgendwo darauf wartet, bis wir wieder zum Vorschein kommen?", fragte Larissa.
Sie hatte ein bemerkenswertes Talent, den Finger in die Wunde zu legen. Mein Plan war natürlich ziemlich naiv und wenig durchdacht. Er reichte nicht weiter als die enge Gasse, die vor uns lag.
"Die Fußgängerzone ist auf jeden Fall besser", erklärte ich. "Da sind wenigstens viele Menschen, zwischen denen wir uns verstecken können. Hier sieht er uns doch sofort." Ich machte eine Armbewegung den Rokin auf und ab, auf dem nur wenige Fußgänger zu sehen waren.
Wenige Sekunden später standen wir wieder auf der Kalverstraat.
"Was nun?", fragte Larissa. "Laufen wir zum Hotel und holen unsere Sachen?"
Ich schüttelte den Kopf. "Zu gefährlich. Er könnte dorthin zurückgekehrt sein, um auf uns zu warten. Wir gehen da rein." Ich wies mit der Hand auf einen schmalen Durchgang zwischen einem Seifengeschäft und einem Jeansladen. Er mündete in einen steinernen Torbogen, über dem die Jahreszahl "1581" in den Stein gehauen war. Das schien mir ein besserer Zufluchtsort zu sein als die ungeschützte Einkaufsstraße. Dort konnte der Narbengrufti jeden Moment auftauchen.
Schnell überquerten wir die Straße. Durch den Torbogen kamen wir in einen Säulengang, der an einem sonnigen Innenhof vorbei zum Historischen Museum führte, wie uns ein großes Schild erklärte. Links von uns lag, durch eine Glastür abgetrennt, ein Durchgang. An seinen Wänden hingen riesige Ölgemälde, auf denen ernst aussehende Männer mit großen Hüten und in altertümlicher Kleidung abgebildet waren. Der Eintritt war offenbar kostenlos, denn ich konnte keine Kasse und keine Einlasskontrolle entdecken.
Das schien mir ein sicherer Zufluchtsort zu sein. Hinter der Glastür, die sich automatisch öffnete, war die Luft angenehm klimatisiert. Der Durchgang war vielleicht zwanzig Meter lang. Auf der anderen Seite befand sich ebenfalls eine automatische Glastür, durch die gerade eine größere Menschengruppe den Gang betrat. Es gab also einen zweiten Ausgang, falls wir hier schnell raus mussten.
Larissa studierte das Gemälde direkt hinter der Tür. Es war bestimmt über drei Meter lang und zeigte zwei Dutzend Männer in verschiedenen Uniformen, mit Säbeln und Hellebarden in den Händen. Alle trugen breitkrempige Hüte und dicke weiße Halskrausen.
"Das Bild ist fast vierhundert Jahre alt", staunte Larissa nach einem Blick auf die Informationstafel darunter.
"Damals scheint Bartzwang geherrscht zu haben", bemerkte ich trocken. Jedes Gesicht zierte nämlich ein Schnurrbart sowie ein mehr oder minder breiter Kinnbart.
"Nur kein Neid!", lachte Larissa.
"Wieso sollte ich auf diese alten Kniesepeter neidisch sein?", antwortete ich pikiert. Aber sie war schon weiter zum nächsten Gemälde geeilt.
Ich fand die Bildmotive ziemlich langweilig. Immer waren dieselben Typen mit ihren Bärten, Hüten und Schwertern zu sehen. Wir drückten uns an der Menschengruppe vorbei, die inzwischen in die Mitte des Ganges vorgerückt war und den Erläuterungen einer jungen Frau lauschte, welche offenbar etwas zu den Gemälden erklärte - leider in einer Sprache, die ich nicht verstand.
Wir waren fast am anderen Ende angekommen, als plötzlich eine Stimme direkt hinter uns ertönte:
"Willkommen in der Schuttersgalerij."