Читать книгу Arthur und die Vergessenen Bücher - Gerd Ruebenstrunk - Страница 8
ОглавлениеDer Überfall
Es waren wieder Sommerferien, und wie schon in den beiden Jahren zuvor arbeitete ich als Gehilfe im Laden des Bücherwurms. Arbeit war eigentlich das falsche Wort; ich half ihm beim Auspacken und Einordnen von Büchern, und ab und zu brachte ich ein Buch, das jemand bestellt hatte, dem Käufer nach Hause. Die meiste Zeit des Tages schmökerte ich herum oder lauschte dem Bücherwurm, der mir seine Lieblingsbücher vorstellte. Ich war damals vierzehn Jahre alt.
Eines Tages, es war schon spät am Nachmittag, kam ein merkwürdiger Mann in den Laden. Ich saß auf meinem Stuhl in der Ecke mit den Jugendbüchern und war in eine Abenteuergeschichte aus Afrika vertieft.
Der Neuankömmling war ein hochgewachsener, hagerer Mensch in einem eng geschnittenen schwarzen Mantel. Sein kleiner Kopf pendelte auf einem langen, dünnen Hals hin und her. Er erinnerte mich an einen Vogel, auch durch seine gekrümmte Haltung und die wie Krallen nach innen gebogenen Finger mit ihren langen Nägeln.
Der Mann streifte mich mit einem Blick, der so kalt war, dass ich am liebsten in der afrikanischen Wüste verschwunden wäre, von der ich gerade las. Dann schritt er zielstrebig auf die Theke zu, hinter der der Bücherwurm gerade neue Bücher auspackte, die heute angeliefert worden waren.
"Johann", schnarrte der Hagere, als er die Theke erreicht hatte. Der Bücherwurm blickte auf, und es kam mir so vor, als führe ihm der gleiche Schrecken durch die Glieder wie mir. Er fing sich aber sofort wieder und winkte dem Besucher, ihm in das Hinterzimmer zu folgen. Dabei warf er mir einen schnellen Blick zu als wolle er überprüfen, ob alles in Ordnung sei.
Merkwürdige Besucher war ich, seit ich beim Bücherwurm arbeitete, gewohnt. Immer wieder einmal kamen geduckte Gestalten in den Laden, meistens gegen Abend, mit einer abgewetzten Ledertasche oder einem in Stoff eingewickelten Paket, das sie gegen die Brust drückten. Stets verschwand der Bücherwurm mit ihnen im Hinterzimmer, und fast immer verließen sie den Raum mit einer deutlich leichteren Tasche und ohne ihre Mitbringsel.
Mir war klar, dass es sich bei diesen Gegenständen um Bücher handeln musste. Inzwischen wusste ich auch, wie wertvoll alte Bücher sein konnten. Doch die Haltung und Ausstrahlung vieler dieser Besucher machte mich stutzig, und ich stellte mir immer häufiger die Frage, ob hier alles mit rechten Dingen zuging. Und dieser spezielle Kunde war so gar nicht nach meinem Geschmack.
Mit seinem Verhalten nährte der Bücherwurm meinen Verdacht, dass in seinem Hinterzimmer merkwürdige Geschäfte abgewickelt wurden. Natürlich konnte ich mich jetzt nicht mehr auf meine Lektüre konzentrieren. Ich legte das Buch beiseite und schlich vorsichtig zur Theke. Der Bücherwurm hatte die Tür zum Hinterzimmer geschlossen, aber ich konnte trotzdem die laute, schnarrende Stimme des Fremden hören. Sie wurde immer erregter, und ich begann mir schon Sorgen um den Bücherwurm zu machen, als die Tür des Hinterzimmers plötzlich aufgerissen wurde. Ich duckte mich schnell weg, konnte aber noch das wutverzerrte Gesicht des Hageren erkennen, als er aus dem Zimmer stürzte. Ohne anzuhalten, durchquerte er den Laden und verschwand aus der Tür.
Vorsichtig richtete ich mich wieder auf. Inzwischen war auch der Bücherwurm herausgekommen. Er war blass und sah mitgenommen aus. Als er mich bemerkte, warf er mir einen scharfen Blick zu und schüttelte wortlos den Kopf. Dann öffnete er eine Schublade in der Theke, nahm einen Stapel Blätter heraus und verschwand wieder im Hinterzimmer.
So hatte ich ihn in all den Jahren unserer Bekanntschaft nie erlebt. Langsam ging ich zurück zu meiner Ecke. Tausend Gedanken schossen gleichzeitig durch meinen Kopf: Was war das für ein Besucher? Welche Geschäfte machte der Bücherwurm in seinem Hinterzimmer? Und welche Geheimnisse verbarg er vor mir?
Es war kurz vor Feierabend, und da der Bücherwurm keinerlei Anstalten machte, aus seinem Zimmer hervorzukommen, schloss ich die Ladentür von außen ab (als Zeichen seines Vertrauens hatte mir der Bücherwurm einen Schlüssel gegeben, den ich wie meinen Augapfel hütete) und ging zu seinem Haus zurück.
Larissa hatte sich in ihrem Zimmer verbunkert. Auf dem Herd stand ein Topf mit Gemüsesuppe, den die Haushälterin mitgebracht hatte, die jeden Tag vorbeikam, um zumindest eine Ahnung von Ordnung in den Haushalt zu bringen. Ich wärmte mir einen Teller auf und löffelte ihn in Ruhe. Dann zog ich mich in mein Zimmer zurück und warf den Computer an. Ich hatte zwar schon einige Male nach dem Bücherwurm gegoogelt, aber diesmal wollte ich es genau wissen.
Zunächst versuchte ich es mit seinem Namen. Die ersten zehn Ergebnisseiten lieferten mir jede Menge Informationen über den Tierarzt Johann Lackmann in Bayern, den Fahrradhandel Johann Lackmann in Hamburg und die Hobbys des Gymnasiasten Johann Lackmann in Frankfurt. Nur über den Buchhändler und Antiquar Johann Lackmann gab es keinerlei Informationen.
Einer Eingebung folgend tippte ich seinen Namen und das Wort books ins Eingabefeld. Das brachte über 3000 Ergebnisse in englischer Sprache. Dadurch ermutigt, engte ich meine Suche noch weiter ein und zwar auf seinen Namen und die Worte stolen books. Das Resultat bestand aus 13 Fundstellen. Nahezu alle bezogen sich auf zwei Fachaufsätze, die der Bücherwurm vor vielen Jahren verfasst hatte und die sich mit dem Handel gestohlener antiquarischer Bücher befassten. Mit seinen Aufsätzen "beweist der Verfasser eine tief greifende Kenntnis dieses leider blühenden Marktes" - so drückte es einer der Rezensenten aus.
Mehr konnte ich nicht finden. Es gab also keine offensichtliche direkte Verbindung des Bücherwurms zu irgendwelchen illegalen Handlungen. Allerdings schien er sich auf diesem Gebiet bestens auszukennen, und das gab mir zu denken. Mit einem Mal schämte ich mich für meine Nachforschungen. Der Bücherwurm war immer freundlich und hilfsbereit mir gegenüber gewesen. Und als Dank dafür hielt ich ihn für einen Verbrecher? Aber der Zweifel, der sich in meinem Kopf festgesetzt hatte, war nicht mehr so einfach zu vertreiben.
Ich schaltete den Rechner aus und ging zu Bett, wo ich bald in einen unruhigen Schlaf fiel.
Am nächsten Tag schlief ich bis neun Uhr, frühstückte leise zwei Joghurts, um Larissa nicht zu wecken (sie hatte die unangenehme Eigenschaft, direkt nach dem Aufstehen schon hellwach zu sein und zu reden wie ein Wasserfall, was ich als eingeschworener Morgenmuffel nur schwer ertragen konnte) und machte mich auf den Weg zur Buchhandlung. Der Bücherwurm war wohl, wie immer, früh aus dem Haus gegangen. Meistens saß er morgens um sieben schon in seinem Laden und sortierte neu angekommene Bücher.
Das Geschäft war noch leer. Morgens war fast nie etwas los im Laden, und nachmittags war es auch nicht viel besser. Ich fragte mich zum wiederholten Mal, wovon der Bücherwurm wohl leben mochte. Von den Einnahmen aus dem Bücherverkauf sicherlich nicht.
Ich stieß die Tür auf und trat ein. Der Bücherwurm war nirgendwo zu sehen. Vielleicht war er im Hinterzimmer bei seinen alten Folianten. Dann würde er sicher gleich auftauchen, denn das Bimmeln der Türklingel konnte man auch dort hören.
Ich ging zum Büchertisch in der Mitte des Raums und blätterte in einem Bildband über die Antarktis, während ich auf sein Erscheinen wartete. Sonst kam er beim Geräusch der Türglocke stets innerhalb von wenigen Sekunden aus seinem Zimmer hervor, aber diesmal brauchte er ungewöhnlich lange. Als er auch nach fünf Minuten noch nicht aufgetaucht war, wurde ich unruhig. Ich musste an den seltsamen Besucher gestern denken, und ein ungutes Gefühl beschlich mich. Es war das Paternoster-Gefühl: Du weißt, es gibt keine Monster, die dich aus dem Fahrstuhl reißen, aber tief in deinem Inneren bleibt immer ein Rest von Zweifel.
Ich legte das Buch weg und ging langsam zur Theke. Wahrscheinlich ist er nur eingeschlafen, versuchte ich mich zu beruhigen. Er ist ein alter Mann, und da kann man schon einmal wegnicken. Dumm nur, dass ich den Bücherwurm noch nie ein Nickerchen hatte machen sehen. Aber irgendwann ist ja immer das erste Mal, redete ich mir ein, während ich vorsichtig um die Theke herumging.
Alles sah so aus wie immer. Auf dem Boden stand ein halb geleerter Karton Bücher; der dazugehörige Lieferschein lag auf der Theke. Hinter die Titel, die bereits ausgepackt waren, hatte der Bücherwurm ein kleines Häkchen gemalt. Warum hatte er diese Arbeit unterbrochen? Ob er vielleicht auf der Toilette war? Das musste es sein! Das erklärte auch, warum er nicht sofort herauskam. Menschen in seinem Alter hatten ja oft Probleme mit der Verdauung, da konnte das schon mal ein bisschen länger dauern.
Aber so sehr ich auch versuchte, mich von der Harmlosigkeit der Situation zu überzeugen, es gelang mir nicht. Auf Zehenspitzen näherte ich mich dem Hinterzimmer. Vorsichtig beugte ich mich vor und legte das Ohr an die Tür. Nichts. Oder – war da nicht was? Ein leises Geräusch, so wie ein Rascheln? Was sollte ich tun?
Ich fasste mir ein Herz und klopfte an die Tür. Dann trat ich schnell einen Schritt zurück.
Nichts passierte. Etwas mutiger geworden, klopfte ich ein zweites Mal. Dabei rief ich leise: "Herr Lackmann?"
Diesmal war ich mir sicher, dass es hinter der Tür raschelte. Mit ausgestreckter Hand berührte ich die Türklinke und drückte sie vorsichtig nach unten. Die Tür schwang mit einem leisen Quietschen auf und - gab den Blick frei auf den Bücherwurm, der auf dem Boden lag, die Hände und Füße gefesselt und um den Mund ein Tuch gebunden. Er starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an und wackelte mit dem Kopf. Schnell trat ich zu ihm, bückte mich und befreite ihn von dem Knebel. Kaum war das Tuch ab, da spuckte er hustend ein Stoffknäuel aus, das in seinem Mund gesteckt hatte.
"Endlich", keuchte er. "Ich dachte schon, ich muss hier drin verrecken." Er dreht sich mühsam auf den Bauch. "Bind mir die Hände los, Junge!"
Der Knoten um seine Handgelenke war nicht so einfach zu lösen wie der seines Knebels. Ich mühte mich eine Weile vergeblich ab. "Nimm die Schere aus der Schublade", wies der Bücherwurm mich an. Die Schere war groß, und ich hatte Angst, ihn zu verletzen. Deshalb dauerte es noch eine geraume Weile, bis der Knoten endlich geöffnet war. Ächzend wälzte der Bücherwurm sich wieder auf den Rücken und setzte sich auf. Er rieb seine Hände aneinander. Dann nahm er mir die Schere aus der Hand und machte sich an seinen Fußfesseln zu schaffen.
Nachdem auch das letzte Stück Seil gefallen war, beugte er sich vor und massierte seine Knöchel.
"Eine ganze Nacht in diesem Zustand zuzubringen, ist nichts mehr für jemandem in meinem Alter", stöhnte er.
"Sie haben die ganze Nacht hier gelegen?", staunte ich mit aufgerissenem Mund. "Aber dann waren Sie ja gar nicht …"
"Ganz richtig, ich war überhaupt nicht zu Hause. Was von euch natürlich keiner gemerkt hat."
"Ich bin früh ins Bett gegangen", entschuldigte ich mich. "Und außerdem …"
"Du musst dich nicht entschuldigen", beschwichtigte er mich. "Wir sind alle drei Einzelgänger. Da kann so etwas schon mal passieren."
Langsam zog er sich mit einem Arm an der Schreibtischkante hoch und ließ sich mit einem Ächzen in seinen Drehstuhl fallen.
"Was ist denn überhaupt passiert?", wollte ich wissen.
"Unangenehmer Besuch", murmelte er und tastete nach einem halb gefüllten Wasserglas, das gefährlich wackelig auf einem Bücherstapel balancierte. Er trank es in einem Zug aus.
"Besuch?", fragte ich. "Und warum hat man Sie gefesselt und geknebelt? War das ein Raubüberfall?"
"Nicht so viele Fragen auf einmal", wehrte der Bücherwurm ab. Er streckte mir das leere Glas hin. "Bist du so nett?"
Ich füllte es mit Mineralwasser aus dem kleinen Kühlschrank in der Ecke auf. Gierig leerte er es erneut. Während ich ein zweites Mal nachschenkte, wühlte er in den Papieren auf seinem Schreibtisch herum.
Ich konnte meine Neugier nicht verbergen. "Warum hat man Sie denn überfallen?"
Er drehte sich wieder zu mir und musterte mich lange und prüfend. Ich hielt seinem Blick stand. Vielleicht würde ich jetzt erfahren, worum sich seine eigentlichen Geschäfte drehten. Schließlich nickte er fast unmerklich. "Sie sind hinter den Vergessenen Büchern her", sagte er langsam.
"Den Vergessenen Büchern?"
Der Bücherwurm sah mit einem Mal sehr müde aus. Er nickte. "Das ist eine lange Geschichte. Und mein Wissen darüber ist auch nur bruchstückhaft." Er suchte nach einer bequemeren Sitzposition. "Hast du schon einmal etwas von der Bibliothek von Córdoba gehört?"
Córdoba lag in Spanien, soviel wusste ich.
"Große Teile Spaniens waren vor über tausend Jahren von den Arabern besetzt", fuhr der Bücherwurm fort. "Viele ihrer Herrscher liebten die Künste und die Wissenschaften. So auch der Emir von Córdoba. Er ließ aus der ganzen damals bekannten Welt Manuskripte zusammentragen. So entstand eine Bibliothek, die manche mit der legendären Bibliothek von Alexandria vergleichen."
"Das war doch einmal die größte Bibliothek der Welt", warf ich ein, denn ich hatte kürzlich etwas darüber gelesen.
Der Bücherwurm nickte. "So sagt man. Aber Córdoba kann nicht viel kleiner gewesen sein, schenkt man den Zeitzeugen Glauben. Auf jeden Fall ereilte die Bibliothek dort dasselbe Schicksal wie Alexandria - sie wurde zerstört. Nun war Córdoba keine Bibliothek, wie wir sie heute kennen. Sämtliche Texte waren von Hand auf Papyrus oder Pergament geschrieben. Manche davon waren zusammengebunden und ähnelten den späteren Büchern; die meisten Manuskripte allerdings bestanden aus Rollen."
Erneut nahm er einen Zug aus dem Wasserglas. "Das Merkwürdige ist nun, dass es in der Bibliothek von Córdoba nach der Überlieferung einiger Zeitzeugen auch einige wenige richtige Bücher gegeben haben soll."
"Mehrere Jahrhunderte vor der Erfindung des Buchdrucks?" Ich blickte den Bücherwurm erstaunt an. "Das ist doch unmöglich!"
"Vielleicht." Er machte eine vage Handbewegung. "Vielleicht auch nicht. Mit Sicherheit kann das niemand sagen. Alles, was wir wissen, spricht dagegen. Aber wenn es um die Vergessenen Bücher geht, gibt es viele ungelöste Rätsel. Es kann natürlich sein, dass es sich lediglich um gebundene Pergamentblätter gehandelt hat. Auf jeden Fall gibt es Überlieferungen, in denen von den Gefahren die Rede ist, welche diese Bücher in sich bergen. Die alten Geschichten berichten, dass die Vergessenen Bücher dem, der sie besitzt, große Macht verleihen. Aus diesem Grund waren sie schon zu jener Zeit nur einer kleinen Handvoll Gelehrter zugänglich. Als die Stadt im 10. Jahrhundert von einem feindlichen Heer zerstört wurde und die gesamte Bibliothek verbrannte, gelang es den gelehrten Männern, die Vergessenen Bücher, wie man sie schon damals nannte, in Sicherheit zu bringen und zu verstecken."
"Aber warum?", unterbrach ich den Alten. "Wenn die Bücher so gefährlich sind - wäre es da nicht besser gewesen, sie wären zerstört worden?"
"Diese Frage habe ich mir auch oft gestellt. Ich glaube, den Gelehrten ging es ausschließlich darum, das Wissen zu bewahren, das in jedem dieser Bücher enthalten ist. Gefährlich sind sie ja nicht an sich, sondern nur dann, wenn sie in die falschen Hände fallen. Die Männer schworen damals einen Eid, die Vergessenen Bücher zu verstecken, damit sie keinem Unbefugten in die Hände fallen könnten. Deshalb nannten sich die Gelehrten auch der Bund der Bewahrer. Von Generation zu Generation haben sie die Geheimnisse der Vergessenen Bücher und das Wissen um ihre Verstecke weitergegeben – bis vor etwa hundert Jahren. Da verliert sich die Spur der Bewahrer im Dunkel der Geschichte."
"Und die Spur der Bücher? Ist sie damit auch verschwunden?"
"Leider nicht. Denn seit den Zeiten der Bewahrer gibt es auch Menschen, deren einziges Ziel es ist, die Vergessenen Bücher zu finden. Sie wollen die Macht gewinnen, die diese Bücher dem verleihen, der sie besitzt. Sie nennen sich die Sucher. Niemand weiß genau, wo sie herkommen, aber sie sind heute noch aktiv. Und wenn es keine Bewahrer mehr gibt, dann haben die Sucher leichtes Spiel, sollte eines der Bücher auftauchen."
"Heißt das, niemand passt heute mehr auf die Vergessenen Bücher auf?"
Der Bücherwurm lächelte matt. "Nein, nicht ganz. Einige von uns, die sich mit alten Büchern gut auskennen, sehen sich in der Tradition der Bewahrer. Wir verfügen zwar nicht über deren Wissen, aber wir beobachten den Markt und achten darauf, ob es irgendwo Hinweise auf eines der Vergessenen Bücher gibt."
"Und ist das schon mal passiert?"
Der Alte nickte. "Zweimal. Und jetzt ist, wie es scheint, wieder eine Spur aufgetaucht."
Ich erinnerte mich an den merkwürdigen Besucher. "Deshalb war auch dieser hagere Mann mit den langen Fingernägeln bei Ihnen."
"Das war Pontus Pluribus. Er ist ebenfalls ein Sammler alter Bücher. Allerdings steht er nicht auf unserer Seite. Sein Besuch hätte mich misstrauisch machen sollen."
"War er es, der Sie überfallen hat?"
Der Bücherwurm schüttelte den Kopf. "Pluribus ist kein Mann der Tat. Er ist wie ein Geier, der das Aas auf weite Entfernung riechen kann. Aber er hält sich in sicherer Entfernung, bis er keine Gefahr mehr für sich sieht. Nein, der Besuch von gestern Abend war jemand ganz anderes. Es waren die Jungs von Madame Slivitsky."
Bei der Nennung dieses Namens spürte ich, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten und ich eine Gänsehaut auf den Armen bekam. Dabei hatte ich ihn nie zuvor gehört.
"Wer ist diese Madame Slivitsky?", fragte ich.
Der Bücherwurm erhob sich und streckte vorsichtig erst das eine, dann das andere Bein. Enttäuscht von dem Ergebnis, ließ er sich in den Stuhl zurückfallen.
"Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Jetzt geht es darum, einen Plan zu machen. Der Hinweis, von dem ich gesprochen habe, deutet nach Amsterdam. Es könnte sein, dass sich eines der Vergessenen Bücher dort befindet."
"Warum fahren Sie dann nicht hin und suchen es?", frage ich. "Ich kann in der Zeit doch aufs Geschäft aufpassen."
Der Alte seufzte und stützte seinen Kopf auf die Hände. Ein oder zwei Minuten verharrte er in dieser Position, dann blickte er auf. "So einfach ist das nicht. Ich bin zu schwach zum Reisen. Und es gibt wichtige Gründe, die mich dazu zwingen, gerade jetzt hier zu bleiben."
"Dann schicken Sie doch jemand anderen!", rief ich.
"Und wen?", gab er zurück. "Das Geheimnis der Vergessenen Bücher ist viel zu gefährlich, um es herumzuerzählen. Du bist jetzt einer der wenigen, die davon wissen. Und das auch nur, weil ich dich schon lange kenne und dir vertraue. Nein, nein, ich kann nicht irgendwen beauftragen. Es sei denn …" Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.
Ich war noch ziemlich naiv damals, deshalb begriff ich nicht sofort, worauf er hinauswollte. "Sie kennen doch jemanden?", fragte ich.
Er antwortete nicht sofort, sondern sah mich nur an. Dann seufzte er erneut. "Nein, das geht nicht."
"Was geht nicht?", rief ich.
"Ich dachte, du könntest vielleicht an meiner Stelle nach Amsterdam fahren."
Mein Herz sackte in die Hose, um sich von dort klopfend schrittweise bis zum Hals hochzuarbeiten. Ich? Ich sollte mich aufmachen, um gegen diese Madame Slivitsky, ihre Jungs und Gestalten wie diesen Pluribus anzutreten? Auf keinen Fall! Ich las damals gern Abenteuergeschichten – aber deswegen wollte ich sie nicht unbedingt selbst erleben!
Der Bücherwurm musste meine Reaktion bemerkt haben. Stöhnend erhob er sich aus seinem Stuhl. "Schon gut, schon gut", murmelte er. "Es ist wahrscheinlich zu viel verlangt …"
Krampfhaft suchte ich nach Argumenten, die gegen seinen Plan sprachen. Ich war viel zu jung. Meine Eltern würden es nie erlauben. Ich konnte nicht allein durch die Welt reisen. Ich hatte von alten Büchern keine Ahnung.
Aber zu meiner eigenen Überraschung sagte ich nichts davon. Sondern nur: "OK. Wenn Sie überzeugt sind, dass es keinen anderen Weg gibt, dann helfe ich Ihnen."
Heute weiß ich, dass ich besser hätte schweigen sollen. Sobald ich den verhängnisvollen Satz ausgesprochen hatte, leuchteten die Augen des Bücherwurms auf.
"Dann wollen wir sofort mit den Vorbereitungen beginnen. Wir haben keine Zeit zu verlieren."
Ich dachte bei dem Wort Vorbereitungen an den Kauf einer Bahnfahrkarte oder die Beschaffung von Informationen.
Aber leider war es viel schlimmer …