Читать книгу Arthur und die Vergessenen Bücher - Gerd Ruebenstrunk - Страница 7

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Der Bücherwurm

Mein Name ist Arthur.

Und ich bin kein Held.

Auch wenn andere wie Larissa oder der Bücherwurm das Gegenteil behaupten – ich weiß es besser.

Ich bin nur ein vierzehnjähriger Junge, der gerne Bücher liest, ab und an eine Runde am PC oder der Playstation zockt, gern angesagte Musik auf YouTube oder Spotify hört und sich abmüht, in der Schule die Kurve zu kriegen.

Aber ich bin kein Held.

Um das zu verstehen, müsst ihr meine Geschichte kennen. Und die beginnt mit dem Bücherwurm.

Meine früheste Erinnerung an den Bücherwurm reicht zurück bis in jene Zeit, als ich noch den Kindergarten besuchte. Es war ein herrlicher Sommertag. Mein Vater hatte einen Tag frei und ich durfte ihn in die Stadt begleiten. Wir unternahmen all das, was Väter so mit ihren fünfjährigen Söhnen machen: Wir aßen ein Eis, fütterten die Enten auf dem kleinen Teich hinter dem Rathaus und fuhren zehn Mal im Paternoster des Rathauses in der Runde.

Vielleicht sollte ich euch den Paternoster kurz beschreiben, denn heute gibt es nur noch eine Handvoll davon. Ein Paternoster ist ein Aufzug, der nie anhält. Das klingt vielleicht komisch, denn wie soll man da ein- oder aussteigen? Nun, ganz einfach: Ein Paternoster hat keine Türen und fährt ganz langsam. Er besteht im Grunde aus einer Reihe aufeinandergestapelter Holzkästen, die sich langsam den Aufzugschacht empor schieben, im Keller und Dachgeschoss die Richtung wechseln und im benachbarten Schacht wieder nach unten oder oben fahren. In jedem Stockwerk hat man zwei oder drei Sekunden Zeit, um in einen der Kästen ein- oder daraus auszusteigen.

Ich weiß noch, welche Angst ich hatte, als mein Vater mir zum ersten Mal vorschlug, mit dem Paternoster durchs Dachgeschoss auf die andere Seite zu fahren. Ich stellte mir die schlimmsten Dinge vor, die dort oben passieren könnten: Ein großes, eisernes Rad, das mich zerfetzte; dunkle Gestalten, die mich aus dem Kasten herauszerrten und andere schreckliche Sachen. Aber mein Vater versicherte mir, es sei alles ganz harmlos, und so fasste ich seine Hand und drückte die Augen ganz fest zu, als unser Kasten das oberste Stockwerk passiert hatte und weiter hochfuhr.

Das leise Rumpeln, das so typisch ist für den Paternoster, wurde stärker und ich wünschte mir noch eine Extrahand, um mir auch die Ohren zuhalten zu können. Als ich meine Augen wieder öffnete, waren wir bereits auf dem Weg nach unten – und lebten beide noch.

Wir blieben in der Kabine stehen und fuhren weiter bis ganz nach unten ins Kellergeschoss, und dieses Mal ließ ich meine Augen offen. Viel zu sehen gab es nicht. Der Paternoster rumpelte ein Stück weiter nach unten, dann bewegte er sich nach links (vor uns war im Dämmerlicht unserer Kabinenbeleuchtung die ganze Zeit nur eine langweilige Mauer zu sehen), um schließlich wieder hochzufahren. Das war alles.

Seitdem habe ich immer wieder allein im Paternoster meine Runden gedreht, und obwohl ich wusste, dass dort oben oder unten niemand lauerte, beschlich mich doch vor jeder neuen Umrundung immer noch ein komisches Gefühl, denn schließlich könnte ja dieses Mal alles anders sein und tatsächlich ein dunkles Monster auf diejenigen warten, die glaubten, ihr Schicksal herausfordern zu müssen.

Nach der Paternosterfahrt spazierten wir durch die Stadt, bis wir einen kleinen Buchladen erreichten, der in einer Seitenstraße versteckt war. Ich kann mich noch genau daran erinnern, denn es war das erste Mal, dass ich den Laden des Bücherwurms betrat. Der Raum war, wie gesagt, nicht groß, aber voll. Jeder noch so kleine Fleck war mit Tischen oder Regalen zugestellt, und selbst in den wenigen Zwischenräumen lagen noch Stapel von Büchern auf dem Boden. Nur direkt am Schaufenster gab es eine größere Lücke; hier waren die Kinderbücher eingeordnet, mit einem kleinen Stuhl davor, auf dem die jungen Leser in Ruhe schmökern konnten.

Am Ende des Raums saß ein Mann hinter einer Theke, die ebenfalls mit Büchern bedeckt war. Er blickte auf, als die Türklingel unseren Besuch ankündigte.

Das war der Bücherwurm.

Der Bücherwurm war bereits ein alter Mann, als ich ihn das erste Mal traf. Zumindest lebt er so in meiner Erinnerung, denn heute weiß ich natürlich, dass einem Fünfjährigen jeder Mann, der die Vierzig überschritten hat, alt vorkommt. Vielleicht war er damals also erst 50 oder 55 Jahre alt, auf jeden Fall war er älter als mein Vater. Er hatte buschiges weißes Haar, das rechts und links von seinem Kopf abstand, und trug eine dicke Brille auf der Nase, hinter der zwei kluge blaue Augen blitzten. Seine braune Cordjacke war an den Ellbogen mit Lederflicken verstärkt und hatte ihr Verfallsdatum schon lange überschritten. Das galt auch für sein ehemals vielleicht weißes Hemd, dessen Kragen deutliche Spuren von Zersetzung aufwies.

Der Bücherwurm und mein Vater kannten sich offenbar, denn sie begrüßten sich freundlich. Mein Vater stellte mich vor, und der Alte kam hinter seiner Theke hervor und schüttelte mir die Hand. Das brachte ihm gleich eine Handvoll Pluspunkte bei mir ein, denn die meisten Erwachsenen nahmen mich entweder gar nicht zur Kenntnis oder bedachten mich nur mit einem Kopfnicken.

Von jenem Zeitpunkt an besuchte ich den Laden des Bücherwurms mehrmals in der Woche. Ab und an kaufte ich mir von meinem Taschengeld ein Buch, aber meistens saß ich nur in der Leseecke und schmökerte. Von den Bilderbüchern arbeitete ich mich im Laufe der Jahre zu den Romanen hoch, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Die Bilderbücher standen in den untersten Reihen und die Romane und Sachbücher darüber. Je mehr ich wuchs, umso höher ins Regal konnte ich greifen. Wenn andere Kinder ihr Wachstum anhand von Strichen an der Wand oder am Türrahmen verfolgten, maß ich meine Entwicklung an den Reihen des Bücherregals.

Oft war außer mir und dem Bücherwurm niemand im Laden. Dann kam er zu mir herüber oder rief mich zu sich und führte mich nach und nach in die Geheimnisse seiner Bücher ein.

Neben den Neuerscheinungen, die er vorne im Laden verkaufte, gab es noch ein Hinterzimmer, das ich erst nach zwei Jahren unserer Bekanntschaft erstmals betreten durfte. Es war ein fensterloser Raum, dessen Wände komplett von Bücherregalen bedeckt waren. Im Gegensatz zu vorne waren sie allerdings nicht mit neuen, sondern mit alten Büchern gefüllt. Das konnte man schon beim Eintreten am Geruch erkennen, einer Mischung aus Staub, Säure und Muff, der mich mit steter Regelmäßigkeit zum Niesen brachte.


In diesem Raum zeigte sich die eigentliche Leidenschaft des Bücherwurms: die Jagd nach alten Büchern, die nicht mehr verlegt wurden und von denen es oft nur noch wenige Exemplare auf der Welt gab.

"Bücher hatten früher eine ganz andere Bedeutung als heute", erklärte er mir einmal. "Vor der Erfindung der Buchdruckkunst wurden sie von Hand abgeschrieben, und oft gab es nur zwei oder drei Exemplare eines Buches. Weil das so viel Arbeit machte, kannst du dir vorstellen, dass nur wirklich wichtige Dinge niedergeschrieben wurden. Auch nach der Einführung der Druckerpresse waren Bücher ein seltenes und teures Gut. Meistens wurden nicht Tausende von Exemplaren gedruckt, sondern nur ein paar Dutzend."

Bei diesen Worten nahm er einen Karton aus einem der Regale, öffnete den Deckel und hob vorsichtig ein in Plastikfolie eingeschlagenes Buch heraus. Es war in rotes Leder gebunden und mit Goldverzierungen versehen.

"Dieses Buch ist über dreihundert Jahre alt", sagte er, während er es behutsam aus seiner Hülle hervorzog. Er winkte mir. "Komm her."

Ich stellte mich neben ihn und sah ihm dabei zu, wie er das Buch mit spitzen Fingern aufschlug. Die Seiten waren mit einer Schrift bedeckt, die ich nicht entziffern konnte. Ab und an unterbrachen Zeichnungen von Tieren oder Pflanzen den klein gedruckten Text.

"In diesem Buch steht alles, was man zum Zeitpunkt seines Erscheinens über Biologie wusste", erklärte der Bücherwurm. "Es ist in altem Französisch verfasst, deshalb wirst du es kaum lesen können. Es wurde in einer Auflage von einhundert Exemplaren gedruckt und kostete damals so viel wie heute ein gut ausgestattetes Auto. Jetzt ist es ein kleines Vermögen wert"

Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und ließ meine Finger über das Papier gleiten. Es fühlte sich rau und brüchig an, so als könne es jeden Augenblick auseinanderfallen. Schnell zog ich meine Hand zurück.

Der Bücherwurm lachte. „Keine Angst. So empfindlich ist das alte Schätzchen nicht. Es ist immer gut behütet worden, deshalb ist es auch so gut erhalten.“

Vorsichtig klappte er das Buch zu und schob es wieder in die Plastikhülle.

"Was machen Sie mit diesen alten Büchern?", fragte ich.

Er stellte den Karton mit dem Biologiebuch zurück ins Regal. "Ich verkaufe sie an denjenigen, der bereit ist, dafür den richtigen Preis zu bezahlen", erklärte er. "Und von dem ich das Gefühl habe, er weiß zu würdigen, was ich ihm anbiete."

Ich blickte ihn fragend an. Er zupfte seine verbeulte dunkelgrüne Cordhose zurecht, als ob sie das wieder in Form bringen könnte.

"Alte Bücher sind keine Ware wie jede andere. Sie sind Zeugen ihrer Zeit. Durch sie hören wir die Stimmen unserer Vorfahren, lernen ihre Gedanken kennen und nehmen an ihrem Leben teil. Deshalb muss man ihnen mit viel Respekt gegenübertreten. Wer zwar Geld hat, aber keinen Respekt, der ist in meinen Augen nicht würdig, sie zu besitzen."

Ich verstand nicht wirklich, was er damit meinte. Schließlich war ich damals auch erst sieben Jahre alt. Es sollte noch einige Zeit vergehen, bis ich den Sinn seiner Worte begriff.


Als ich zwölf Jahre alt war, lud der Bücherwurm mich zum ersten Mal ein, ihn in seinem Haus zu besuchen. Er wohnte in einer großen alten Villa, nicht weit von seiner Buchhandlung entfernt.

Wir hatten uns an einem Mittwochnachmittag verabredet, weil die Buchhandlung dann immer geschlossen war. Ich ging durch einen verwilderten Vorgarten, stieg drei bröckelnde Stufen zur Tür empor und drückte auf die einzige Klingel, die es gab. Wenige Sekunden später öffnete sich die riesige Holztür, und vor mir stand ein Junge, der vielleicht so alt sein mochte wie ich. Auf jeden Fall war er mindestens einen Kopf größer. Er hatte strubbelige schwarze Haare und trug einen verwaschenen Pullover, löchrige Jeans und ein Paar Turnschuhe, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Um seine Schultern lag eine ziemlich gefährlich aussehende dünne Schlange, die mir träge ihren Kopf entgegenstreckte. Er starrte mich an, ohne ein Wort zu sagen.

"Ähm, bin ich hier richtig bei Lackmann?", druckste ich herum und spürte, wie ich rot anlief, denn gerade war mir der Gedanke gekommen, dass ich mich vielleicht in der Hausnummer geirrt haben könnte. Außerdem traute ich der Schlange nicht. Sie sah so aus, als könnte sie jede Sekunde nach vorn schießen und ihre Fangzähne in meinen Hals bohren.

Der Junge legte den Kopf schief und sagte: "Du bist Arthur." Seine Stimme klang merkwürdig hoch. Er machte eine Handbewegung in Richtung der Schlange. "Das hier ist Misia. Sie tut dir nichts. Außerdem ist sie ungiftig. Komm rein!"

Ich zögerte. Da hörte ich die Stimme des Bücherwurms aus dem Inneren des Hauses: "Wer ist das, Larissa? Ist das Arthur? Bring ihn rein!"

Larissa? Das war doch kein Jungenname! Ich sah mein Gegenüber scharf an. Jetzt fiel mir auf, dass die Gesichtszüge etwas Mädchenhaftes hatten. Und dann die Stimme – ganz klar! Das war ein Mädchen! Wie konnte ich nur geglaubt haben, einen Jungen vor mir zu haben? Das Rot in meinem Gesicht bekam einen frischen Anstrich.

Larissa hatte sich umgedreht und war im Flur hinter der Haustür verschwunden. Ich beeilte mich, ihr zu folgen, allerdings in sicherem Abstand zu der Schlange. Sie führte mich in einen großen Raum, der nur aus Büchern zu bestehen schien. An den Wänden zogen sich bis zur Decke Bücherregale hoch, und jeder freie Zentimeter auf dem Boden oder den Möbeln war mit hohen Bücherstapeln bedeckt.

Der Bücherwurm hockte zwischen zwei Büchertürmen und sah kurz auf, als er uns eintreten hörte. "Ah, Arthur, schön, dass du da bist. Larissa hast du ja bereits getroffen. Sie kann dir das Haus zeigen. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen." Mit diesen Worten tauchte er wieder zwischen den Büchern ab.

Ich stand etwas verloren da, denn ich hatte etwas anderes erwartet, als von einem Mädchen mit einer Schlange um den Hals herumgeführt zu werden. Aber ich konnte ja schlecht wieder gehen. "Klar", sagte ich und: "Lassen Sie sich nicht stören". Dabei hätte ich mich am liebsten zu ihm zwischen die Bücher gesetzt.

Stattdessen ließ ich mich von Larissa durchs Haus führen. Bis auf die große Wohnküche, das Bad und das Schlafzimmer des Bücherwurms waren alle Räume im Erdgeschoss vollgestopft mit Büchern.

Auch im ersten Stock sah es nicht anders aus. Hier befand sich auch Larissas Zimmer.

Es war mindestens dreimal so groß wie mein eigenes und mindestens zehnmal so unaufgeräumt. In einer Ecke des Raums waren mehrere Terrarien übereinandergestapelt, in denen sich diverse Schlangen und Echsen tummelten. Eine weitere Ecke wurde von einer großen Staffelei mit einer halb bemalten Leinwand beherrscht. An der Wand dahinter lehnten Dutzende von Gemälden, eines wilder als das andere.

Auf einem großen Holztisch stapelten sich Kabel und alle möglichen elektronische Bauteile: große und kleine Platinen, Transistoren, zwei auseinandergenommene Computer, ausgeschlachtete Handys und Tablets und vieles mehr. Unter dem Fenster befand sich ein Bett voller Stofftiere, auf beiden Seiten flankiert von einem Digitalpiano und einer elektrischen Gitarre. Der Rest des Raums war vollgestellt mit diversen Geräten, darunter ein riesiges Teleskop, ein Heimtrainer und ein Mikrofon auf einem Ständer, an dem ein Gürtel mit sechs verschiedenen Mundharmonikas hing.

Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst sehen sollte. "Warum bist du eigentlich nie im Buchladen?", fragte ich sie, mehr aus Verlegenheit als aus wirklicher Neugier.

"Ooch, ich bin nicht so scharf aufs Lesen", erwiderte sie, während sie die Schlange von ihrer Schulter hob und sie ins Terrarium gleiten ließ. "Außerdem habe ich hier im Haus alles an Büchern, was ich brauche – wie du unschwer erkennen kannst." Ihre Stimme schien mir einen bitteren Unterton zu haben.

"Aber was machst du dann so, wenn du keine Schule hast?" Ich konnte damals noch nicht verstehen, warum jemand, der in einem Haus voller Bücher aufwächst, mit Büchern nichts anfangen kann.

Sie lachte. "So eine Frage kann auch nur ein Bücherwurm wie du stellen. Bücher sind nicht der einzige Weg, etwas über die Welt zu erfahren. Nimm zum Beispiel Misia." Sie deutete auf die Schlange, die sich mittlerweile in ihrem Terrarium zusammengerollt hatte. "Indem ich sie beobachte, lerne ich mehr über das Verhalten von Schlangen als du aus all deinen Büchern."

"Das ist nicht wahr!", protestierte ich. "Du siehst vielleicht, wie deine Schlange sich verhält, weißt aber nicht, warum sie bestimmte Dinge tut. Dazu brauchst du Bücher."

Larissa zuckte mit den Schultern. "Bisher bin ich ganz gut ohne ausgekommen." Sie fasste mich am Arm und zog mich zu dem Tisch mit dem Elektronikkram.

"Sieh mal her! Ich konstruiere gerade einen SETI-Modulator."

"Aha." Ich nickte verständnislos.

"Du kennst doch SETI? Die Suche nach außerirdischen Lebewesen? Mit meinem Modulator kann ich Radiosignale, die aus dem Weltraum auf der Erde eintreffen, filtern und feststellen, ob sich darunter Botschaften an uns verbergen. Komm her, ich zeig’s dir."

Was folgte, war ein zweistündiger Vortrag über Radiofrequenzen, schwingende Harmonien (dazu benutzte sie die Gitarre), nonverbale Verständigung von Reptilien untereinander sowie die Anwendung dieses Prinzips auf die Filterung von Radiosignalen und was weiß ich noch. Außerdem erfuhr ich nebenbei noch, dass

- sie die Enkelin des Bücherwurms war

- ihre Eltern vor acht Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen waren und sie seitdem bei ihrem Großvater lebte

- sie nur unregelmäßig zur Schule ging und

- zwölf Jahre alt war.

Als wir danach in der Wohnküche beim Abendbrot saßen, schwirrte mir der Kopf wie selten zuvor. Wie konnte jemand nur so viel reden? Selbst beim Essen stand ihr Mund nicht still. Sie quetschte mich aus, fragte nach meiner Familie, meinen Lehrern in der Schule, meinen Hobbys und tausend anderen Sachen. Ich war froh, als der Bücherwurm mich nach dem Essen zu sich in sein Arbeitszimmer winkte.

Er dirigierte mich zu einem alten, abgewetzten Ledersessel und bedeutete mir, Platz zu nehmen.

"Hättest du nicht Lust, mir in den Sommerferien zwei oder drei Wochen im Buchladen zu helfen und dir ein wenig Taschengeld zu verdienen?"

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was er mir da vorschlug. Ihm zu helfen und dafür noch Geld zu bekommen, klang mehr als verlockend, da ich sowieso einen Großteil meiner Freizeit in seinem Laden verbrachte. Außerdem fühlte ich mich geehrt, ein solches Angebot von ihm zu bekommen.

"Ja klar … gerne … darüber freue ich mich …", stammelte ich.

"Es ist allerdings eine Bedingung daran geknüpft", fuhr er fort. "Ich möchte, dass du während dieser Zeit hier bei mir wohnst. Du bekommst natürlich dein eigenes Zimmer; wie du gesehen hast, haben wir hier genug Platz. Und nach der Arbeit könntest du ja vielleicht etwas mit Larissa unternehmen. Sie hat keine Freunde und da wäre es ganz gut, wenn sie mal ein wenig Gesellschaft bekommt."

Was sollte ich darauf antworten? Natürlich wollte ich gern beim Bücherwurm arbeiten. Andererseits war ich mir nicht so sicher, ob ich Larissa wirklich mochte. Sie war so anders als ich. Die Vorstellung, drei Wochen lang die Abende mit ihr verbringen zu müssen, war nicht besonders einladend.

Der Bücherwurm bemerkte mein Zögern. Er seufzte. "Ich weiß, Larissa ist nicht ganz einfach. Ein Großvater ist kein Ersatz für die Eltern, und ich fürchte, ich habe ihr nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die sie benötigt hat. Aber im Grunde ihres Herzens ist sie ein liebes Mädchen. Sie ist nur ein wenig einsam."

Was sollte ich tun? Konnte ich sein Angebot, das doch zugleich eine Bitte um Hilfe war, ausschlagen? Natürlich nicht.

Der Alte streckte mir seine Hand entgegen, und ich schlug ein.

So wurde ich zum Mitarbeiter (und zeitweiligen Mitbewohner) des Bücherwurms. Er redete mit meinen Eltern, und die hatten nichts dagegen einzuwenden. Zunächst waren es nur drei Wochen in den Sommerferien, die ich bei ihm wohnte und arbeitete, doch schon im zweiten Jahr kamen die Osterferien dazu und danach die Herbstferien.

Auch wenn ich Larissa meistens aus dem Weg ging, so konnte ich doch nicht vermeiden, ihr dann und wann über den Weg zu laufen. Sie nutzte diese Gelegenheiten, um mich in ihr Zimmer zu zerren und mir ihre neuesten Erkenntnisse mitzuteilen.

Deshalb begann ich mir immer neue Geschichten auszudenken, warum ich ihr gerade jetzt nicht folgen konnte. Zu Anfang täuschte ich kleinere Wehwehchen vor, unter denen ich litt und die dringend der Behandlung/Pflege/Ruhe bedurften. Dann ergänzte ich die Palette um wichtige Dinge, die ich erledigen musste, zum Beispiel Anrufe tätigen, E-Mails beantworten oder an einem Kurzgeschichtenwettbewerb teilnehmen und rundete mein Repertoire schließlich ab mit Stimmungstiefs wegen schwer erkrankter Tanten oder Omas.

Eine Zeit lang funktionierte das ganz gut, aber irgendwann kam Larissa mir doch auf die Schliche.

"Du würdest einen wirklich guten Autoverkäufer abgeben", sagte sie eines Tages, als wir gemeinsam beim Abendessen um den Tisch saßen.

Ich blickte von meinem Brot auf, das ich gerade mehrlagig mit Wurst und Käse bestückt hatte.

"Wieso das denn?" fragte ich unschuldig.

"Weil du den Leuten alles verkaufen kannst. Ich bin ja auch ziemlich lange drauf reingefallen."

Der Bücherwurm sah mich fragend an. Ich konzentrierte mich auf mein Brot. "Ich weiß gar nicht, wovon du redest."

"Na komm schon, ich bin dir ja nicht böse deshalb. Das sollte eigentlich ein Lob sein."

Vorsichtig hob ich meinen Kopf. Larissa grinste mich an. "Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Man soll eben niemanden unterschätzen."

Das klang nicht wirklich wie ein Lob, aber ich ließ es dabei bewenden. Der Bücherwurm lächelte: "Arthur hat ein Talent, über das alle großen Betrüger und Schriftsteller verfügen. Er kann Geschichten erzählen. Und wenn man es näher betrachtet, dann sind doch alle Schriftsteller Schwindler, findet ihr nicht auch?"

Nach diesem Vorfall blieb ich möglichst lange im Buchladen; entsprechend weniger Zeit musste ich mit Larissa verbringen. Manchmal konnte ich ihren wissenschaftlichen Vorträgen zwar nicht aus dem Weg gehen, aber im großen Ganzen war es eigentlich erträglich. Auf diese Weise verlief mein Leben in ruhigen und geordneten Bahnen.

Bis zu jenem Tag, an dem ein merkwürdiger Besucher alles durcheinanderbrachte.


Arthur und die Vergessenen Bücher

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