Читать книгу Arthur und die Vergessenen Bücher - Gerd Ruebenstrunk - Страница 6
ОглавлениеProlog
Ein käsiger Mond tauchte das winzige Pyrenäendorf inmitten der zerklüfteten Felslandschaft in ein fahles Licht, als sich zwei dunkle Gestalten aus der Tür des Dorfgasthauses stahlen. Sie verharrten einen Moment regungslos, als wollten sie überprüfen, dass niemand ihnen gefolgt war; Dann huschten sie, immer im Schatten der geduckten Gebäude, um den Dorfplatz herum und verschwanden in einer Gasse.
Nach wenigen Metern erreichten sie einen Pfad am Ortsrand, der sich den Berghang entlang nach oben schlängelte. Schweigend folgten sie ihm, bis sie etwa zwanzig Meter über dem Dorf waren.
Im Mondlicht konnte man erkennen, dass es sich bei den beiden um eine junge Frau und einen jungen Mann handelte. Sie trugen schwarze Hosen und schwarze Pullover und hatten sich dunkle Wollmützen über die Haare gezogen.
Die Nacht war kalt. Ein feiner Nebel lag über der Landschaft, und der Atem der beiden Schwarzgekleideten formte kleine Schleier vor ihren Gesichtern.
Der Mann zog eine große Taschenlampe aus der Tasche, die über seiner Schulter hing.
"Bist du verrückt?!", zischte die Frau. "Wenn uns nun jemand sieht?"
"Wir sind weit genug vom Dorf weg", erwiderte der Mann. "Und außerdem schlafen die Dorfbewohner alle. Sei nicht so nervös."
"Ich bin nicht nervös, ich bin nur vorsichtig. Wir machen schließlich keinen Vergnügungsausflug. Ich habe keine Lust, die nächsten Jahre in einem spanischen Gefängnis zu verbringen."
Widerwillig stopfte der Mann die Taschenlampe wieder zurück. "Wir können die Sache immer noch abblasen. Ich habe sowieso kein gutes Gefühl dabei."
"Ach, kommen jetzt wieder die Gewissensbisse?", fragte seine Begleiterin mit sarkastischem Unterton. "Wer hat denn gesagt: Lass uns das Buch holen? Soweit ich mich erinnern kann, bist du das gewesen."
Der Mann antwortete nicht, und sie setzten ihren Aufstieg stumm weiter fort. Der schmale Pfad, dem sie folgten, wurde immer wieder von den Schatten großer Felsbrocken verschluckt, die wie gigantische Spielklötze über den Abhang des Hügels verstreut lagen. Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf. Das Heulen wurde vereinzelt von Hundegebell erwidert.
Ungefähr dreißig Meter über ihnen schälten sich aus der Felswand die Umrisse eines geduckten Gebäudes heraus.
"Das muss die Kapelle sein", keuchte der Mann, der offensichtlich nicht sehr sportlich war und schnell außer Atem geriet.
Wenige Minuten später standen sie auf einem kleinen Plateau. Vor ihnen lag ein einfacher Steinbau, der aus grob behauenen Quadern zusammengesetzt war. Anstelle von Fenstern wiesen die Längsseiten lediglich eine Reihe von schmalen Schlitzen auf. Nur an einem kleinen Kreuz über der schweren hölzernen Eingangstür konnte man erkennen, dass es sich um eine Kirche handelte.
Die Frau rüttelte am Türgriff. Sie fluchte leise. "Verschlossen, das war doch klar." Verärgert drehte sie sich zu ihrem Begleiter. "Wie kommst du darauf, dass die Türe immer offen stehen würde?"
"Das hat mir der Gastwirt beim Abendessen erzählt", verteidigte sich der Mann. "Vielleicht klemmt sie nur?"
Die Frau versuchte es erneut. "Die bewegt sich keinen Zentimeter." Sie stemmte die Hände in die Hüften.
"Es könnte ein Zeichen sein", sagte ihr Begleiter mit leiser Stimme. "Noch haben wir die Möglichkeit umzukehren."
"Ich fahre nicht in einem klapprigen Citroën durch halb Europa, um dann einen Meter vor dem Ziel zu kneifen!", explodierte die Frau. "Gib her!" Mit diesen Worten riss sie dem Mann die Tasche von der Schulter und begann darin herumzuwühlen. "Sag bloß, du hast kein Brecheisen eingepackt?"
"Doch, doch, das liegt ganz unten, eingewickelt in einen Lappen." Der Mann zog seinen Oberkörper unwillkürlich etwas zurück. Er machte eine kleine Pause. "Ich bitte dich: Du hast die Dorfbewohner heute Abend doch auch gesehen. Es sind herzensgute Menschen. Und wir wollen ihnen das wegnehmen, was ihnen das Heiligste ist."
"Was interessieren mich diese Bauern?", stieß die Frau verächtlich hervor und wickelte das Brecheisen aus dem Tuch. "Ob das Buch da drin ist oder nicht, das wird sie nicht glücklicher oder unglücklicher machen. Aber uns macht es unbesiegbar!"
Sie drückte ihrem Begleiter das Brecheisen in die Hand. "Hier, jetzt kannst du dich mal nützlich machen, statt immer nur zu jammern."
Widerwillig nahm der Mann das Werkzeug entgegen. Er setzte es am Türschloss an und drückte den Eisenstab vorsichtig zur Seite.
"Willst du die Tür öffnen oder bloß streicheln?", höhnte die Frau. "Jetzt zeig mal, ob du ein Mann bist oder nur ein verkümmerter Bücherwurm!"
Ihr Begleiter presste die Zähne zusammen und schluckte seine Antwort herunter. Er lehnte sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen das Brecheisen, bis ein lautes Knirschen zu vernehmen war.
Die Frau drängte ihn zur Seite und versetzte der Tür einen kräftigen Stoß mit dem Fuß. Knarrend schwang sie auf. Das Innere der Kapelle lag fast vollständig im Dunkel. Durch die schmalen Fensterschlitze tasteten sich zaghaft ein paar Strahlen des Mondlichts herein, die allerdings mehr Schatten als Licht erzeugten.
Der Mann tauschte das Brecheisen gegen die Taschenlampe und knipste sie an. Er ließ den Lichtstrahl durch den Raum vor ihnen kreisen. Viel war nicht zu sehen.
Gegenüber der Eingangstür befand sich der Altar. Davor erstreckten sich zwei Reihen von schlichten Holzbänken, die durch einen schmalen Mittelgang getrennt waren. Die Mauern waren weiß gekalkt. In der Mitte der niedrigen Decke hing ein kleiner Käfig aus Metall, kaum groß genug für einen ausgewachsenen Kanarienvogel.
Beim Anblick des Käfigs lief dem Mann ein Schauer über den Rücken. Er wusste zwar nicht, warum er dort hing, doch die seltsame Anwesenheit dieses Gegenstandes verstärkte sein wachsendes Unbehagen.
Die Stimme seiner Begleiterin riss ihn aus seinen Gedanken. Sie stand bereits neben dem Altar, der aus einem einzigen Felsblock gehauen war.
"Wo bleibst du denn?!", rief sie ungeduldig. Zögernd folgte der Mann ihr. Als er schließlich den Altar erreicht hatte, kniete die Frau bereits neben dem Steinblock und betastete seine Seiten.
"Leuchte mal her!", kommandierte sie. Im Licht der Taschenlampe inspizierte sie eine bestimmte Stelle des Altars. Dann lehnte sie sich befriedigt zurück.
"Es ist, wie ich gedacht habe. Nur eine einfache Steinplatte. Los, pack mit an!"
Der Mann steckte die Taschenlampe in eine Schlaufe an seinem Gürtel. In ihrem indirekten Licht sah das Gesicht seiner Begleiterin wie eine verzerrte Maske aus.
"Ich …", begann er, aber sie schnitt ihm sofort das Wort ab.
"Jetzt fang nicht wieder an!", fauchte sie.
"Wir können das nicht tun", sagte er. "Es ist nicht richtig."
"Wenn wir jetzt aufhören, dann war alles umsonst!", rief sie. "Denk nur an die Macht, die wir besitzen werden. Oder die Reichtümer. Keiner wird uns widerstehen können. Keiner!" Ihre Stimme war schrill geworden.
"Aber …", hob der Mann an.
"Es gibt kein Aber! Du hast es selbst gesagt: Wer die Vergessenen Bücher besitzt, wird die Welt beherrschen. Jetzt liegt das Erste dieser Bücher nur noch eine Handbreit von uns entfernt und du willst kneifen? Dann hole ich es mir eben allein!"
Mit diesen Worten legte sie die Hände an die Steinplatte auf dem Altar und begann dagegen zu drücken. Der Mann zögerte einen Moment. Dann packte auch er mit an.
Die Platte war schwer und offenbar seit vielen Jahren nicht mehr bewegt worden, denn sie gab um keinen Zentimeter nach. Einige Minuten war nichts zu hören außer dem angestrengten Ächzen der beiden.
Der Mann wollte schon aufgeben, als sich die Platte mit einem schabenden Geräusch einige Zentimeter bewegte.
"Ha!", rief die Frau triumphierend und drückte mit neuer Kraft dagegen. Auch ihr Begleiter spürte jetzt, wie ihn das Jagdfieber erfasste. Er mobilisierte seine letzten Kräfte, und gemeinsam gelang es ihnen, die Platte so weit zur Seite zu schieben, um mit einem Arm in die Truhe greifen zu können.
Die Frau zog ihm die Taschenlampe aus der Schlaufe und leuchtete in den Hohlraum. Im Lichtschein erkannten sie eine kleine Holzkiste, die mit zahlreichen goldenen Ornamenten verziert war. Sie stand auf einem Sockel in der Mitte der Truhe.
Der Mann steckte seinen Arm in den Altar und betastete den Sockel, auf dem die Kiste stand.
"Leder!", rief er. "Das muss es sein!"
Vorsichtig schob er die Holzkiste beiseite und hob den Sockel, der nur wenige Zentimeter hoch war, an. Er brauchte mehrere Versuche, um den Gegenstand durch die schmale Öffnung herauszuziehen. Schließlich lag das lederumwickelte Paket vor ihnen auf dem Altar.
Mit zitternden Fingern klappte die Frau, die die Taschenlampe an ihren Begleiter weitergereicht hatte, das Tuch auseinander. Darunter kam ein großes, in dickes schwarzes Leder gebundenes Buch zum Vorschein. In den Buchdeckel war eine Reihe merkwürdiger roter Zeichen eingelassen, die keinen bekannten Buchstaben glichen. Am ehesten, so fand der Mann, ähnelten die Zeichen der Keilschrift der Babylonier.
Ehrfurchtsvoll strich die Frau mit der Hand über das Buch. Das Herz des Mannes klopfte bis zum Hals. Über acht Jahre hatten sie gearbeitet, um diesen Moment zu erleben. Und jetzt war es Wirklichkeit geworden! Sie hatten das Buch gefunden, nach dem so viele andere seit Jahrhunderten vergeblich gesucht hatten!
Die Frau kehrte zuerst in die Gegenwart zurück. "Steck es ein und dann nichts wie weg." Sie wickelte das Buch wieder in das Ledertuch, und der Mann verstaute es vorsichtig in seiner Umhängetasche.
Ein Windstoß fuhr durch die Tür der Kapelle. Der Mann zuckte zusammen, denn es war, als streiche ihm eine eiskalte Hand über sein Gesicht. Zugleich ertönte ein gespenstisches Quietschen.
Er richtete den Strahl der Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Es war der Käfig unter der Decke. Der Windstoß musste ihn in Bewegung versetzt haben, denn er schaukelte leicht quietschend hin und her.
Auch der Frau war die Sache nicht ganz geheuer. Der Käfig warf wechselnde Schatten auf die Wände der Kapelle, die sich auf die beiden Eindringlinge zuzubewegen schienen.
Mit großen Schritten liefen die beiden zur Tür. Der Mann erwartete, jeden Augenblick von einem der dunklen Schatten gepackt und zurückgerissen zu werden. Aber er und seine Begleiterin erreichten unbeschadet den Ausgang und eilten den Bergpfad zum Dorf hinab.
Das Wolfsgeheul war verstummt. Merkwürdig gezackte Wolken jagten vor dem blassen Mond her. Mehrfach mussten die beiden anhalten, weil der Weg im flackernden Mondlicht nicht mehr genau zu erkennen war.
Schließlich erreichten sie die Straße, die zurück ins Dorf führte. Der Mond war inzwischen fast völlig von dunklen Wolken verdeckt. Vom Dorfrand her versuchte eine einsame Straßenlaterne vergeblich, die Nacht aufzuhellen.
"Du wartest hier", sagte die Frau. "Ich hole den Wagen. Es wäre zu gefährlich, mit dem Buch durchs Dorf zu gehen." Mit diesen Worten verschwand sie im Dunkel.
Der Mann ließ sich seufzend auf einem Felsen am Straßenrand nieder. Nervös blickte er über die Schulter auf den Bergpfad zurück. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihnen jemand von der Kapelle gefolgt war. Aber er konnte in der Dunkelheit weder etwas sehen noch hören.
Die Begeisterung, die ihn bei der Entdeckung des Buches ergriffen hatte, war völlig verschwunden. Acht lange Jahre der Vorbereitung - und jetzt, da sie ihr Ziel erreicht hatten, verspürte er nur eine tiefe Müdigkeit. In seiner Tasche befand sich ein Buch, dessen Inhalt den Lauf der Weltgeschichte verändern konnte. Doch der Mann sah nur das vor Gier verzerrte Gesicht seiner Begleiterin vor sich. In den letzten Monaten hatte er erfahren müssen, wie skrupellos sie handeln konnte, wenn sich ihr jemand in den Weg stellte. Wie würde das erst sein, wenn sie über die Macht des Buches verfügte?
Wollte er auch so werden? Waren Macht und Reichtum es wert, ihnen das eigene Leben und vielleicht das vieler anderer zu opfern? Natürlich hätte er gerne die Geheimnisse des Buches entschlüsselt. Aber es war Unrecht, es den Dorfbewohnern zu stehlen. Und in den Händen seiner Begleiterin konnte es zu einer furchtbaren Waffe werden.
Mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte.
Wenige Minuten später hörte er das Tuckern des Automotors. Die Frau steuerte den Wagen ohne Licht. Sie hielt den kleinen Citroën genau vor ihm an und stieß die Beifahrertür auf. Der Mann reichte ihr seine Umhängetasche und wollte gerade selbst einsteigen, als sie aufs Gaspedal trat und das Auto mit aufheulendem Motor um die Kurve verschwand.
Der Mann war durch den plötzlichen Start des Autos aus dem Gleichgewicht geraten und auf die Straße gefallen. Er richtete sich auf und klopfte sich den Staub von seiner Hose. Dann seufzte er erneut: Sie hatte also von Anfang an vorgehabt, das Buch für sich allein zu behalten und ihn zurück zu lassen. Wer die Weltherrschaft anstrebte, teilte eben nicht gern mit anderen.
Die Wolken hatten den Mond wieder freigegeben. Der Mann warf noch einen letzten Blick in Richtung des verschwundenen Autos. Dann machte er sich langsam auf den Weg ins Dorf.
Versteckt unter seiner Jacke, spürte er das raue Leder des Buches auf seiner Haut. Die Frau würde sicher bald bemerken, dass sich in der Tasche auf dem Beifahrersitz bloß ein in Stoff gewickeltes Holzstück befand. Er hatte ihr das genommen, was sie mehr als alles in der Welt begehrte.
Und er wusste, dass er von nun an eine Feindin auf Lebenszeit hatte.