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Kapitel 1
ОглавлениеHeiße Füße im Großhubschrauber
oder
Ein triefend nasses Traumbild
Das Meer rief mich. Ein wohlbekanntes Drängen in meinem Kopf verriet mir, dass mir jemand eine Botschaft übermitteln wollte. Das Druckgefühl war so stark, dass dieser Jemand nur der ungeheure Wasserkörper sein konnte, über den ich gerade dahinschwirrte. Die beiden Helikopterpiloten vorne im Cockpit schieden aus, und sonst gab es im Umkreis von vierhundert Kilometern kein lebendes Wesen, soviel ich wusste – von Fischen einmal abgesehen. Es gab nur das Meer.
Ich konzentrierte mich nach Kräften, doch ich konnte die Botschaft nicht entschlüsseln. Aber sie hatte – dessen war ich mir sicher – etwas mit dem Fischschwanz zu tun, dessen Bild vor drei Tagen ganz unvermittelt einen Wimpernschlag lang wie ein Foto auf einem dieser neumodischen Digiframes in meinem Bewusstsein aufgeleuchtet war.
Leider begriff ich die Bedeutung der Schwanzflosse ebenso wenig wie die Nachricht des Meeres. Ich war wie vernagelt; dabei hatte ich ein paar Tipps von meiner launischen, aber oftmals hilfreichen Spezial–Informationsquelle dringend nötig. Ich tappte bei meinem neuen Fall nämlich noch völlig im Dunkeln.
Es schien dem Meer nicht recht zu sein, dass ich so begriffsstutzig war. Ich spürte, dass es mir grollte. Es war nur ein Vibrieren im Solarplexus, ein bodenloses Gefühl im Magen, plötzliche Trockenheit im Mund, aber es war unangenehm. Mit dem Meer sollte man sich möglichst nicht anlegen.
Ich stemmte mich einen Augenblick lang mit aller Kraft in den Sitz und warf mich anschließend in die Hosenträgergurte. Ich legte mich hinein wie ein Ackergaul ins Geschirr, drückte und zerrte wie wild, bockte wie ein Mustang am Lasso. Ich musste mich bewegen; vielleicht konnte ich das Hirngespinst auf diese Weise verscheuchen.
Bewegung fehlte mir sehr. Ich hatte so lange in Flugzeugen gehockt, eingesperrt wie eine Ölsardine in ihrer Blechdose, dass der Sauerstoffgehalt meines Blutes wahrscheinlich total in den Keller gefallen war und mich halluzinieren ließ. Warum sollte das Meer mir grollen? Ich erforschte mein Gewissen, aber es war rein. Das Meer hatte keinen Grund, mit mir zu hadern.
Trotzdem blieb ein flaues Gefühl. Was das Meer tat, nahm man gerade in meinem Job nicht auf die leichte Schulter. Dafür war es zu gewaltig.
Da unten war es. Ich schaute seit dem Start in Port Elizabeth aus meinem Hubschrauberfenster, und es war mir unmöglich gewesen, meine Augen von diesem grenzenlosen, in Dutzenden von Grau– und Blautönen schimmernden Wasserkörper abzuwenden, über dem der Helikopter nach einstündigem Anflug seit etwa 35 Minuten spritsparende Suchkreise in gemäßigtem Tempo zog.
Ich war wie hypnotisiert. Ich hatte keine Ohren für den Sprechfunk, der in meinen Kopfhörern brabbelte; ich starrte auf das unbegreifliche Wesen, das sich sechs– oder siebenhundert Meter unter mir in Myriaden von Wellenformen räkelte und wälzte, streckte und zusammenzog, weiß Gott wohin wanderte, vom Indischen Ozean in den Atlantik oder umgekehrt, trotz der rastlos ziehenden Schaumkronen aber immer stillzustehen schien. Das so viel zeigte, aber nichts über sich verriet.
Es hatte mit meinem Arbeitsfeld zu tun, dass das Meer in mir dermaßen gegensätzliche Gefühle weckte – Andacht und Abscheu, Entzücken und Entsetzen, Begeisterung und Beklemmung. Als Fahnder für Schiffsversicherungen wusste man besser als andere, wie schrecklich es bei aller Schönheit sein konnte, wie launisch, unberechenbar und gnadenlos. Und wie trügerisch: Es gab sich azurblau, spiegelglatt und harmlos, plätscherte einladend mit unschuldigen Badewannenwellen, wiegte die Menschen mit Postkarten–Idyllen in Sicherheit, lockte Fischer in offenen Booten hinaus, nur um sich kurze Zeit später in eine rasende Bestie zu verwandeln, die mit himmelhohen bleigrauen Brechern um sich schlug.
Seine Größe, seine Gewalt, ja sogar seine Physik waren einzigartig. Es war ohne jeden Zweifel das mächtigste und gleichzeitig geheimnisvollste Ding auf dem Planeten, den man fälschlicherweise »Erde« genannt hatte und nicht »Wasser« oder »See«, obwohl fast drei Viertel seiner Oberfläche mit Ozeanen bedeckt waren. Das große Wasser kannte weder Skrupel noch Erbarmen, denn es hatte die »Palermo Express« und ihre Crew geschluckt – und es vielleicht nicht einmal gemerkt.
Wie sollte es auch? Man musste sich nur die Zahlen ansehen. Gerade im Fall der »Palermo Express« waren sie besonders aufschlussreich. Sie machten die Relationen klar – wie winzig klein wir Menschen und unsere größten Werke waren, und wie übermächtig das Meer.
Da war eines der größten Containerschiffe der Welt, ein nagelneuer, nach den letzten Erkenntnissen des Schiffbaus konstruierter und mit Elektronik und Sicherheitseinrichtungen vollgepackter Frachterriese, dem nach menschlichem Ermessen kein Sturm und kein Brecher etwas anhaben konnte – auch, weil es schweren Unwettern routinemäßig aus dem Weg ging.
Aber was war der Stahlkoloss im Vergleich zu der unendlichen Weite, Tiefe und Masse des Ozeans? Kaum mehr als ein Staubkörnchen in der Sahara. Die »Palermo Express« war 337 Meter lang gewesen, 43 Meter breit und vom Kiel bis zur Spitze der Aufbauten 61 Meter hoch. Damit überragte sie viele Kirchtürme. Als sie verschwand, war sie ein schwimmender bunter Tafelberg aus knapp 9.000 Standard–Containern gewesen. 17 Reihen hoch und 17 Reihen breit waren die sechs und zwölf Meter langen Stahlkästen, die in der Branche TEU und FEU genannt wurden, auf ihr gestapelt gewesen. Sie hatte eine Tragfähigkeit von 110 000 Tonnen gehabt und etwa ebenso viele PS, die sie 25 Knoten schnell gemacht hatten – respektable 46,3 Kilometer pro Stunde. Die stolze »Titanic«, ihres Zeichens ein Schnelldampfer, war selbst bei äußerster Kraft eine Handvoll Knoten langsamer gewesen.
Aber was waren hunderttausend PS gegen die Urgewalt des Meeres? Nichts!
Der »Gigant«, so hatten alle Zeitungen das in Panama registrierte riesige Schiff genannt, war für etwa 100 Millionen Dollar auf der Samsung–Werft im koreanischen Geoje gebaut worden und der ganze Stolz der Reederei gewesen, die voller Begeisterung über das Wunderwerk der Technik gleich nach der Übergabe des Kahns vier Schwesterschiffe geordert hatte.
Das Meer jedoch hatte eine 360 Millionen Quadratkilometer große Oberfläche und war im Schnitt 3700 Meter tief. Damit kam es auf 1,4 Milliarden Kubikkilometer. Das waren – wer kann schon mit Kubikkilometern umgehen? – 1,4 Milliarden Milliarden Kubikmeter. (Das ist kein Druckfehler, sondern eine absichtsvolle Wiederholung, denn alles, was jenseits der Milliarden liegt, wird für viele Nicht–Mathematiker unverdaulich.) Ein Kubikmeter Wasser brachte etwa eine Tonne auf die Waage, also wog das Meer – ich musste ein paar Sekunden nachdenken – 14 Trillionen Tonnen. Das war eine 14 mit 18 Nullen!
Ich hatte ein Faible für Zahlen – was sich gut traf, denn in meinem Job kam man nur auf einen grünen Zweig, wenn Zahlen für einen mehr waren als Kolonnen von Ziffern. Las oder hörte ich eine Zahl, hatte ich augenblicklich eine ziemlich exakte Vorstellung von ihrer Bedeutung, selbst wenn sie neun– oder zehnstellig war. Und ich wusste in der Regel sofort, ob sie stimmen konnte oder faul war. Mit 1,4 Milliarden Kubikkilometern hatte jedoch selbst ich Probleme – wie mit dem Staubkörnchen, das in der ungeheuren Flut verschwunden war. Denn ich sollte es finden, beziehungsweise sein Schicksal klären.
Ich konnte mich nicht beschweren, denn ich hatte den Auftrag angenommen, und der Erfolgsdruck war relativ gering, weil es ein »unlösbarer« Fall war. Aber ich war nun einmal der Experte für hoffnungslose Fälle. Ich hatte die Herren von Lloyds verwöhnt, und jetzt erwarteten sie Wunder von mir. Deshalb machte ich mir Sorgen, dass sich mein siebter Sinn nicht meldete – oder nicht so, wie ich es erhoffte. Außer dem Bild einer irgendwie klobigen Schwanzflosse oder Fluke, das in meinem Kopf aufgeleuchtet war, hatte ich nichts in der Hand. Das war bedauerlich wenig und als Hinweis keine große Hilfe; alleine da drunten gab es Millionen Flossen.
Die »Palermo Express« war auf ihrer zweiten Asien–Fahrt mit Mann und Maus gesunken. Auf der Reise Nummer 0004 hatte es jedoch weder einen schweren Sturm noch eine Kollision gegeben, mit der man den Verlust des Schiffes mit dem Rufzeichen PAXXX hätte erklären können. Auch Monsterwellen hatte niemand gemeldet, und das hieß, dass keine »Freak Waves« übers Meer gerollt waren; denn im Seegebiet vor dem Kap der Guten Hoffnung herrschte dermaßen viel Container–Verkehr von und nach Asien, dass eine Wasserwand von dreißig Metern Höhe unter keinen Umständen unbemerkt geblieben wäre.
Mit Wellen–Ungetümen dieser Art musste man in den fraglichen Breiten immer rechnen. Der Agulhasstrom, der dicht an Port Elizabeth vorbei nach Süden strebte, bei Kap Agulhas – der Südspitze Afrikas, der er seinen Namen verdankt – in den Atlantik vorstieß und nach einigen Hundert Seemeilen aus mysteriösen Gründen eine abrupte Kehrtwendung vollzog, war für seine Monsterwellen berüchtigt. An der Power, um Wogen aufzutürmen, fehlte es der gewaltigen Strömung keinesfalls: Pro Sekunde bewegte sie 65 Millionen Tonnen Wasser! Das reichte für einige Badewannen.
Die »Palermo Express« hatte keinen Notruf gesendet, und es hatte keine Überlebenden gegeben. Alle 25 Mann, in der Mehrzahl Philippinos, dazu die Schiffsoffiziere aus England, Norwegen und Indien, galten als vermisst und waren mit höchster Wahrscheinlichkeit umgekommen. Ebenso Kapitän Howard Shearer auf seinem letzten Turn vor der Pensionierung. Kleine Schachfiguren, die das Meer geschlagen hatte.
Wir hatten alle verfügbaren Satellitenbilder des Seegebiets vor dem Kap gekauft und ausgewertet: Auf drei Fotos eines Umweltsatelliten der NOAA, die um 8.37 Uhr und 8.57 Uhr geschossen worden waren, konnte man den Frachter-Goliath, das Flickenmuster der Container und das Kielwasser gestochen scharf erkennen; auf dem Bild von 9.17 Uhr dagegen fehlte von ihm jede Spur.
Der Riesenpott hatte die erste Hälfte seiner Rundreise zurückgelegt, die von Le Havre über Antwerpen, Southampton, Singapur, Hongkong, Yantian, Xiamen nach Shanghai führte und zurück nach Xiamen, Yantian, Hongkong, Singapur, Port Klang in Malaysia und schließlich Le Havre. Auf der Heimreise war er irgendwo vor dem Kap abgesoffen, dort, wo der Indische Ozean und der Atlantik verschmolzen.
Im Seegebiet zwischen dem Kap und den Prinz–Edward–Inseln, etwa eine Tagesreise nach Überquerung des Südlichen Wendekreises, waren drei Container der »Palermo Express« geborgen worden. Sie waren nicht untergegangen, weil sie sich vom sinkenden Schiff losgerissen hatten, bevor der Wasserdruck sie zerquetscht hatte, und eine kaum zu übertreffende Schwimmhilfe sie über Wasser hielt: Zehntausende in Plastik eingeschweißter Männerunterhosen aus China.
Man hatte versucht, aus ihren Fundorten die Position der »Palermo Express« beim Untergang zu errechnen; aber das hatte wegen der stürmischen See und der häufig wechselnden und keineswegs immer bekannten Strömungsverhältnisse im Seegebiet vor dem Kap nicht geklappt. Die Computer hatten für jeden Container einen völlig anderen Eintauchpunkt errechnet und keinen Schnittpunkt der simulierten Treibwege gefunden. So hatte man den Ort der Havarie nur auf ein Areal von 25 mal 40 Seemeilen eingrenzen können.
Landratten erschien das nicht sonderlich viel. Sie bemerkten erst, um welch ein riesiges Gebiet es sich in Wirklichkeit handelte, wenn man ihnen die eintausend Quadratmeilen in Quadratkilometer umrechnete. Dann sperrten sie allerdings Mund und Augen auf, denn das Resultat waren 3434 Quadratkilometer. Eine ganze Menge km2 also, über denen ich jetzt kreiste.
Das war ein wenig kostspielig, und ich hatte kein übermäßig angenehmes Gefühl dabei. Nicht, weil es mir um die Pfund Sterling von Lloyds leidgetan hätte. Gott bewahre! Die hatten Geld zum Verbrennen, wie wir Briten zu sagen pflegen. Mich wurmte einzig und allein, dass der Flug reiner Aktionismus war, weil ich keine Eingebung gehabt hatte, und ich Aktionismus verabscheute.
Dabei war hier etwas. Das Gefühl war eindeutig; aber Empfindungen nutzten mir derzeit wenig. Sie waren dumpfe Regungen des Unterbewusstseins,, unlogische, taubstumme und blinde Empfindungen, die wie Würmer durch das Gehirn krochen. Was ich brauchte, waren Einsichten, Informationen, Tipps, an denen Fleisch war. Notfalls würde ich mich auch mit einem der Träume zufriedengeben oder einer Meldung meines »Radars«. Immerhin hatten sie mich, Jim Cunningham, zum Star unter den Lloyds–Ermittlern gemacht.
Um nicht als müßiger Nutznießer einer übersinnlichen Begabung – oder wie man meine mentalen Mitteilungen sonst nennen möchte – dazustehen, muss ich erwähnen, dass die Träume allein relativ wenig aussagten. Es kam auf ihre Interpretation an. Denn ich war kein Hellseher – leider! Mir fiel die Lösung meiner Fälle also keineswegs wie die sprichwörtliche reife Frucht in den Schoß, während ich schlief, wie das bei einer »echten« übersinnlichen Begabung der Fall gewesen wäre. Niemand flüsterte mir ein, pst, das gesuchte Tankschiff liegt drei Meilen vor dem Hafeneingang von Brixham in Cornwall oder dreißig Meilen westsüdwestlich von Martinique. Ich hatte Eingebungen von Namen und Orten, denen ich nachgehen musste. Ab und zu sah ich auch Gegenstände, die Symbole für die Lösung eines Falles waren oder sein konnten. Oder ich bekam an bestimmten »heißen« Orten Hitzegefühle an der Sohle meines linken Fußes. Das waren aber immer nur hints, wie es im Englischen heißt – Fingerzeige, Andeutungen, Winke. Es war meine Aufgabe, etwas aus ihnen zu machen. Und das war oftmals recht mühselig.
Ich will versuchen, das zu erklären. Nehmen wir an, ich träumte von einer alten Burg. Gut, ich sah also das Gemäuer; den Sinn des Traumbildes bekam ich aber nicht mitgeliefert. Den musste ich herausfinden. Manchmal gelang das, manchmal nicht.
Der Hint konnte beispielsweise bedeuten, dass es um ein Schiff ging, dessen Name mit »Castle«, »Burg« oder »Burgh« anfing oder aufhörte, und davon gab es unzählige, oder dass die Reederei das Wort in ihrem Namen führte oder in Newcastle beheimatet war beziehungsweise in Hamburg oder Cherbourg.
Das Gleiche galt für die Entsprechung von »Castle« in allen gängigen Sprachen – castillo, castello, castelo, château, fort, und so weiter. Es konnte auch »Fort« gemeint sein – oder der Berg, auf dem die Burg stand. Einfach war es nicht; auf jeden Fall machte er mehr Kopfzerbrechen als das Kreuzworträtsel der »Times«. Eigentlich war es ein Wunder, dass ich die Zeichen so oft richtig deutete. Ich verließ mich da ganz auf mein »Bauchgefühl« und fuhr gut damit.
Ich hatte mir das Bild der merkwürdig plumpen Schwanzflosse oder Fluke Dutzende Male vor Augen gerufen und nach einem Hinweis gesucht – vergeblich. Mir war nur aufgefallen, dass sie tropfnass gewesen war. Das war bei Flossen zwar nichts Ungewöhnliches, aber es hatte mich dennoch veranlasst, nach Port Elizabeth zu fliegen und den Hubschrauber zu chartern.
Wenn man aufs Meer hinauswollte, einen »Offshore«–Flug vorhatte, wie das im Branchenjargon hieß, musste der Helikopter über zwei Triebwerke verfügen. Wenn man 150 Seemeilen weit hinaus wollte und natürlich wieder zurück, war eine entsprechende Reichweite nötig. Also kam nur eine große Maschine infrage. Ich hatte einen nagelneuen Sikorsky S92 gechartert, einen fliegenden Bus mit einem gewaltigen Rotor, zwei mächtigen Gasturbinen von je 1877 Kilowatt Leistung und 19 Plätzen in einer sechs Meter langen Kabine. Mutterseelenallein saß ich nun in Reihe eins, dem leeren Platz der Flugbegleiterin gegenüber, deren Kopfhörer–Buchse ich benutzte.
Der dicke Brummer hatte eine Reisegeschwindigkeit von 150 Knoten und etwa 400 Meilen Reichweite plus Reserve. Und er war entsprechend teuer – 50 Dollar die Minute, was auf 3000 Dollar die Stunde hinauslief. Eine Stunde Anflug, eine Stunde Suchen, eine Stunde Rückflug, das machte 9000 Dollar. Gut, dass meine Auftraggeber keine Kenntnis davon hatten, wie wenig konkret meine Gründe waren, ihr Geld zu verpulvern.
Nur Laxmi wusste, dass ich meine Erfolge zum Teil Träumen, Eingebungen und überfallartig auftretenden Empfindungen verdankte. Laxmi, das war meine Lebensgefährtin. Als Inderin und Hindu hatte sie nicht nur Verständnis dafür, sondern sie hielt die Tipps aus dem Jenseits – oder wo immer sie herkamen – für normal. Auf jeden Fall für nicht besonders ungewöhnlich.
Der elefantenköpfige Gott Ganesha stecke dahinter, sagte sie. Ganesha sei der »great achiever«, der Gott, der dafür sorge, dass Wünsche wahr würden. Sie hatte mir barocke Geschichten aus der Wunderwelt der hinduistischen Mythologie erzählt, aber ich hatte immer noch keinen rechten Überblick über den Olymp der Hindus. Natürlich kannte ich mich neben Ganesha einigermaßen mit Brahma, Shiva und Vishnu, Hanuman und Krishna aus, aber ich musste immer wieder nachfragen. Das lag nicht nur daran, dass es Millionen Götter gab, sondern hatte damit zu tun, dass jeder Gott gern in anderer Gestalt und unter anderem Namen auftrat. Deshalb war man auch, wenn man die Götter–Schwemme ignorierte und sich sieben oder acht Himmelsbewohner aussuchte und diese verehrte, nicht gegen Überraschungen gefeit. Für jeden der verwandlungsfreudigen Unsterblichen gab es Listen verschiedener, sorgfältig durchnummerierter Inkarnationen.
Laxmis Götter waren mir sympathisch, und wenn ich etwas für Religion übrig gehabt hätte, wäre ich wohl Hindu geworden, vielleicht auch Buddhist oder Sikh. Keiner der drei musste sich nämlich lebenslang mit Katalogen zumeist kleinkarierter Verbote herumschlagen, was man als Christ, vor allem als Katholik, zu tun gezwungen war. Mindestens ebenso wichtig war, dass in diesen drei Konfessionen die ständige Beobachtung und Bevormundung durch herrschsüchtige Kleriker entfiel, die man als gläubiger Christ, Jude und Moslem nur erdulden musste.
Außerdem gab es im Hindu–Himmel keine hehren Lichtgestalten, sondern da tummelten sich – wenn man die Tiere oder Flüsse einmal außer acht lässt – Wesen mit menschlichen Emotionen und Gelüsten. Ganesha etwa hatte sich einmal so mit Kuchen vollgestopft, dass er geplatzt war. Er hatte sich zwar eine zufällig greifbare Kobra um den Bauch gebunden, um den Schaden in Grenzen zu halten; weil der Mond und die Sterne aber über sein Missgeschick lachten, geriet er in cholerische Wut. Er brach einen seiner Stoßzähne ab – andere Wurfgeschosse waren nicht zur Hand – und schleuderte das Elfenbeinstück nach dem Mond.
Laxmi war 29 Jahre alt, 1,74 m groß, in einem wunderbaren Maße gleichzeitig schlank und weiblich–durchtrainiert, scharfsinnig, manchmal sogar absolut brilliant, und schön. Sie hatte eine helle Haut mit einem delikaten hellbraunen Schimmer, eine scharf geschnittene Nase über einem großen, vollen Mund, Zähne wie aus der Colgate–Reklame, große blauschwarze Augen und hüftlange Haare der gleichen Farbe. Im Sari sah sie wie die Märchenprinzessin aus, die sie war; in Jeans war sie einfach atemberaubend.
Ihre Leidenschaft war ebenso unermesslich wie ihre Liebe, ihr Hass und ihr Freiheitsdurst. Sie war das Ergebnis jahrhundertelanger akribischer Stammbaum– und Dynastieplanung, denn sie war eine Prinzessin aus dem rajasthanischen Singhgeschlecht, einem uralten hinduistischen Königsclan. Dutzende von Maharajas hatten ihm angehört, absolute Herrscher und unerschrockene Heerführer. Sie hatten ihre Juwelen, Schlösser, Frauen und Konkubinen kaum noch zählen können, zum Zeitvertreib Tiger gejagt und waren in prächtigen Rüstungen auf geschmückten Kriegselefanten in Schlachten gezogen.
Ohne ihre Familie und deren tausendjährige Geschichte war Laxmi nicht zu verstehen. Als sie mir am Anfang unserer Beziehung immer mehr zum Rätsel wurde und wir von einer Krise in die nächste rutschten, hatte ich Tage damit verbracht, die wechselhafte Historie der Singhs zu studieren. Da ich selber mit »edler« Abkunft gestraft war, hatte ich hier die Wurzel des Übels vermutet. Ich hatte richtig getippt: Nachdem ich Monarchen mit endlosen Namen und Titeln, labyrinthartigen Palästen, ständigen blutigen Fehden mit Feinden aus Persien, Afghanistan und den unzähligen indischen Staaten »kennengelernt« und über ihre zahllosen Frauen und Kindern den Kopf geschüttelt hatte – ein Urgroßvater Laxmis nannte noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts 107 Frauen sein eigen! – verstand ich meine Schöne besser. Mir wurde vor allem klar, warum sie oft so extrem, so 125–prozentig war.
Jedem Leser seien ein paar Stunden Internetrecherche im Reich der Singhs ans Herz gelegt. Eine kurze Einführung in die Singhsippe, die hier unverzichtbar ist, soll einen Vorgeschmack auf das geben, was den Surfer erwartet.
Maharajas waren keine Operetten–Majestäten. Weil in Rajasthan lange Zeit Krieg so alltäglich war wie Trockenheit in der Wüste Thar im Nordosten des Landes, waren die meisten Großkönige jung gestorben, und mancher Thronfolger hatte schon als Kleinkind die königlichen Weihen erhalten, weil sein Vater – der nicht selten bereits mit sechzehn Jahren einen Harem und Söhne besaß – auf dem »Feld der Ehre« geblieben war. Diesen wirklichkeitsfernen Namen gab man damals zerwühlten, mit Blut getränkten und mit Leichen bedeckten Landstrichen.
Die Sippe hatte neben all den früh vollendeten Monarchen auch einen hochgelehrten König hervorgebracht, der mit dem gleichen Eifer mathematische Probleme löste, wie er im Schlachtengetümmel gegnerische Helme zertrümmerte – Jai Singh II. Der Maharaja des Rajputenstaates Amber (Rajasthan existierte noch lange nicht) und spätere Erbauer von Jaipur lebte von 1688 bis 1743. Mit elf wurde er Großkönig, mit zwölf heiratete er seiner erste Frau, und mit dreizehn gewann er seine erste große Schlacht.
Im Dienste des verhassten Mogul–Kaiser Aurangzeb, dessen Vasall er gezwungenermaßen war, glänzte Jai Singh II noch häufig als Heerführer. Nachdem er 1701 – mit dreizehn – die Festung Vishalgarh erobert hatte, verlieh ihm Aurangzeb den Ehrentitel »Sawai«.
Damit erklärte ihn der moslemische Monarch, der die indischen Hindus wegen ihrer Religion besteuerte, den anderen Großkönigen um ein Viertel überlegen. Er machte ihn per kaiserlichem Dekret quasi zum Mister 125 Prozent. Wenn Maharaja Sawai Jai Singh II – so durfte er sich nennen – in die Schlacht ritt, führte er seitdem zwei Standarten mit – eine große und eine kleine, die das zusätzliche Viertel repräsentierte. Seine Nachfahren taten es ihm nach, und die Maharajas von Jaipur führen den Titel noch heute.
Obwohl der Mogul Jai Singh mit Verwaltungsaufgaben eindeckte und immer wieder in den Kampf schickte, leistete er auch als Mathematiker, Astronom und Stadtplaner Erstaunliches. So errichtete er in Delhi, Jaipur, Benares und anderen indischen Städten revolutionäre Observatorien, deren Instrumente, die von ihm selbst ersonnen waren, heute kaum noch jemand verstand.
Das fand ich äußerst bedauerlich, denn der Mann gefiel mir außerordentlich. Ich war überzeugt, dass Jai Singh II als einer der bedeutendsten Pioniere der Astronomie gewürdigt werden sollte. Die monumentalen astronomischen Instrumente des feinsinnigen Maharajas – eine seiner ovalen Sonnenuhren war rund 27 Meter hoch und 50 Meter breit – waren in der Lage, die Stellung der Planeten exakt zu ermitteln, ihre Umlaufzeiten auf eine Sekunde genau zu bestimmen und Sonnen– oder Mondfinsternisse vorauszusagen.
Der royale Astronom ließ neben anderer spektakulärer Hardware einen Planetenatlas anfertigen – eine Metallscheibe mit mehr als zwei Metern Durchmesser. Die wenigen Experten, die Singhs Instrumentarium erforscht haben, hielten seine astronomischen Messungen und Berechnungen für erheblich genauer als die des Ptolemäus oder anderen Sterngucker–Koryphäen des Altertums, wie den türkischen Hofastronomen Ulugh Beg.
Leider hatten die Nachfolger Jai Singhs kein Verständnis für Parallaxen, Azimut und komplizierte Bahnberechnungen und hielten die Wissenschaft ihres Ahnen für ein verschrobenes Hobby. Sein Enkel funktionierte das Observatorium in Jaipur in eine Fabrik für Feuerwaffen um und missbrauchte den genialen Planetenatlas seines Großvaters als Zielscheibe.
Mindestens ebenso beeindruckend wie Jai Singhs astronomische Pionierarbeit war der Luxus, mit dem sich die rajasthanischen Könige umgaben. Das Gepränge war unvorstellbar. Im Vergleich mit ihnen waren wir britischen Edelleute mit ganz wenigen Ausnahmen arme Schlucker, grobschlächtige Barbaren und dumpfköpfige Analphabeten.
Da hatte mein Vorfahr, der schottische Hauptmann Robert de Conyngham, sicher keine Ausnahme gemacht. Zwar hatte der kaum gebildete Rauhbautz, der mit seiner Scots Guard in der Leibgarde der französische Könige Charles VII und Louis XI diente, sich 1470 das Château de Cherveux erbaut. Aber während er sich in Herbst und Winter in dem zugigen grauen Gemäuer den Arsch abfror – wie der in Schottland gebliebene Familienzweig auf dem kargen Castle Cunninghame das ganze Jahr über –, lebten die Singhs schon seit tausend Jahren in riesigen luxuriösen, prunkvollen und klimatisierten Schlössern.
Das waren Wohnstädte mit Toren, die dem Ansturm von Kampfelefanten standhielten, gewaltigen Mauern, baumbestandenen Innenhöfen, Ziergärten und Hunderten von Gemächern, Sälen und Säulenhallen, die vor Kunst und Kultur überquollen. Die Wände bestanden nicht aus groben grauen Quadern, sondern meist aus kostbaren Einlegearbeiten – Arabesken aus diversen Halbedelsteinen – in hochglanzpoliertem weißem Marmor. Es gab Spiegelsäle, an vier Ketten aufgehängte Schaukelbetten, mit einem einzigen Pinselhaar auf Elfenbein gemalte Miniaturen und Pergamentrollen in einer Schrift, die man nur mit dem Mikroskop lesen konnte. Jedes Schwert und jeder Morgenstern, den die Maharajas in die Hand genommen hatten, war reich ziseliert und mit Einlegearbeiten bedeckt gewesen, ein Kleinod der Schmiedekunst.
Obwohl die Singhs mit ganz anderen Temperaturextremen zu kämpfen hatten wie meine schottischen Vorväter, mussten sie nicht schwitzen. Je nach Witterung pendelten sie zwischen ihren durch meterdicke Mauern gekühlten Hauptpalästen und ihren Alternativen hin und her – einem Schloss mitten in einem See und einem Monsun–Palais auf einem von frischem Wind gefächelten Berggipfel. Ihr Besuch residierte in einem gesonderten Gäste–Palast, dessen Glanz und Gloria die meisten Hauptsitze europäischer Herrscherhäuser in den Schatten stellten.
Da traf es sich gut, dass ich mir aus meinem ererbten Titel ohnehin nichts machte und den »Lord Cunningham, neunter Earl of Troon« nach Möglichkeit unter den Tisch fallen ließ. So musste ich mich angesichts der kulturellen Überlegenheit von Laxmis Familie nicht allzu sehr schämen und konnte sie neidlos anerkennen. Weil ich mich ungern schämte, verschwieg ich auch meine amtlichen Vornahmen Reginald Lucius Timothy Plantagenet. Ich frage Sie, geneigter Leser: Gab es angesichts dieses widerlichen Bombasts für mich eine Alternative, als einen gedeihlichen Vornamen wie Jim anzunehmen? Mir fiel einfach kein Grund ein, warum ich darauf stolz sein sollte, zufällig in eine Familie hineingeboren worden zu sein, die irgendwann von einem Monarchen – höchstwahrscheinlich einem ungebildeten und großkotzigen Leuteschinder, Mordbrenner und Kriegstreiber – geadelt worden war.
Deshalb ging mir auch das Gerede von Noblesse und blauem Blut gewaltig auf den Geist. Ein Titel machte aus einem schottischen Ackergaul noch lange keinen arabischen Vollblüter. Die Cunninghams sahen so wenig edel aus, dass man jeden von uns in eine abgewetzte Busschaffneruniform stecken konnte, ohne dass sich auch nur ein Fahrgast gewundert hätte. Im Gegensatz dazu war Laxmi durch und durch Aristokratin. Sie wirkte auch in Jeans wie eine Königin, und sie kämpfte wie ein Krieger der derben alten Rajputen.
So war sie auch für ihre Freiheit mit dem Kopf durch die Wand gegangen. Sie hatte in London nicht, wie von ihrem Vater verlangt, Volkswirtschaft und internationales Management studiert, sondern Biochemie, Kriminalistik und klassische Musik. Als Instrument hatte sie sich ausgerechnet das Cembalo ausgesucht, das ihre Familie nur vom Hörensagen kannte!
Und genau wie ich strafte sie ihre amtlichen Namen mit Verachtung. Sie hieß, wenn man die Titel wegließ, Meenakshi Mirza Devraj Lalitya Kumari Singh. Dabei störte sie an ihrem Namen nicht nur der hochherrschaftliche Overkill. Sie hatte weitere Einwände: Jahrhunderte lang, sagte sie, habe das Haus Singh es für unnötig gehalten, in seinen veröffentlichten Familienchroniken die Namen der Töchter zu nennen – es waren ja nur Mädchen. Heirateten sie, wurden die Namen und Titel ihrer standesgemäßen Ehemänner in aller Ausführlichkeit genannt. Da verzichte sie gern.
Mit Laxmi hatte sie sich einen der häufigsten Namen ausgesucht, den arme Fischer und Bauern ihren Töchtern gaben. Sie hätte keine bessere Wahl treffen können; Laxmi war im Hinduismus die Göttin der Schönheit.
Mit der gleichen Konsequenz hatte meine Verlobte auch den für sie bestimmten blaublütigen Gatten zurückgewiesen – einen Sohn des Thakur of Isardar, wer immer das war.
Als die Singhs der aufmüpfigen Prinzessin den Geldhahn zudrehten, hatte Laxmi in London für ihren Lebensunterhalt gearbeitet. Sie hatte gekellnert und gemodelt, indische Ragas und Mantras mit Cembalo und Tabla statt mit der Sitar – oder mit Flöte, Tambura und Swarmandal – interpretiert und ein paar erfolgreiche CDs veröffentlicht. Und vor zwei Wochen ihren Doktor gemacht – in Biochemie. Es sah ganz so aus, als ob sie Jai Singh II nachschlug.
Wie Laxmi hatte auch ich mich gegen das Übermaß an staubiger Tradition aufgelehnt und darauf bestanden, mein eigenes Leben zu leben. Ich war von der Familie vor die Wahl gestellt worden, Diplomlandwirt zu werden und die Güter zu führen oder Jura zu studieren und in die Politik zu gehen. Weil ich beide Alternativen schauderhaft fand, war ich Berufssoldat geworden und hatte fünf Jahre in der Eliteeinheit Special Air Service gedient.
Nach einem Tauchunfall bei einer nächtlichen Kampfschwimmer–Übung in der Nordsee, der mich beinahe das Leben gekostet hatte, wechselte ich, obwohl genesen, auf Anraten der Militärpsychologen von der SAS zum Nachrichtendienst der Royal Navy. Ich machte den Job sieben Jahre lang und lernte viel, das ich als Ermittler gut gebrauchen konnte.
Es war nicht einfach, mit Laxmi zusammenzuleben, aber es würde mit ihr, das war klar, niemals langweilig werden. Man wusste nie, ob sie kämpfen oder sich hingeben wollte, und wenn man falsch lag, explodierte sie mitunter wie der Vulkan von Krakatoa. Ihr Sinn für Gerechtigkeit und ihre Abscheu vor jeder Unterdrückung und Knechtung von Frauen führten außerdem zu endlosen Diskussionen. Auch wenn ich ihr Recht gab und nur ein paar allzu extreme Ansichten von ihr zu relativieren suchte, fiel sie häufig über mich her, als sei ich verantwortlich für alles, was Männer auf dieser Welt angerichtet haben. Aber wir liebten uns – mehr, als wir uns derzeit sahen und berührten.
Es war gut, dass Laxmis Eigenheiten für mich »transparent« geworden waren, und dass ich erkannt hatte, dass das schwere Erbe der einundvierzig Singh–Maharajas, die ihre Dynastie seit 966 hervorgebracht hatte, sie ebenso prägte wie ihre Erziehung und ihre herbe Heimat; denn sie war mein großer Trumpf in dem ständigen Kräftemessen mit Hamish Hogg von Waters, Windermere und Winchester.
WW&W war meine gefährlichste Konkurrenz. Hogg war ihr dickster Trumpf, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Er war nicht nur mir allen Wassern gewaschen, sondern in groteskem Maße fett – wobei das Adjektiv fett entscheidend zu harmlos ist für seine monströse Masse.
Trotz seiner hinderlichen Fülle war Hogg ein unbequemer Gegner. Er war gerissen und konnte zudem über die Infrastruktur einer großen Sozietät verfügen, während ich nur Laxmi und mich hatte. Kaum einer in der Branche wusste, dass meine Agentur, die den stolzen Namen »Maritime Investigation Agency« (MIA) trug, nur aus zwei Mitarbeitern sowie der Telefondame Cheryl und dem Kater Admiral Nelson bestand. Die dralle Cheryl sorgte im Büro für Erreichbarkeit wenn Laxmi im Labor forschte und ich – oder wir beide – verreist waren.
Ich glaube nicht, dass Lloyds, für die ich als »fester freier« Ermittler arbeitete, die dünne Personaldecke von MIA gefallen hätte. Versicherungen haben immer Bedenken, denn davon leben sie. Aber mehr als an allem anderen war man an Resultaten interessiert. Wer diese lieferte, bekam die ausgelobte Erfolgsprämie gezahlt, seine Spesen erstattet, ein paar anerkennende Klapse auf den Rücken und den nächsten Auftrag.
Ob man seinen Job alleine oder mit fünfzig Hilfskräften erledigte kümmerte Lloyds einen feuchten Kehricht.
Wie gesagt: Hogg war ein unerquicklicher Konkurrent. Um ein Haar hätte er mir ein paar Erfolge direkt vor der Nase weggeschnappt. Wenn Laxmi nicht gewesen wäre, hätte er nicht nur das Schicksal der drei spanischen Fischdampfer geklärt, die ein russisches Atom–U–Boot in ihren Netzen »gefangen« hatten und von ihm im Skaggerak unter Wasser gezogen worden waren, sondern auch das Schicksal des westlich von Sri Lanka von Piraten gekaperten und in Nigeria verkauften voll beladenen Öltankers und zwei oder drei andere Sachen.
Beim Aufspüren der in Dubai von der Russenmafia gestohlenen und im Hafen der südrussischen Stadt Taganrog am Asowschen Meer versteckten Luxusjacht eines milliardenschweren Emirs hatte ich ihn gerade mal um eine knappe Viertelstunde geschlagen. Und das auch nur, weil er Pech gehabt hatte: Sein Taxifahrer hatte ihn wegen seines gewaltigen Körperumfangs für einen amerikanischen Touristen gehalten und ihn in der Hoffnung auf ein dickes Trinkgeld eigenmächtig zuerst zum Geburtshaus von Anton Tschechow gefahren statt auf dem schnellsten Weg zu der Werfthalle, wo das 40– Millionen–Dollar–Spielzeug gerade umgemalt wurde.
Wie Hogg es anstellte, wusste ich nicht. Er war eigentlich viel zu dick für seinen Beruf, aber er hatte die Nase, auf die es ankam. Wenn er keine übersinnlichen Begabungen besaß wie ich, war er verdammt gut.
Als Gegner achtete ich Hogg, obwohl er mir Schwierigkeiten machte; denn das geboten mir Fair Play und Ritterlichkeit – eine altmodische Familientradition, der ich mich verpflichtet fühlte. Als Mensch fand ich den Kollegen jedoch überaus widerwärtig.
Ich vermeide es prinzipiell, Mitbewerber anzuschwärzen, weil das billig und stillos ist. Bei Hogg war diese Zurückhaltung aber unnötig. Es genügte völlig, ihn einfach nur zu beschreiben.
Der Mann von WW&W war mit seinen rund vier Zentnern nicht nur so stark überfüttert, dass man befürchten musste, sein Organismus könne der Belastung nicht länger standhalten und bersten; er platzte auch vor Arroganz. Er beschämte, was Eitelkeit anging, jeden rajasthanischen Pfau.
Ein kurzer Blick in sein Gesicht genügte, und ich geriet in Gefahr, kurzzeitig all den Benimm zu vergessen, den man mir zu Hause, in Eton und in Cambridge eingebimst hatte. Er war einfach unerträglich! Hoggs feiste Oberlider, Turbo–Mastschwein–rosa gefärbt wie alles an ihm, hingen dank ihrer Schwere so weit herunter, dass sie das obere Drittel seiner Iris verdeckten. In Verbindung mit der geckenhaften Brille, die winzige quadratische Gläser hatte und in seinem breitflächigen Gesicht wirkte wie ein Stückchen verirrten silbernen Weihnachtsflitters auf dem Festtagstruthahn, verlieh ihm das einen dünkelhaften und selbstherrlichen Ausdruck. Seine Umwelt, so hatte es den Anschein, langweilte ihn zu Tode.
Doch bei aller scheinbaren Schläfrigkeit lauerte er immer auf Informationen. Er war wie ein Krokodil, das in den trüben Fluten eines afrikanischen Flusses auf Beute wartete.
Das eitle Ekel und das Krokodil waren aber nur zwei von Hoggs Inkarnationen – angesichts seiner Fleischmassen machte das Wort wirklich Sinn! Wenn es ihm angezeigt erschien, verfiel er aus seinem pseudo-aristokratischen Überlegenheitsgetue und seiner alligatorenhaften Schläfrigkeit in eine kaum weniger unangenehme schmierige Art. Er gab sich kumpelhaft, zeigte grienend seine großen, in auffälliger Weise vereinzelt stehenden Zähne, überschlug sich vor Servilität, redete seinem Gegenüber nach dem Mund und rieb dabei seine schwitzigen Hände wie ein levantinischer Gewürzhändler.
Ich fiel auf die Komödie schon lange nicht mehr herein. Ich wusste, dass er eine Hyäne war – sicher die einzige fette, die es in der freien Wildbahn gab.
Au! Ich zuckte zusammen. Meine linke Fußsohle war plötzlich höllisch heiß geworden. Es war, als befände sich ein glühendes Bügeleisen in meinem Schuh. Ich krümmte mich in den Sitzgurten zusammen, um meinen Fuß zu packen und den Schuh herunterzureißen. Es war eine törichte Reaktion, denn da brannte ja nicht wirklich etwas. Es handelte sich um eine irrlichternde Empfindung, die rasch verging; aber der Reflex war unausrottbar. Und so war es auch dieses Mal: Kaum hatte ich den Fuß gepackt, hörte das Brennen auf.
Es dauerte ein paar Momente, bis ich in die Realität zurückgefunden hatte. Im Dienst soll man eben nicht träumen. Ich drückte den Sprechknopf an meinem Mikrofon und gab den Piloten durch: »Bitte sofort einen GPS–Fix machen!« »Schon passiert, Sir!« kam die Antwort aus dem Cockpit. »Wunderbar«, sagte ich, »bitte drehen Sie um – wir fliegen zurück.«
Der Pilot schwieg ein paar Sekunden verblüfft, dann fragte er zurück, höfliche Zweifel in der Stimme: »Haben Sie etwas auf dem Meer entdecken können, Mr. Cunningham? Wir haben aus dem Cockpit keinerlei Treibgut beobachtet, obwohl wir wie Schießhunde aufgepasst haben. Radar und Wärmebildkamera sind auch negativ.« Als Antwort brummte ich nur. Es sollte bejahend oder dankbar klingen. Ich hatte zwar ebenfalls nichts gesehen; aber was sollte ich den beiden Fliegern erzählen?
Endlich hatte ich ein Zeichen! Mein eingebautes Ortungssystem hatte angesprochen, die Botschaft des Meeres war angekommen! Da unten musste etwas sein! Dort in der Tiefe! Ich schaute wieder aus dem Fenster: Majestätisch und unbeirrbar zogen die Wellen unter mir nach Backbord. Sie sahen aus wie ein gewaltiges Heer grauer Tierrücken, das in perfekter Disziplin und voll unerschütterlichen Sendungsbewusstseins in eine Schlacht marschierte und sich von nichts aufhalten lassen würde.
Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, und die See hatte ein dumpfes Elefantengrau angenommen. Die meisten Wellenkämme trugen jetzt Schaumkronen. Es war faszinierend, zu beobachten, wie die »weißen Pferde« entstanden, wie unterschiedlich lang und breit sie waren, wie einige minutenlang auf ihren Wogen surften, andere nach Sekunden vergingen, abgestreift wurden oder sich mit ihrem Wellenkamm überschlugen.
Außer unendlich viel Wasser war nichts zu sehen. Aber da unten musste etwas sein! Ich musste wiederkommen – mit einem Schiff. Das würde Lloyd’s wieder einiges kosten – oder mich. Denn wenn Hogg schneller war, blieb ich auf allen Kosten sitzen. Und umgekehrt.
Das konnte teuer werden – besonders, wenn man das Geld mit vollen Händen ausgab wie ich, und wenn man einer Expedition ohne konkretes Ziel gleich die nächste folgen ließ. Ich machte mir keine Illusionen, dass das, was ich vorhatte, mein zweiter Schuss ins Blaue war. Denn was ich suchte, stellvertretend für die »Palermo Express«, wusste ich immer noch nicht. Aber ich war zuversichtlich, dass die Fährte, auf die mich mein siebter Sinn gesetzt hatte, zu etwas führte, das mir das Schicksal des Containerriesen klären half.