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Intellektuelle Voraussetzungen

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Seit etwa dreißig Jahren gibt es in den großen und mittleren Opernhäusern sogenannte »Übertitel«-Anlagen. Darunter versteht man das in die Landessprache übersetzte Libretto, das dem Ablauf der Vorstellung folgt und in meist mehreren Zeilen auf einer Projektionsfläche über dem Bühnenportal eingeblendet wird.9 Diese Vorrichtung, die heute eine Selbstverständlichkeit ist, wurde notwendig, da immer mehr Opernhäuser dazu übergingen, die Opern in ihrer jeweiligen Originalsprache aufzuführen. Es erklingt also DIE HOCHZEIT DES FIGARO bzw. FIGAROS HOCHZEIT in italienischer Sprache als LE NOZZE DI FIGARO. Selbst außerordentlich schwierige Sprachen wie das Tschechische werden heute gesungen, wenn es sich um Opern wie Dvořaks RUSALKA oder um die Werke von Leoš Janáček handelt. Die Oper ist eine internationale Kunstgattung.

Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in der Vielfalt der Sprachen, die heute im Opernbetrieb gesprochen und gesungen werden. Italienisch, Französisch, Russisch und Englisch sind neben dem Deutschen die wichtigsten Sprachen, derer die Oper sich bedient. Das Tschechische tritt hauptsächlich bei Opern von Smetana, Dvořak und Janáček hinzu, im Randgebiet des spanischen Singspiels, der »Zarzuela«, kommt auch die spanische Sprache zur Erscheinung. Im Musicalbereich dominiert die englische Sprache.

Dieses Szenario bedeutet für einen Opernsänger eine immense Herausforderung. Auch wenn er die genannten Sprachen nicht fließend sprechen kann, so muss er doch in der Lage sein, sie sich für eine jeweilige Rolle anzueignen. Es genügt aber nicht, eine Partie nur phonetisch zu lernen. Man muss die Bedeutung der Worte, der Sätze genau kennen und ein Gefühl für das jeweilige Wesen der fremden Sprache entwickeln. Manche Menschen verfügen über eine ausgesprochene Sprachenbegabung, sie können sich den Weg zu fremden Sprachen ohne allzu große Mühen ebnen, sie verwenden das jeweilige Idiom rasch und mit natürlicher Leichtigkeit. Andere hingegen haben damit allergrößte Probleme.

Ich kenne den Fall eines deutschen, von mir hochverehrten, weltberühmten Sängers, der für eine wichtige Premiere in der Oper BORIS GODUNOW eine Partie übernehmen sollte. Viele Monate vor den Proben schon begann er das Studium. Er mühte sich mit der russischen Sprache über alle Maßen, war ganz verzweifelt, weil es ihm einfach nicht gelang, in diese Sprache einzudringen und über das Stadium der phonetischen Wiedergabe des Textes hinauszukommen. Es prägte sich ihm nichts ein, er fand keine hilfreichen assoziativen Anhaltspunkte, er fühlte sich ständig ohne Boden, weil er nur dem Gedächtnis nach die fremden Silben aneinanderreihte. Zwar hatte er die wörtliche Übersetzung natürlich studiert, aber in seinem Kopf bildete sich keine Bedeutungsstruktur und es stellte sich keine wirkliche Verbindung zwischen den phonetischen Silben und seinem Ausdruckswillen ein. Er wollte die Partie schließlich zurückgeben. Nur mit großer Überredungskunst und um die Premiere zu retten, ließ er sich darauf ein, die Partie dann doch zu singen. Er litt tausend Tode während der Vorstellungen. Nach der Premierenserie hat er diese Rolle, obwohl er sie großartig gesungen und dargestellt hatte, nie mehr angenommen. Das war vor vielen, vielen Jahren.

Heute ist es für den Sängerberuf von großer Wichtigkeit, mit fremden Sprachen geschmeidig, selbstverständlich und wirkungsvoll umzugehen. Nicht ist es notwendig, diese Sprachen perfekt zu beherrschen. Verständigen sollte man sich in ihnen können und vor allem ihre verschiedenen Klänge und Farben aufnehmen und umsetzen können. Mehrsprachigkeit ist im heutigen Europa für alle jungen Menschen, nicht nur für angehende Opernsänger, eine zwingende Voraussetzung für einen anspruchsvollen Berufsweg geworden.

Über einen leichten Umgang mit Fremdsprachen hinaus benötigt man für den Beruf des Opernsängers ganz allgemein eine rasche intellektuelle Auffassungsgabe. Denn ständig wechseln die Themen und Stoffe, in denen man sich bewegt, die man sich aneignen und lernen muss. Ständig stellen wechselnde, zum Teil extrem kontrastierende szenische Situationen den Sänger vor unerwartete Herausforderungen. Diese gilt es nicht nur sängerisch oder darstellungsmäßig zu bewältigen, man muss sie zuvörderst geistig rasch aufnehmen und verarbeiten können, um sie daraufhin auch wirkungsvoll und überzeugend umsetzen zu können. Das sogenannte »Regietheater«, das vor allem dem deutschen Opernbetrieb in den letzten Jahrzehnten, zugegeben bei nachlassender Intensität und schwindendem Anspruch, enorme geistige Impulse geschenkt hatte, stellt zumal solche Herausforderungen. Diese liegen hauptsächlich in einer Umsetzung von Denkfiguren, die Interpretationsschichten unterhalb der Oberfläche eines Librettos zum Vorschein bringen wollen. Da gilt es, als ausführender Künstler sich frei zu machen von herkömmlichen, gewohnten Vorstellungsmustern und sich einlassen zu können auf – meist nur auf den ersten Blick – ungewohnte Konfigurationen vertrauter Interpretationsverfahren. Dies setzt neben der Fähigkeit, sich von gewohnten und oft ausgetretenen Denk- und Vorstellungspfaden lösen zu können, auch voraus, verständig sich mit neuen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Verständig bedeutet, den Sinn rasch zu verstehen, der hinter ihnen liegt – oft scheint er nur dem ersten Blick verborgen. Man hat dem Regietheater, neben anderem, häufig vorgeworfen, zu intellektuell oder zu »kopfig« zu sein. Das darf man nicht verallgemeinern. Aber in der Tat setzt das Regietheater bei der Umsetzung von Stoffen ein Denken ein und voraus, das hoch assoziativ, zum Teil symbolisch oder chiffrenhaft, die vorgegebenen Operninhalte in andere, neue und zuweilen verblüffend überzeugende Zusammenhänge stellt, und seien es nur ungewohnte ästhetische. Anders als der Zuschauer muss der Opernsänger diese Denksichten sich zu eigen machen, muss sie durchdringen und verstehen, um sie durch seine Person auf der Bühne überzeugend darstellen zu können. Dazu gehört eine nicht gering zu achtende Intelligenz.

Sich auf wechselnde, nicht vorhersehbare Herausforderungen neuer musikalischer und stofflicher Materie rasch einlassen zu können, sich einzustellen auf Ungewohntes im beruflichen Metier, dazu bedarf es eines raschen geistigen Reaktionsvermögens. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit zeitgenössischer, neuer Musik und Kunst. Deren Strukturen und inhaltliche Dimensionen zu begreifen, ist nicht eine Angelegenheit der musikalischen Einstudierung allein, sondern auch eine Frage der Fähigkeit, sich intellektuell mit diesen Stoffen auseinandersetzen zu können. Nur durch eine Erkenntnis auch der inneren Strukturen von Musiktheater kann man als Opernsänger glaubwürdige und überzeugende Umsetzungen zustande bringen. Dies setzt die Fähigkeit zur künstlerischen Identifikation mit der Vorlage in dem Sinne voraus, dass über das reine Einstudieren hinaus eine geistige Durchdringung des Stoffes, ob mit oder ohne Anleitung, stattgefunden hat. Neben einer musikalischen fordert die Gattung auch eine rationale Intelligenz. Das gilt übrigens nicht nur für zeitgenössische Kunst. Auch eine Oper wie COSÌ FAN TUTTE z. B. kann man heute als Opernsänger nur dann wirklich künstlerisch durchdrungen zur Aufführung bringen, wenn man die tragische Abgründigkeit des Stoffes begreift und sie nicht nur als ein komisches, oberflächliches Rokokogetändel auffasst. Dazu muss man sich aber in den Stoff und die Rahmenbedingungen seiner Entstehung einarbeiten und wissen, dass diese Oper in ihrer Entstehungszeit das Modernste war, was Europa an musiktheatralischer Kunst im Sinne einer Avantgarde zu bieten hatte. Dass auch heute noch diese Oper von einer ungebrochenen Modernität ist, liegt darin, dass fast »unopernhaft« die Illusion »Liebe« junger Menschen auf beschämende und brutale Weise zerstört wird. Dies übernehmen heute andere gesellschaftliche Mechanismen als der durch seine »Aufklärung« blind und töricht gewordene Don Alfonso in der Oper.

Oper, wie Kunst im Allgemeinen, lebt in der Gegenwart und reflektiert diese an historischen Konfigurationen. Man kann in der künstlerischen Opernarbeit nur zu überzeugenden Leistungen kommen, wenn man wach in der Welt lebt, wenn man seine künstlerische Arbeit mit Interesse an den Vorgängen in der Welt dazu in Bezug setzt, sie immer »erdet« hinsichtlich ihrer Bedeutung in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Die Stoffe, die in der Oper abgehandelt werden, umfassen ein schmales Spektrum. Es sind die großen Themen und Fragen, die uns Menschen in unserem Leben begleiten: Liebe, Macht und Tod und alles, was sich an komplementären Gefühlsspektren und an gesellschaftlichen Bezügen darum rankt. Nur mit Wachheit in der Wahrnehmung und mit dem Mut, sich immer wieder den letzten Fragen zu stellen und sie mit der eigenen Arbeit an den Rollen und Stoffen in einer lebendigen Beziehung zu halten, wird sich eine überzeugende Sängerpersönlichkeit entwickeln können. Oper verführt durch die Musik manchmal ein wenig dazu, in der Darstellung das Gefühlsmäßige zu betonen. Die eigenen intellektuellen Fähigkeiten, die zur Durchdringung seiner inhaltlichen Vorlagen einzusetzen wären, sollte der Opernsänger daher nicht schonen.

Traumberuf Opernsänger

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