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Das Berufsbild
ОглавлениеFür viele Menschen stellt der Beruf des Opernsängers einen Traumberuf dar. Auf der Bühne, im Rampenlicht zu stehen, mit Gesang die Emotionen der Menschen zu wecken, mit den größten Kunstwerken interpretatorisch umzugehen – all diese Verheißungen können den Beruf äußerst attraktiv erscheinen lassen. Dazu kommt Hoffnung auf Berühmtheit und gesellschaftliches Ansehen sowie wirtschaftlichen Wohlstand. Gerade weil dieser Beruf im Allgemeinen nur von seiner glänzenden Seite aus wahrgenommen werden kann, ist es so wichtig, sich von ihm ein realistisches Bild zu machen. Es liegt nahezu im Wesen des Berufs, nur das fertige und glänzende Produkt, nämlich die Opernaufführung, preiszugeben und alles, was sich »hinter den Kulissen« abspielt, auszublenden.
Der Beruf des Opernsängers ist ein Spezialberuf, der von vergleichsweise sehr wenigen Menschen ausgeübt wird. In festem Vertragsverhältnis mit deutschen Bühnen standen z. B. im Jahr 2008 weniger als 3000 Opernsängerinnen und Opernsänger.1 Das ist eine im Vergleich zu anderen Berufszweigen fast verschwindend kleine Gruppe. Zwar sind zu ihnen noch die als »Gäste« bzw. nicht fest engagierten Sänger hinzuzuzählen, aber dennoch bleibt der prozentuale Anteil der Berufsgruppe »Opernsänger« am gesamten Arbeitsmarkt marginal.
Der Beruf ist geprägt durch die Notwendigkeit einer außergewöhnlich hohen Individualisierung der Menschen, die ihn ausüben. Er definiert sich nahezu durch die Individualität der künstlerischen Profilierung des Opernsängers. Wie den des Schauspielers und Tänzers zählt man ihn zu den darstellenden künstlerischen Berufen. Der Opernsänger nimmt in diesem Zusammenhang insofern eine besondere Stellung ein, als ihn vom Schauspieler, der ja auch eine Rolle auf der Bühne spielt, etwas unterscheidet, nämlich dass er seine Rolle singen muss. Der Schauspieler hingegen, auch wenn er höchsten künstlerischen Ansprüchen genügen muss, verbleibt in seiner »natürlichen« Ausdruckswelt der Sprache und des Sprechens, also dort, worein der Mensch auch geboren ist. Denn als ein »Singender« kommt er nicht auf die Welt, das Singen stellt innerhalb der Entwicklung eines Menschen eine wesentlich spätere und eindeutig »künstlichere« Form der Kommunikation dar. Beim Opernsänger kommt also noch zum künstlerischen Spektrum der Darstellung die Voraussetzung einer organischen Disponiertheit seiner Singstimme hinzu.
Anders als in manchen anderen Berufen steht der Opernsänger in der Situation, während Proben und Aufführungen jeweils Höchstleistungen bieten zu müssen. Das sängerische und darstellerische Niveau, das von ihm erwartet wird, muss abrufbar erbracht, besser noch, gesteigert werden können. Ist, aus welchen Gründen auch immer, diese Fähigkeit in Wiederholungsfällen geschwächt oder nicht möglich, stellt dies eine konkrete Gefährdung für die Berufsausübung des Sängers dar. So steht ein Opernsänger in einem andauernden Wettbewerb: einmal hinsichtlich anderer Kollegen, dann aber auch gegen sich selbst, da er ja sein künstlerisches Niveau gleichmäßig halten bzw. dieses gerade in jungen Jahren sogar steigern muss.
Die Arbeitsrhythmik des Opernsängers bringt es mit sich, dass sich der Beruf unter Umständen als eine Belastung für das Privat- oder Familienleben erweisen kann. Er kennt keine Feiertage, Wochenenden oder regelmäßig freien Abende. Immer dann, wenn sich die anderen Menschen aus ihrer Arbeitswelt zurückziehen, sich der Familie, der Erholung oder ihren privaten Interessen widmen, steht für den Opernsänger Vorstellungsdienst an. Denn der Oper widmen kann sich der Besucher allemal nur in seiner Privat- oder Freizeit.
Für viele Sänger bringt der Beruf auch eine rege Reisetätigkeit mit sich. Konzerte, Gastspiele, Vorsingen bei Agenturen oder Opernhäusern und gegebenenfalls Tourneen erfordern die Bereitschaft zur Mobilität, die entsprechende Akzeptanz und Unterstützung von Familie und Lebenspartnern hinsichtlich der unabhängigen Gestaltung des persönlichen Lebensrhythmus.
Der Beruf des Opernsängers ist heute von Internationalität geprägt. Schon zu Beginn ihres Entstehens war die Oper als Kunstgattung international. In Italien um etwa 1600 geboren, eroberte sie in kurzer Zeit fast alle Länder des damaligen Zentraleuropas, die dann auch der Oper jeweils eigene stilistische Impulse vermittelten. In den letzten 150 Jahren wurden fast auf der ganzen Welt Opernhäuser gebaut. Hatte man früher Opernaufführungen jeweils in die eigene Landessprache übersetzt – Verdi forderte das sogar, weil es dem besseren Verständnis der Werke diente –, so ist man in den letzten Jahrzehnten immer mehr dazu übergegangen, die Opern in ihrer Originalsprache aufzuführen. Durch die technische Erfindung sogenannter »Übertitel« erscheint dann eine jeweilige landessprachliche Übersetzung für alle Zuschauer sichtbar über oder neben dem Portalbereich der Bühne oder auf einem Display, eingebaut in die Rückenlehne des Vordersitzes. Man hört also heute in Tokyo und New York die Opern Verdis in italienischer, die Wagners in deutscher und die Opern Janáčeks in tschechischer Sprache mit Übertiteln. Ein anderer Aspekt der Internationalität des Berufs ist die Tatsache, dass oftmals Sänger verschiedenster nationaler Herkunft gemeinsam engagiert werden, um Opernwerke zur Aufführung bringen. Die Vorstellung einer italienischen Oper in Berlin mit einem amerikanischen Tenor, einer spanischen Sopranistin, einer lettischen Mezzosopranistin und einem koreanischen Bass, dirigiert von einem französischen Dirigenten ist durchaus nicht undenkbar. Die Möglichkeiten der technischen Reproduktion und der internationalen Verbreitung machen überdies mit Live-Übertragungen und Live-Mitschnitten jedem Interessierten Aufführungen aus der ganzen Welt zugänglich und finden ein begeistertes Publikum.
Der Opernsänger kann sich nicht auf seinen Leistungen ausruhen. Ein einmal beruflich-handwerklich erworbenes Können muss stets – wie im Sport – durch Training, Coaching und Kontrolle in Form gehalten werden und abrufbar bleiben. In der künstlerischen Durchdringung der Rollen – in der Oper heißen sie »Partien« – wird ein ernsthafter Sänger nie an einen Punkt kommen, an dem er nun »genau weiß, wie es geht«. Stets wird er in der Opernpraxis neuen ästhetischen oder sängerisch-musikalischen Impulsen ausgesetzt sein, die ihn in der Vertiefung seiner Interpretationen vor neue Aufgaben stellen. Diese Herausforderungen anzunehmen ist eine Grundbedingung für eine gelingende Sängerlaufbahn.
Die Oper wird als eine zusammengesetzte Kunstform bezeichnet. Denn in ihr werden Musik, Sprache, Bild und Bewegung zu einer künstlerischen Einheit gebracht. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Berufen wider, die an einem Opernhaus zusammenarbeiten. Man kennt die künstlerischen und nicht-künstlerischen Zweige, die darstellenden und nicht-darstellenden künstlerischen Berufe. Oft trifft man auf künstlerische Spezialberufe, wie zum Beispiel den des Inspizienten, der die Hauptverantwortung für die Koordination einer Bühnenvorstellung trägt und für den es nicht überall einen vorgegebenen Ausbildungsweg gibt. Die verschiedenen Berufsfelder treffen auf der Bühne auf engstem Raum zusammen und müssen einen hohen Integrationsgrad untereinander aufweisen. Der Bühnenhandwerker wirkt während der Vorstellung direkt mit dem Opernstar zusammen, technische Vorgänge tragen und begleiten künstlerische Abläufe. Ein dichtes Aufeinandertreffen von unterschiedlichsten Wirkungssphären macht eine konfliktfreie Kooperation am Theater unentbehrlich. Menschen verschiedenster sozialer Herkunft wirken bei der Vorstellung Hand in Hand zusammen. Es ist kein Geheimnis, dass manchmal die Abendgage eines Protagonisten auf der Bühne dem Jahreslohn eines Bühnenarbeiters entspricht. Dennoch funktioniert dieses »Wunder« Oper. Es motiviert die Menschen, die an diesem »Gesamtkunstwerk« arbeiten, es schafft kreative Räume und es stellt eine permanente Herausforderung für den Einzelnen und für die Kollektive dar – seien sie künstlerisch oder auf technischem Gebiet tätig. Das Berufsethos an Theatern ist im Vergleich zu anderen Berufsfeldern überdurchschnittlich ausgebildet.
Opernsänger zu sein, wird im gesellschaftlichen Ansehen honoriert, denn das Berufsbild wird meinungsmäßig mit hoher Leistungsbereitschaft und überdurchschnittlichem Talent in Verbindung gebracht. Der Beruf kann also bei entsprechender Begabung tatsächlich als ein Traumberuf bezeichnet werden, denn er bietet ein Tätigkeitsfeld, das eine Art von Verwirklichung eigener Persönlichkeitslinien zulässt, in einem höchst anspruchsvollen künstlerischen Rahmen steht und zudem eine unbestritten wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllt.