Читать книгу Cat's Rest - Gerda M. Neumann - Страница 10

Kapitel 5

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Olivia schaffte es, nach der Besprechung mit Wangari am nächsten Morgen bis weit in den Nachmittag hinein konzentriert an ihrem Schreibtisch zu arbeiten. Die Nachmittagssonne erhitzte ihre Terrasse, sie hatte vergessen, den Sonnenschirm aufzuspannen. So blieb sie am Küchentisch sitzen, trank Kaffee zu einem Käsebrot und knabberte eine paar frische junge Möhren, während sie ihre Liste für die neuen Wollsachen aufstellte. Die Knäule lagen auf einem Tablett vor ihr und sie freute sich an den Farben.

Farben waren etwas Wunderbares, daran hielt sie unausgesprochen fest, während sie später Helen Campbell in dem stillen Cat’s Rest gegenüberstand. Das künstliche Licht, das den Laden erhellte, während draußen Sommersonne alles zum Leuchten brachte, störte Olivia zum ersten Mal. Sie fand die enge, düstere Gasse heute beklemmend. Aber es gab hinten diesen verwunschenen Garten, in den Helen zurückkehren konnte, sobald sie hier fertig waren. Das war gut.

Olivia sah ihr zu, wie sie schweigend hin und her ging, tat was zu tun war, ohne einen eigenen Vorschlag, eine Rückfrage, eine hingeworfene Bemerkung; die Miene völlig unbeweglich. »Gibt es Neuigkeiten? Wir haben uns eine ganze Woche lang nicht gesehen«, versuchte sie, die Wortlosigkeit zu durchbrechen.

Helen sah auf. »Ein Mr Mulligan war hier«, rang sie sich schließlich als Mitteilung ab. »Warum weiß ich nicht, er brachte nichts Neues.«

»Mein Freund Richard Bates ist in Urlaub, vielleicht wollte sein Kollege sich vorstellen, damit Sie wissen, mit wem Sie sprechen können.«

»Glauben Sie das?«

»Warum nicht?«

»Weil die Polizei jetzt in der Urlaubszeit noch weniger Personal zur Verfügung hat als ohnehin. Warum sollten sie sich mit Höflichkeiten abgeben?«

»Gab es denn gar nichts Neues? Dann verstehe ich Ihre Verwunderung«, räumte Olivia ein.

»Nein, es gab nichts Neues von ihrer Seite. Leider auch von meiner nicht, darauf hatten sie seltsamerweise gehofft. Sie haben meinen Tagesablauf vom letzten Dienstag noch einmal abgefragt, ich nehme an, inzwischen wissen sie ihn auswendig. Es wird ihnen nicht helfen, auch wenn sie scheinbar gerade das annehmen. Lassen wir es dabei bewenden, es ist unendlich ermüdend und völlig nutzlos, über das alles nachzudenken. – Ich muss Ihnen wieder Wolle bestellen, aber vieles können Sie heute mitnehmen. Und für diese drei Pullover rufe ich meine Damen an, von einer weiß ich, dass sie trotz der Wärme gerne wieder eine Beschäftigung hätte. Ich schreibe jetzt alles zusammen.«

Olivia sah ihr dabei zu und begann zu grübeln. Sie kannte Helen Campbell als lebendigen Menschen, der sich gern unterhielt. Sie hätte erwartet, dass Helen über den einen oder anderen Gedanken, den der Tod ihrer Schwester ihr aufzwang, reden würde… Nun, vielleicht hatte sie das ja bereits mit Marilyn Fleming gemacht.

Marilyn Fleming. Als Olivia mit den großen Beuteln voller Wolle auf der Straße stand, wandte sie sich nachdenklich den alten Gassen von Chelsea zu und dem kleinen dreieckigen Platz. Doch noch bevor sie die King’s Road erreicht hatte, stellte sie die Beutel ab, zog ihr Handy aus der Tasche und rief den Yard an. Chief Inspector Mulligan ließ sich ein wenig bitten, doch schließlich bekam sie Marilyns Telefonnummer. Marilyn selbst ließ sich nicht bitten, bereitwillig gab sie Olivia ihre Adresse. Es klang, als sei sie sehr einverstanden mit einem Gespräch. Olivia lobte sich für ihre Entschlossenheit, als sie die Beutel wieder aufnahm. Es waren nur wenige hundert Meter zu gehen.

Marilyn wohnte in der Souterrain-Wohnung eines großen Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert, in einem von mehreren gleichaussehenden Häusern, die sich bis zur nächsten Kreuzung die Straße hinunterzogen. Am Fuß der Treppe standen Tontöpfe in vielen Größen und Formen, die überquollen von Pflanzen; aus dem größten wand sich eine Kletterpflanze am Innengeländer entlang zur Straße. Als Olivia langsam und erfreut über diese grüne Pracht die Stufen hinunterkam, stellte Marilyn den Gartenschlauch ab und bat Olivia hinein. Man könnte auch sagen, sie drängelte sie förmlich von der Straße. Kaum war die Tür geschlossen, sprudelte sie schon heraus: »Nicht wahr, Sie machen sich auch Sorgen um Helen? Die Nachricht, dass diese greuliche tote Katze einem alten Kerl zwei Straßenecken weiter gehört hat, hat Helen richtig erschreckt. Der braucht zwar keine Wolle, also hat sie mit ihm einfach nichts zu tun, sollte man denken. Aber er ist als äußerst unberechenbar in der Nachbarschaft verrufen und Helen hat jetzt regelrecht Angst vor ihm. Das haben Sie auch bemerkt, nicht wahr?«

»Was kann dieser Nachbar denn tun, wovor man Angst haben müsste?«

»Ja sehen Sie, das habe ich auch gesagt. Helen hat sich nicht genauer geäußert, sie meinte nur, sie habe einfach Angst. Und das kann man ja wieder verstehen nach dem, was mit Edith passiert ist, nicht wahr?«

Jetzt zeigte Olivia etwas mehr Verständnis: »Ja, das kann man. Aber glaubt Helen denn, dieser Mann sei derjenige, der Edith das Zyankali gegeben habe?« Sie dachte an Harriets hingeworfene Bemerkung, dass Männern Gift eher nicht einfalle.

»Helen meint, sie wisse nicht, was sie denken soll. Sie wisse ja auch nicht, wie die Katze in die Truhe gekommen sei. Der Besitzer dieses Ungeheuers hat der Polizei gesagt, er habe sich um die Katze Sorgen gemacht. Es ist übrigens ein Kater, der zu gewissen Zeiten schon mal zwei Tage ausbleibt. Und es war wieder so eine gewisse Zeit. Deswegen habe er auch keine Suchanzeige aufgegeben. Kater muss man streunen lassen, so sagte er. Er ist selbst so ein Streuner, heißt es.« Marilyn hielt inne und sah sich um: »Sind Sie einverstanden, wenn wir im Haus bleiben? Im Allgemeinen macht es mir nichts, wenn meine Nachbarn Gesprächsfetzen mithören, aber Helen ist kein Thema für dritte Ohren, nicht wahr?«

»Nein, ganz bestimmt nicht,« bekräftigte Olivia. Während das Gespräch weiterlief, sanken sie in zwei Bauhaussessel. »Streunte dieser Nachbar auch in Cat’s Rest?« erkundigte Olivia sich, während sie zufrieden die ausgestreckten Beine übereinanderschlug.

»Er hat es versucht, bei beiden gleichzeitig, stellen Sie sich das vor! Genau besehen ist er diesem Perserkater gar nicht unähnlich: groß, kräftig, männlich und abstoßend. Wissen Sie, ich kenne ihn vom Sehen, Sie wissen, wie das in diesen Vierteln ist, nicht wahr, aber ich lernte erst heute, wer genau der Mann ist, und damit weiß ich jetzt auch, wer seine Ehefrau ist.«

»Und wie kam es dazu?«

»Denken Sie nur, der Kerl stand in der Schlange vor der Kasse im Supermarkt und berichtete laut, sein geliebter Kater sei getötet worden und man habe ihn in Cat’s Rest in einer Truhe gefunden. Er erzählte es so, dass alle Umstehenden denken mussten, die Leute von Cat’s Rest hätten das Tier getötet und dann in ihrer Truhe versteckt. Ich war so wütend«, sie hielt kurz inne, bevor sie ihren Satz mit einem kleinen Lächeln zu Ende brachte: »ich war so wütend, dass ich lieber den Mund gehalten habe.«

Olivia grinste zustimmend: »Am Ende wären Sie sich in die Haare geraten, bei solchen Leuten ist Vorsicht die bessere Reaktion. Wissen Sie, wie die Leute heißen?«

»Funnell, sie kommen aus Sussex.« Marilyn sagte das, als wäre damit alles geklärt. Sie schien Olivias Gedanken zu erraten: »Die Menschen da unten sind im Allgemeinen natürlich sehr freundlich«, ergänzte sie.

»Es ist schön da unten in den Sussex Downs«, stimmte Olivia zu. »Wissen Sie, was ich gerade denke? Je weniger Leute hier in der Nachbarschaft wirklich aufmerksam werden auf die ungewöhnlichen Todesumstände von Edith Munroe, desto besser. Fragen Sie mich nicht warum, ich denke nur gerade, wenn man so nah an dem Mord ist wie Sie und ahnungslos, wer es gewesen sein könnte, ist es sicherer, unauffällig zu bleiben.« Marilyn starrte sie erschrocken an. »Mir fielen da ein paar Gründe ein, warum Mörder auch noch nach ihrer Tat gefährlich werden könnten«, überlegte Olivia weiter. »Es ist schließlich sehr wahrscheinlich, dass Sie den Täter, die Täterin kennen, meinen Sie nicht? Und solange derjenige sicher ist, Sie seien zwar entsetzt und würden Helen trösten, alles andere aber der Polizei überlassen, wird er sich nicht mit Ihnen beschäftigen.«

Olivia beobachtete ein wenig überrascht, wie sehr sie Marilyn Fleming mit ihrer Warnung verstört hatte. »Hat Scotland Yard Helen aufgesucht, um ihr zu sagen, wohin der Kater gehört?« machte sie weiter.

»Ja, richtig, heute um die Mittagszeit. Wissen Sie, alle neuen Informationen vergrößern Helens Angst. Ich verstehe das nicht, sie ist nämlich ein couragierter Mensch.«

»Gibt es denn noch mehr Neuigkeiten?«

»Ich glaube nicht. Es ist nur so, dass Helen inzwischen mehrmals über ihren Tagesablauf zur Mordzeit ausgefragt wurde und allmählich annimmt, die Leute vom Yard halten sie für eine mögliche Täterin. Das macht sie völlig fertig.«

»Schweigt sie deswegen so konsequent, was meinen Sie?«

»Ich vermute ja. Schauen Sie, wenn die Polizei für denkbar hält, dass sie ihre Schwester vergiftet hat, kann man den Glauben an ziemlich vieles verlieren, nicht wahr? Und dann fragt man sich unwillkürlich, was wohl die Menschen in der Umgebung von einem denken und dann die im Freundeskreis oder umgekehrt und deshalb will Helen niemanden sehen und zieht sich in sich zurück. Marian, ihre Tochter, war über das Wochenende bei ihr. Das hat ihr geholfen, stark zu bleiben, aber sie hat sie wieder zu ihrer Arbeit nach Wales geschickt, dort hat sie gerade einen größeren Auftrag für die neue Einrichtung eines alten Hotels, da sollte man dranbleiben, nicht wahr?«

»Helens Tochter ist Innenarchitektin?«

Marilyn nickte. Endlich sah Olivia sich ein wenig um. Die Bauhaussessel, in denen sie saßen, waren mit gestreiften Stoffbahnen bespannt, das war ungewöhnlich.

Marilyn stimmte ihr zu, für diesen einen Augenblick fast unbeschwert. »Die Sessel sind sehr bequem, nicht wahr? Aber deswegen müssen sie ja nicht sandfarben sein.«

Das war richtig, auch wenn Olivia sich das nie überlegt hatte. Neben der Tür nach draußen stand ein schmaler, hochlehniger Stuhl von Mackintosh und als Olivia sich jetzt weiter umsah, entdeckte sie ihr Lieblingsmöbel – auch von Mackintosh, den halbrunden Sessel, dessen Rückenlehne wie ein Gitter gearbeitet war und für sie dabei das Muster eines Baumes abgab. Das Sitzkissen zeigte eine stilisierte Pfauenfeder, ungewöhnlich und eindrücklich. »Marilyn, was machen sie beruflich, sind sie auch Innenarchitektin geworden?«

»Nein, nein, aber Farben, Muster und so weiter sind Teil meines Lebens. Wissen Sie, Mode, also Kleidung, ist schließlich nur eine Möglichkeit, mit Stoffen umzugehen. Als ich meinen Abschluss vom Saint Martin’s hatte, wurde mir schnell klar, dass von Talent oder nicht Talent einmal abgesehen ich ganz sicher nicht die notwendige Ellenbogenkraft besaß, um mich auf dem Modemarkt durchzusetzen; ich denke dabei gar nicht an einen so großartigen Erfolg, wie Leila ihn erreichte, aber eben doch so erfolgreich, dass man mit seiner Existenz zufrieden ist. Damals sah das Leben einigermaßen verpfuscht aus. Und dann entdeckte ich Falten. Klingt das verrückt?«

»Kommt darauf an«, neugierig und gerade ziemlich ungeniert sah Olivia sich um, »es kommt darauf an, was man mit und aus Falten macht. Was haben Sie gemacht?«

»Ich habe mit Kleidern begonnen, zuerst plissierte ich nur die Röcke, dann plissierte ich auch die Ärmel, ich hatte einen kleinen Betrieb im Osten von London gefunden, der das alles konnte. Seidenstoffe flossen, als sei das Material lebendig, aber sie waren teuer. Später dann nahm ich Polyester, es kam mir wie ein Sakrileg vor, es fühlte sich nicht richtig an, aber es war preiswert und einfach zu pflegen. Den Kleidern folgten Hosen und Oberteile, aus beidem, aus Seide und aus Polyester, und dann endlich wagte ich, was ich bei dem Erfinder dieser kleinen Falten, bei Mariano Fortuny, so bewunderte: fließende Kleider, wie man sie an antiken Statuen sieht. Hinreißend.« Marilyn war im Moment an die Falten verlorengegangen. »Dieser Fortuny war ein Genie, ein Bildhauer, Maler, Photograph und Modeschöpfer. Vielleicht kam er von der Bildhauerei zu den Falten – wenn das so war, dann kam er von der Malerei zu den Stofffarben. Er verwendete vor allem Seide und die färbte er selber, er und seine Frau, die beiden müssen eine ideale schöpferische Kombination gewesen sein. Sie ließen sich Farbstoffe aus allen Teilen der Welt kommen: Koschenille aus Mexiko, sie färbt Rottöne und wird aus einer Laus gewonnen; unsere englische Waidpflanze für Blau und Indigo aus Indien für noch mehr Blautöne. Das sind auch Helens Lieblingsfarben, die Fortunys hatten natürlich noch viel mehr.« Marilyn holte Luft, bevor sie lachte, leise und heiter.

»Ich würde solche Kleidungsstücke sehr gerne sehen, haben Sie Fotos?«

Marilyn zögerte. »Ich fürchte, wir kommen immer mehr vom Pfade ab, meine Schuld. Ich zeige sie Ihnen – sehr gerne – wenn Helen wieder in Ruhe schlafen kann.« Sie blickte Olivia jetzt beinahe schuldbewusst an.

Doch die blieb noch bei Marilyn: »Konnten Sie Ihre Entwürfe verkaufen? Oder geht das so als Einzelteil nicht?«

»Doch es ging, weil ich Leila kannte, und Edith. Die beiden waren dabei, ein Netzwerk zu kleinen Boutiquen und Schneiderwerkstätten aufzubauen und eine Boutique nahm einige meiner Sachen mit ins Programm. Ich war sehr stolz, das können Sie sich vorstellen, nicht wahr? Nur kann man natürlich nicht nur Faltenkleidung entwerfen, wenn man weiterkommen will, nicht wahr? Und dann kamen noch die Japaner mit ganz ähnlichen Sachen nach Europa, vor allem Miyake. Es war sehr dumm von mir, aber ich fand alles, was er machte, so viel schöner als meine Entwürfe, dass ich aufgab.«

Ihre Linke spielte mit Stoffresten, die neben ihrem Sessel lagen. »Theater machte mir Freude, da ging es dann weiter, ich machte Kostüme. Ich entdeckte das Origami, wieder erfand ich Dinge aus Falten, so kam ich zur Schaufensterdekoration. Auch das mache ich sehr gern, noch immer. Vor zwei Jahren habe ich einen Hut entworfen, wissen Sie, Material und Falttechniken werden immer ausgepichter, es ist toll. Diesen Hut hat Leila für Selfridges ins Programm genommen, in allen möglichen Farben – er wurde ein Renner!«

»›Der verrückte Fleming!‹ – meine Freundin Amanda hat mir von ihm erzählt. Das sind Sie! Entschuldigung, der ist von Ihnen, das ist ja toll!«

Marilyn freute sich, das war leicht zu sehen, aber sie begann, sich unwohl zu fühlen. Die Begeisterung für ihre Arbeit war nicht das Thema der Stunde, wie auch Olivia einsah. »Ich glaube, Helen färbt auch selber, oder? Was färbt sie?«

»Wolle, unbehandelte schottische Schafwolle. Sie ist ziemlich bald nach Studienabschluss nach Schottland gegangen, ins Ettrick-Tal gleich hinter der englisch-schottischen Grenze. Dort gibt es viele Wollmühlen und Spinnereien. Helen hatte sich für Wolle und Strickmode entschieden.« Marilyn zog ihre linke Augenbraue kritisch nach oben. »Kaum etwas konnte damals in den Ohren der Absolventen der Saint Martin’s langweiliger klingen und kaum etwas ist aufregender als ihre Modelle. Haben Sie schon welche gesehen? – Nein? Das dachte ich mir, wir werden das nachholen. Oder Sie gehen einfach in die Boutique, die ihre Kleidung verkauft, sie liegt fast neben dem Royal Court Theatre, dahin kommt man manchmal einfach so, nicht wahr? Denken Sie daran!«

»Mögen Sie mir von Helens Leben erzählen?«

Eine Weile musterte Marilyn Olivia, ruhig und offen, wie es Olivia schien. Und sie selbst betrachtete ihre Gastgeberin. Marilyn war normal groß und mollig, das hatte Olivia gleich auf den ersten Blick gesehen. Als sie den Wollladen gestürmt hatte, mit von der Erregung gerötetem Gesicht, hatte sie ein langes gerades Leinenkleid getragen, ein leichter Schal war locker um die Taille geschlungen gewesen. Heute steckte sie in einem ganz ähnlichen Kleid, nur dass es verwaschen und lässig aussah. Es hatte denselben blauen Streifen wie der Bauhaus-Sessel, in dem Marilyn saß. Wieder begann sich das Gesicht zu röten. Warum? Die wenigen Sätzen zu ihrer eigenen Biographie konnten kaum der Grund sein.

»Helen hat mir ein wenig von Ihnen erzählt«, begann Marilyn, »Sie sind mit ungewöhnlichen Wollmengen unterwegs.« Ihr Blick glitt zum Eingang, wo die großen, prall gefüllten Leinentaschen standen. »Helen nimmt sehr persönlich Anteil an Ihnen, und da das so ist, und offenbar auch umgekehrt, will ich Ihnen von ihr erzählen.« Sie holte Orangensaft, Eis und Wasser, mischte beiden ein großes Glas, steckte in jedes eine Lavendelblüte und setzte sich wieder.

»Helen ging, wie gesagt, ins Ettrick-Tal in den Lowlands, jenes Tal, in dem Schottlands Romantik wohnt: die Schafe auf den Hängen, dichtende Schäfer wie James Hogg bei ihrer Herde und Walter Scott in seinem Schloss am Ende des Tales nicht weit von den Ruinen eines gewaltigen Klosters, Melrose… Ich streife das, weil ich überzeugt bin, dass diese Welt Helen gefangen nahm und sie heilte und sie sich selbst zurückgab, nach einiger Zeit und harter eigener Arbeit. Jenes weiche grüne Land wirkte… wundersam milde stählend – genau das.« Marilyn räusperte sich, trank ein paar Schlucke Orangensaft und blieb sehr aufrecht sitzen. Auch das ging in einem Bauhaussessel, wenn es sein sollte.

»Helen arbeitete in den Spinnereien und Färbereien. Wenn sie frei hatte, streifte sie zwischen den Schafen über die Hügel, unterhielt sich mit den Schäfern und den Züchtern. Sie lernte alles über die verschiedenen Rassen… Sie können sich das vorstellen, nicht wahr, ohne dass ich das noch weiter berichte.« Olivia konnte es. Ein Romanstoff für Amanda, ging es ihr durch den Kopf, jedenfalls, wenn er nicht zwischen den Schafen steckenblieb. Doch erst einmal tat er das.

»Heilte Helen… wovon?«

Marilyn überging die Frage. »Als Helen alles über Schafzucht und Wolle und ihre Verarbeitung gelernt hatte, was das Leben im Ettrick-Tal ihr geben konnte, zog sie weiter auf die Äußeren Hebriden. Dort lernte sie noch mehr über Schafe, vor allem aber, wie man ihre Wolle mit natürlichen Materialien färben kann, mit Kräutern, die dort auf den Felsen wachsen, und Flechten und Moosen und Russ aus dem Kamin. Die Farben, die dabei herauskommen, passen immer sehr harmonisch zusammen… ich komme schon wieder vom Pfade ab«, selbstkritisch verengten sich Marilyns Augen zu Schlitzen.

»Da Helen zwar beim Weben zuschaute, sich dafür aber nicht professionell interessierte, verließ sie die Hebriden zum Herbst, ging nach Selkirk, einem Städtchen im Ettrick-Tal, und nahm Arbeit in einem Wollladen an, bis sie nach weiteren zwei Jahren oder etwas weniger eine Stelle in einem Wollladen in Edinburgh fand, wo man sich endlich auch für ihre Strickentwürfe begeisterte. Dort hatte sie nun den äußeren Rahmen, um ihre Entwürfe auszuarbeiten und zu verkaufen.«

»Diese Entwürfe wurden aber nicht mit der Hand gestrickt?«

»So wie Ihre? Doch zum Teil schon, in den langen schottischen Wintern sind viele Frauen zufrieden bei einer solchen Arbeit. Doch Helen lernte auch mit den Strickmaschinen zu arbeiten, die technisch immer raffinierter wurden. Das ist das, was sie heute vor allem tut, aber auch hier in London stricken viele ältere Damen für sie mit der Hand – und jetzt auch für Sie, wie ich höre.«

Olivia lächelte zustimmend. »Helen hat eine erwachsene Tochter…«

»Marian, ja so ist es. Gott sei Dank! Nicht wahr… Gegenüber von dem Wollladen in der Hill Street in Edinburgh lag ein Buchladen. Der Mann hatte vor allem alles über Kunst, aber natürlich auch Bücher zum Lesen, wenn Sie verstehen, was ich meine, und alte Bücher, antiquarische. Ihm ist Helen auf die Dauer nicht entgangen… schließlich haben sie geheiratet, bekamen eine Tochter, Helen entwarf weiter Strickmode, auch wenn sie nicht mehr im Laden arbeitete, und alles war gut.« Marilyn griff erneut zu ihrem Saftglas und trank in kleinen, aber vielen Zügen, bis das Glas fast leer war.

»Das klingt nach einem guten Leben. Was brachte sie nach London zurück?« forschte Olivia.

»Das Ende von diesem Leben, wenn auch schrittweise. Helens Mann starb ziemlich jung, relativ jung, sie waren vielleicht fünfzehn Jahre verheiratet, sechzehn, so etwas. Marian ging ein paar Jahre später nach Glasgow zum Studium und Helen kam nach London.«

»…und schaffte sich hier mit ihrer Mode einen neuen Markt. Respekt!«

»Ja, Sie werden es verstehen, wenn Sie ihre Sachen sehen. Bestimmt!«

»Konnte Leila Man wieder helfen? Sie ist sehr erfolgreich, ist das richtig?«

»Oh ja, Leila ist sehr, sehr erfolgreich, damals war sie schon viele Jahre bei Selfridges und bereits stellvertretende Leiterin der Damenmode, heute ist sie die Chefin. Wahnsinn, denke ich immer… Aber nein, Helen konnte sie nicht helfen, vielleicht hat Helen sie auch nicht gefragt… ich glaube, Strickmode ist eine ganz eigene Welt, irgend so etwas war es.« Kurzfristig wurden ihre Augen wieder zu Schlitzen. »Jedenfalls hat Helen es ein zweites Mal geschafft!«

»Entwirft Leila Man auch Mode? Das ist es, was sie gelernt hat, oder?«

»Ja, genau wie Helen und ich. Dieselbe Ausbildung und welch unterschiedliche Wege, nicht wahr? Leila entwirft Damenoberbekleidung im klassischen Sinn. Sie kann das, sie konnte sich damit auch durchsetzen. Vielleicht hatte sie es etwas einfacher, weil sie es zu Selfridges geschafft hatte, das weiß ich so genau nicht, aber sie ist auf alle Fälle sehr kreativ. Sehr kreativ, ich beneide und bewundere das.«

»Sie?«

»Ja, mir wäre über so viele Jahre bestimmt kein neuer Schnitt mehr eingefallen. Leila schon.«

»Verstehe.« Olivia richtete sich auf und sah nach der Wohnungstür. Doch Marilyn machte einen Gegenvorschlag, bevor sie etwas gesagt hatte.

»Machen Sie mir die Freude und kommen Sie mit in ein kleines Restaurant unten an der High Street, vielleicht kennen Sie es ja auch, die ›Louisiana Casserole‹. Nein, Sie kennen es nicht? Umso besser! Dann müssen Sie mitkommen. Bei diesen Temperaturen können Sie auch einen Salat essen, wenn es sein muss. Aber die Eintöpfe sind einfach köstlich und in Louisiana ist es immer warm, also passen sie auch zu einem heißen August in England ganz ausgezeichnet.« Marilyn versicherte sich, dass Olivia gern scharf gewürzte Gerichte aß und grüne Paprikaschoten und Bleichsellerie mochte.

Jede mit einer großen Leinentasche in der Hand gingen sie die King’s Road hinunter. »Ich schäme mich fast, wie vergnügt ich gerade bin«, bekannte Marilyn irgendwann, »schauen Sie mal, waren sie schon mal in diesem Laden?« Sie standen vor einem gelbumrahmten Schaufenster, in dem ein Ölgemälde nach einem Kinoplakat zu ›Casablanca‹ ausgestellt war. »Hier können Sie Ihr Lieblingsfoto, Poster, Karte, was immer zu einem Ölgemälde Ihrer Wahl umarbeiten lassen und, wenn Sie wollen, als Original an die Wand hängen.«

»Die Idee ist fürchterlich gut«, Olivia dachte das nicht erst jetzt, sie warf im Vorbeigehen manchmal einen staunenden Blick ins Fenster. »Kennen Sie den Menschen, der das macht?«

»Oh ja, er stammt auch aus Louisiana, ein bisschen verrückt, ein bisschen laut, aber auf seine Art sehr unterhaltsam. Ich habe einmal zwei Ölgemälde für eine Dekoration gebraucht, es war für eine Theaterproduktion. Auf der Bühne sah es toll aus.« Keine Frage, Olivia konnte sich das ohne weiteres vorstellen.

Da die Häuser hier unten an der King’s Road nun mal alt und sehr klein waren, betrug die Entfernung von Laden zu Laden folgerichtig nur wenige Meter. Schon stieß Marilyn die Tür zur ›Louisiana Casserole‹ auf und ein Gemisch verführerischer Düfte strömte ihnen entgegen. Das Licht drinnen war gedämpft, das Rostbraun der Wände verstärkte es nicht gerade, harmonierte aber für das Auge erholsam mit den Holzbänken, die die Wände entlangliefen. Die Stühle schienen aus dem gleichen alten Holz zu sein, dazu helle Marmortische. Bald dampfte es vor jedem aus einer kleinen gusseisernen Pfanne. Olivia erkannte Bleichsellerie, Zwiebeln und grüne Paprika, Tomaten, Huhn und Garnelen, Frühlingszwiebeln waren darüber gestreut und eine große Schale Reis stand zwischen ihnen. Sie tat es Marilyn gleich, häufte Reis in die Mitte der Pfanne, mischte bissenweise die rote Pracht mit Reis und ließ es sich schmecken.

Sie redeten nicht viel und wenn, dann über die Küche von Louisiana. Marilyn erzählte ein wenig von der Wirtin, die nicht weit vom Mississippi aufgewachsen war, und kam dann doch noch wieder auf Helen, die den Sommer zwischen ihrer Arbeit in Selkirk und in Edinburgh in South Carolina verbracht hatte, auf einer Indigo-Farm. South Carolina lag vom Mississippi aus betrachtet weit weg im Osten, gehörte aber immerhin auch zu den Südstaaten. Und dort, erzählte sie, hatte Eliza Lucas Pinckney auf ihrer Plantage als erste Farmerin Indigo angebaut. Es waren Jahre dauernder Kämpfe gewesen in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gegen Frost, Trockenheit und Raupen, aber auch gegen Sabotage aus Konkurrenzneid. Doch Eliza Lucas Pinkney schaffte es. Später gab sie Indigosamen an andere Plantagenbesitzer weiter in der sicheren Annahme, dass der Bedarf an Blau bei den englischen Färbern nicht versiegen würde; und so war es denn auch. Zu der Zeit von Helens Besuch in den Vereinigten Staaten, mehr als zweihundert Jahre später, gab es nicht mehr allzu viele Indigoplantagen, aber eine genügte Helen ja. »Sie lernte dort die Pflanzen, ihren Anbau, Ernte und Verarbeitung kennen und ist überzeugt, dass keine Farben leichter und heiterer wirken, als die aus Indigo von Türkis bis Saphirblau.«

Zum Abschluss stellte Marilyn eine kleine Schachtel auf den leeren Marmortisch. »Das sind Butter Brickle, eine süße Besonderheit aus Louisiana. Genau genommen ist es Butter und Zucker vermischt, darauf wird Schokoladensplit geschmolzen und auf den weichen Split geröstete Mandelblätter gestreut.« Sie lächelte Olivia breit an. »Ich liebe diese Unkompliziertheit! Sehen sie, Karoline, unsere Wirtin, rührt natürlich als erstes die Buttermischung liebevoll zusammen, doch dann streicht sie das alles nacheinander auf ein Backpapier, lässt es abkühlen und bricht es mit einem scharfen Messer in kleine Stücke. So entsteht etwas durch und durch Köstliches, das glücklicherweise kein kostbares Konfekt ist. Greifen Sie zu!« Es schmeckte hervorragend! Leider war Olivia nach einem Stück nun endgültig satt. Marilyn griff mit zwei Fingerspitzen ein zweites, dann schloss sie die Schachtel und schob sie in eine der Leinentaschen. »Vergessen Sie nicht, die Schachtel zuhause gleich in den Kühlschrank zu schieben, kalt ist es besonders unwiderstehlich!«

Cat's Rest

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