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Kapitel 3
ОглавлениеAm anderen Morgen, es war Donnerstag, saß Olivia an ihrem Schreibtisch und verfasste eine ihrer vierzehntägigen ›Londoner Skizzen‹ für die Süddeutsche Zeitung. In dieser beschäftigte sie sich mit Theodor Fontane. Er hatte Mitte des 19. Jahrhunderts drei Mal in London gearbeitet, insgesamt mehr als vier Jahre, und für die ›Preußische Zeitung‹ aus England berichtet. Vor wenigen Wochen war er mit einer Blauen Plakette an seinem damaligen Wohnhaus in Camden Town geehrt worden, eine inzwischen wahrhaft seltene Ehrung durch English Heritage und wert, nach Deutschland berichtet zu werden. Im Anschluss stellte sie die Strickmuster zusammen, für die Wangari sich bereits entschieden hatte und machte sich auf den Weg zum Wollladen. Es war inzwischen Nachmittag, die Temperatur angenehm und der Himmel leergefegt und wasserblau. Dieses Mal nahm sie den Bus.
Als sie auf den Laden zuging und ihr das rote Samtsofa durch die Fensterscheibe entgegen leuchtete, fühlte sie Verwunderung in sich rumoren, irgendwo vom Magen aufwärts: Der äußere Anblick war völlig unverändert, obwohl im Inneren das Grauen explodiert war. Entschlossen drückte sie die Tür auf und rief auf der Stelle eine Begrüßung in die Leere. Die Verbindungstür zum hinteren Haus stand offen und Helen Campbell erschien umgehend. Olivia streckte ihr beide Hände entgegen.
Aufmerksam sahen Helens grüne Augen die junge Frau an, endlich nickte sie: »Sie waren sehr hilfsbereit, vorgestern. Ich danke Ihnen.« Sie löste sich aus dem Handgriff, trat etwas zurück und setzte mit der ersten Andeutung eines freundlichen Lächelns hinzu: »Sie haben schon die ersten Aufträge für mich?«
Sachlich und wieder sehr ernst sah sie Olivias Skizzen durch, stellte Fragen und rechnete Wollmengen aus, trug zusammen, was möglich war und schrieb für die fehlenden Vorräte eine Bestellung. Sie war schon beim Rechnung schreiben, ohne dass es für Olivia möglich gewesen wäre, über die Wolle hinaus ins Reden zu kommen. Helen wollte offenbar nicht über den Todesfall sprechen und Olivia hatte letztlich keinen Grund, Fragen zu stellen.
Doch der Zufall schlägt manchmal Haken wie ein Hase. Helens Freundin stürmte mit ihrem entwaffnenden Lächeln in den Laden, etwas gemäßigter als vor zwei Tagen, aber nicht weniger entschlossen. Ohne Umstände umarmte Marilyn Fleming ihre Freundin, bevor sie Olivia ein ebenfalls herzliches ›Guten Abend‹ entbot. Nachdenklich blieb ihr Blick an deren Gesicht hängen: »Ich habe Sie vor kurzem gesehen, aber ich erinnere mich nicht mehr, wo das gewesen sein könnte, wissen Sie es?«
Olivia nickte freundlich, aber zurückhaltend. Sie respektierte Helens Schweigen mehr, als ihr bewusst war. »Es war hier im Laden vor zwei Tagen, ich war gerade im Gehen, als Sie kamen.«
Es arbeitete fix in Marilyn Flemings Kopf: »Sind Sie Olivia Lawrence? Haben Sie mich angerufen?« Olivia nickte bestätigend und Marilyn schwieg unerwarteterweise. Behutsam wandte Olivia sich der Bestellung zu, die Helen ihr zur Unterschrift hingeschoben hatte. Als sie den Stift beiseite legte, hatte Marilyn ihren Entschluss gefasst: »Helen, Mrs Lawrence, sollten wir nicht zusammen zu Abend essen? Wäre das möglich, Mrs Lawrence? Helen, kannst du dir das vorstellen? Wir könnten so viel von Mrs Lawrence erfahren«, bekräftigte sie ihren Vorschlag.
Stille trat ein, eine Stille, die Olivia unangenehm an diejenige von vor zwei Tagen erinnerte. Diese Art Stille wollte sie nicht mehr: »Ich für meinen Teil habe noch Zeit«, beantwortete sie Marilyns Frage.
Erfreut sah Marilyn sie an: »Das ist sehr großzügig von Ihnen, danke sehr. Helen, nicht wahr… ich glaube bestimmt, dass es gut sein wird, wenn Mrs Lawrence uns einfach erzählt, was sie erlebt hat. Wir können uns dann wenigstens manches besser vorstellen. Was meinst du?« aufmunternd stellte sie ihre Tüte auf den Tresen. »Riechst du das frische Brot? Dazu habe ich drei Sorten Käse mitgebracht, ein Stück französische Pastete und viele kleine Tomaten, rote und gelbe, es sieht sehr sommerlich aus. Und eine Flasche Rotwein natürlich. Kommt, wir sperren den Laden zu, decken den Tisch, waschen die Tomaten und schon ist alles fertig und gemütlich. Helens Garten ist so wunderschön«, wandte sie sich an Olivia, »für mich ist es wie Ferien zu haben, wenn ich dort im Sommer sitzen darf.«
Olivia stimmte ihr zu: »Ich glaube, gestern hat mich der Garten mit seinen Blumen und seinem Duft vor Panik bewahrt. Jedenfalls kam es mir im Nachhinein so vor«, ergänzte sie.
»Sehen Sie, Sie denken auch weiter über alles nach und müssen das verarbeiten. Kommen Sie, zusammen ist es leichter.«
Schweigend gab Helen Marilyn recht. Sie verriegelte die Tür, zog die Rollos herunter und löschte die Lichter. Hinter ihrem Besuch schloss sie die Verbindungstür und seufzte erleichtert. Olivia hörte es wohl. Wenig später saßen sie um den Gartentisch, Olivia in Ediths Sessel. Sie akzeptierte, dass es den beiden anderen so das Liebste war.
Helen war einfach verstummt. Seit Marilyn gekommen war, hatte sie noch kein Wort gesagt. Sie nippte an ihrem Rotwein, zerbröselte eine Scheibe Brot auf ihrem Teller und sah ins Leere. Ganz selbstverständlich hatte Marilyn die wenigen notwendigen Handgriffe erledigt. Sie fühlte sich hier wie zu Hause, das war deutlich und vereinfachte die Situation wesentlich. Nach dem ersten Schluck Rotwein brachte sie Olivia dazu, möglichst genau zu erzählen, wie sie den Dienstagnachmittag erlebt hatte, nachdem sie durch die Ladentür getreten war.
»Oh mein Gott!« machte sich Marilyn Luft, als Olivia schwieg. Die trank in kleinen Schlucken kaltes Wasser und wartete ab. »Gestern hat die Polizei Helen informiert, dass man bei der Obduktion Zyankali gefunden hat.« Zögernd fuhr Marilyn fort: »Edith hat dieses Zyankali gegessen, fühlte sich schlecht, stand auf und sank zu Boden, um nicht wieder aufzustehen, so war es, richtig?«
»Es ist die wahrscheinlichste Variante.« Olivia schwieg wieder. Helen regte sich weiter nicht.
»Dann habe ich Edith vielleicht als letzte lebend gesehen«, stellte Marilyn fest.
»Du?« das musste Helen gesagt haben, auch wenn sie unbeweglich in ihrem Sessel lehnte.
»Wäre immerhin denkbar. Ich oder Leila. Weißt du, es war so: ich kam ungefähr um viertel vor zwei hierher. Ich wollte dir einen Entwurf zeigen, bevor ich ihn ganz fertig machte. Du warst nicht da, also ging ich nach wenigen Sätzen wieder weg. Edith war auf der Treppe am Räumen, als ich kam.«
»Und Leila?« Wieder kam die Frage von Helen.
»Ich ging die Old Church Street hoch und sah sie von oben kommen. Ich bin links abgebogen. Ich gebe zu, das war nicht sehr fein, aber ich hatte gerade keine Lust auf Leila. Obwohl sie, wie immer, großartig aussah – sie war in leichtes duftiges Lavendelblau gekleidet, in jenem wundervollen hellen Ton, der genau die richtige Menge Rot dem Blau beigemischt hat, ich liebe diese Farbe.«
»Warum bist du so herum gegangen?«
»Weil ich noch einkaufen wollte.«
Da war sie wieder, diese Stille, die keine Ruhe, kein Frieden war. Sie lastete auf den beiden Freundinnen.
»Wer ist Leila«, erkundigte sich Olivia möglichst beiläufig, wie um das Gespräch wieder anzukurbeln.
Marilyn fasste es wohl auch so auf. »Leila, sie ist eine alte Freundin von uns allen, aber von Edith besonders. Leila und Edith kennen sich noch aus der Schule. Sie war dann auf der Saint Martin’s wie Helen und ich, nur früher, und leitet heute die Abteilung für Damenmode bei Selfridges. Bis vor ein paar Monaten hat sie gar nicht weit von mir gewohnt. Dann zog sie in eine wohl sehr vornehme Wohnung in Notting Hill, seither sehen wir sie seltener.« Sie sah Olivia an und lächelte ein wenig. »Leila ist sehr elegant und sehr erfolgreich, im Laufe der Jahre hatten wir immer weniger miteinander zu tun. Na ja, es hat mich trotzdem gewundert, dass sie weggezogen ist.«
»Und Sie denken, sie kam zu Edith?«
»Ich wüsste nicht, wohin sie sonst hätte gehen sollen. Sie hatte eine Plastiktüte vom Supermarkt in der Hand, was nicht gut zu ihr passt; die wollte sie sicher nicht länger durch die Gegend tragen, als notwendig. Und die wahrscheinlichste Möglichkeit, sie loszuwerden, war sicherlich ein Besuch bei Edith. Vermutlich waren Sandwiches drin.«
»Hier gab es aber keine Spuren von Sandwiches, nur Salat, Brot und Käse.«
»Erstaunlich, dann hat sie ungefähr dasselbe gekauft wie ich heute, bei dem Wetter passt das auch besser. Aber zu Leila passt es nicht.« Marilyn begann die Sache offenbar Spaß zu machen, auch wenn sie Helen nicht aus den Augen verlor. Sie griff jetzt entschlossen nach dem Käsemesser, legte jedem drei kleine Stücke auf den Teller und munterte zum Essen auf. Olivia folgte der Aufforderung und endlich löste sich auch Helen aus ihrer Starre.
»Leila, ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen. Edith kaufte vor kurzem im Schlussverkauf ein Kleid bei Selfridges. Ich glaube, sie hatte danach einen kurzen Tee mit Leila. Aber Leila kann auch noch nicht der letzte Mensch gewesen sein, der Edith lebend gesehen hat, das muss…« es fiel ihr schwer, weiterzusprechen, »…das muss der Mensch gewesen sein, der ihr das Zyankali gegeben hat.« Helen atmete tief durch, stellte das Rotweinglas zurück und griff nach dem Wasser. Einige Schlucke später sah sie endlich die Freunde neben sich am Tisch an. Ihre Augen fixierten Olivia: »Warum sind Sie durch die oberen Stockwerke gegangen? Glaubten Sie wirklich, ich könnte oben sein?«
»Ja, war das so unwahrscheinlich?«
»Ja, das war es! Wäre ich im Haus gewesen, hätte ich mit Edith und Leila zusammen Lunch gehabt, da es nur zwei Gedecke waren, war ich nicht zuhause!«
»So einfach war es für mich nicht«, erklärte Olivia, »das zweite Gedeck hätte ja auch Ihres sein können.«
»Und dann wäre ich einfach weggegangen und hätte Edith alles stehen- und liegenlassen?«
»Es gibt solche Situationen, meinen Sie nicht?«
»Sicher gibt es die«, mischte sich Marilyn ein, »eine plötzliche Verabredung, ein vergessener Termin, was weiß ich. So ordentlich sind wir alle nicht, dass so etwas nicht vorkommt.«
Helen hielt an ihrem Gedankengang fest:: »Und wenn Sie mich nun oben gefunden hätten?«
»Dann wäre ich nicht mehr allein gewesen«, stellte Olivia trocken fest.
»Das ist eine Möglichkeit«, gab Marilyn zu. »Helen, weißt du, Olivia könnte die Sorge hinaufgetrieben haben, dass du oben liegst und auch tot bist. Das wäre doch möglich, nicht wahr?« wandte sie sich Olivia zu.
»Um ehrlich zu sein, war das so«, bestätigte die.
»Welcher Wahnsinnige hätte das denn sein sollen, der uns beide umbringt«, Helen sah verständnislos von einem zum anderen.
»Und welcher Wahnsinnige soll deiner Meinung nach Edith vergiftet haben? Fällt dir da eher jemand ein?« Marilyn verstand die Freundin im Moment nicht recht, aber das wunderte sie in der gegenwärtigen Lage nicht weiter.
»Nein.« Helen versank wieder in Schweigen, Olivia lernte, Helens momentanen Zustand an deren Gesicht abzulesen. Sie schob sich ein Stück Käse in den Mund und wartete. Marilyn tat es ihr nach. Beim Essen kam der Appetit und beide aßen langsam, sahen in den Garten und hingen ihren Gedanken nach. Marilyn schob Helen ihren Teller bittend näher, erfolglos. Sie starrte weiter ins Leere und reagierte nicht.
»Es ist sehr schade, dass Leila nicht etwas länger geblieben ist«, kam es Marilyn in den Sinn, »danach waren Sie da und der Täter hätte aufgeben müssen. Warum hatte er so viel Glück?«
»Ich weiß es nicht«, Olivia sah von einer zur anderen. »Wenn wir von Leila erfahren könnten, ob sie wirklich hierher gegangen ist und am besten auch, wann sie wieder ging, bliebe vermutlich wirklich nur ein schmaler Zeitraum, in dem es passiert sein muss.« Ihr Blick streifte unauffällig Helens Starrheit. »Ich denke, ich sollte jetzt gehen, meinen Sie nicht auch«, sie sah Marilyn abwartend an. Mit deren schweigender Zustimmung stand sie auf, wünschte Helen leise einen guten Abend und ging. Im Laden bat Marilyn um ihre Telefonnummer und erhielt sie auch, dann stand Olivia mit großen Leinentaschen voller Wolle im Sommerabend in der schmalen Gasse. Sie eilte durch die Passage und die Old Church Street hinauf zum Bus. Wangari würde die Wolle noch holen, um sie gleich an die Strickerinnen zu verteilen, die frei waren.