Читать книгу Cat's Rest - Gerda M. Neumann - Страница 4

Kapitel 1

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Mit leichtem Schritt eilte Olivia über die sehr breite Hauptstraße, die das Victoria und Albert Museum von dem gegenüberliegenden Wohnviertel trennte, und schlängelte sich in die ruhigen Straßen von Kensington. Weiße Häuser, kleine grüne Plätze, Ruhe, Eleganz und Wohlstand allenthalben. Südlich der Fulham Road mischte sich Ziegelstein in das Weiß der Fassaden, die Häuser wurden individueller, allmählich auch kleiner, ein mehrstöckiges Wohnhaus geriet dazwischen und es wurde lebendiger. Sie ging nun durch die alten Gassen von Chelsea, erreichte einen kleinen dreieckigen Platz und ließ sich mit einer Tüte Milch, Schokocroissants und frischen Pfirsichen auf einer der Bänke nieder. Zufrieden legte sie die Füße übereinander und überließ sich für einen Moment der Augustwärme.

Während ihre Haut sich der weichen Luft ergab und dem schwachen Wind, der ahnungsweise nach Grün duftete, wanderten ihre Gedanken zurück in die Bibliothek des Victoria und Albert Museums und zu der Fülle von Stoffmustern, die sie in den vielen Stunden dieses Vormittags durchstöbert hatte. Sie liebte den gerade einsetzenden Prozess, in dem sich Stoffmuster zu Strickmustern wandelten. Als die Glieder schließlich taub wurden, schüttelte sie energisch den Kopf, ihre dunkelbraunen Haare flogen und legten sich wieder glatt an. Olivia richtete sich auf, griff mit der linken Hand in die Tüte und holte ein Croissant heraus, mit der anderen in ihre Tasche nach Stift und Papier. Viele Bögen Papier wurden mit ersten Strickentwürfen gefüllt. Aufregung prickelte durch ihre Blutbahnen. Irgendwann steckte sie den Stift zurück in die Tasche und strich über die Stoffproben in einem Leinenbeutel neben sich, es würde wunderbar sein, gleich im Wollladen zu stehen und Farben auszuwählen.

Die Sonne war derweil gewandert. Olivia rutschte dem Schatten hinterher, schob das Papier zu den Stoffen und rieb in aller Ruhe einen Pfirsich ab. Ihre Augen glitten über das runde Blumenbeet unter dem gegenüberliegenden Baum, schweiften über die kleinen Häuser um diesen kleinen Platz. Eigentlich ist er ganz und gar unenglisch, schoss es Olivia durch den Kopf. Schon diese Bänke: lange schmale Holzleisten hintereinander auf einem gusseisernen Gestell in dieser geschwungeneren Form, mehrere Bänke dicht nebeneinander, so viel halt Platz für sie da war, und gegenüber dasselbe noch einmal. Die kleinen Rasenflächen hinter den Bankreihen mit niederen schmiedeeisernen Gittern umzäunt, die Blumenbeete klein und rund, dazu jeweils ein wohlgeformter Baum. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. So sorgfältig umhegten die Wiener die Natur in ihrer Stadt und die Pariser. In den großen alten Städten hatte es sicher immer wenig Natur und viel mehr Menschen gegeben. Hier in London war das auch so gewesen, doch die ausgedehnten Parks mitten in der Stadt hatten allen Bauphasen getrotzt, das Leben entspannt und den Zäunen widerstanden. Nur hier nicht – auf diesem winzigen Platz im alten Chelsea gab es Zäune.

Sie griff nach ihrer Tasche und dem Leinenbeutel und machte sich wieder auf den Weg, nicht allzu schnell, denn sie ging gern durch diese stillen Straßen. Nie waren sie so still wie im August, wenn die Hälfte der Londoner in Urlaub war; und wenn der Tag so heiß war wie der gegenwärtige, regte sich endgültig niemand mehr. Sie begegnete keiner Menschenseele, wie sie da ausschritt, sich an den Vorgärten erfreute und an der Sommerluft auf ihrer Haut. Sie überquerte die King’s Road, die Straßen wurden noch schmaler. Kurz vor ihrem Ziel sah sie dann doch noch einen Menschen. Eine Frau in einem schmalen mit riesigen Blüten bedruckten Etuikleid querte die nahe Kreuzung, lautlos. Von der Hand, die über die Schulter hing, baumelten High Heels. Wie gut Olivia sie verstand: mit diesen stiftdünnen, hohen Absätzen wollte sie selbst nicht mal bei kühlem Wetter durch London laufen. Sie grinste, als die elegante Erscheinung die Tür zu dem kleinen Pub an der Ecke aufstieß und verschwand. Wie unabhängig musste die Frau sein, die einfach barfuß ging, wenn ihr die Unbequemlichkeit reichte. War sie normal aufgetreten? Dann würde sie das häufiger machen. Hatte sie den Fußballen zuerst aufgesetzt, wie Olivia das beim Barfuß-Gehen gern tat? Irgendetwas Zielstrebiges hatte ihr Rücken ausgestrahlt. Vielleicht den dringenden Wunsch nach einem Drink…

Unter diesen müßigen Gedanken bog Olivia in die kleine Sackgasse ein, in der ›Cat’s Rest‹ lag, nicht ganz eine Sackgasse: für Fußgänger gab es einen Durchgang zur Old Church Street. Auch der Name des Wolladens stimmte nicht ganz, die gegenwärtigen Besitzer hatten keine Katzen. Sie glitt mit ihrer Rechten leicht durch die Nadeln der Taxuskugeln und schnupperte an dem Buchsbaum in den großen, dunkelgrün gestrichenen Holzkästen vor dem Schaufenster, bevor sie in den schattigen Laden eintrat, in den nie ein Sonnenstrahl fiel, weil die Gasse zu schmal war. Alle Wände des kleinen Geschäftes waren bis zur Decke hinauf vollgeräumt mit Wolle. Olivia gewöhnte sich allmählich an das Dämmerlicht, während ihre Augen automatisch die Regale entlangliefen. Helen Campbell hatte sie lavendelfarben gestrichen, als sie hier wieder eingezogen war, die Wände und Tresen eine Schattierung dunkler und die riesige Truhe linkerhand neben der Tür dunkellila. Vor dem Fenster stand unter einer zur Kugel getrimmten hochstämmigen Zimmerfeige ein altes Sofa mit dunkelrotem Samt bezogen, von dem Strahler, der der großen Pflanze ihr Licht gab, theatralisch ausgeleuchtet. Helen war die jüngere der beiden Schwestern, Edith Munroe die ältere, die, die ihr ganzes Erwachsenenleben hindurch dieses Geschäft geführt hatte, früher mit der Mutter, jetzt mit der jüngeren Schwester, derjenigen, die die alte Einrichtung mit neuen Farben aufgeheitert hatte. Und hier und da gab es eine Katzenfigur, in verschieden Größen, in verschiedenen Stellungen, aber alle aus Holz und bunt bemalt. So gänzlich bezugslos sollte der Name des Ladens offenbar auch unter Führung der gegenwärtigen Generation nicht bleiben.

Olivia rief noch einmal eine freundliche Begrüßung in die Leere des Ladens, London im August konnte mehr als still sein. Als sich weiterhin nichts rührte, zog sie ihre Stoffproben und Skizzen heraus und begann, sich nach der entsprechenden Wolle umzusehen. Sie kannte den Laden seit vielen Jahren, sie hatte nie mehr woanders Wolle gekauft, seit sie zum ersten Mal hier gewesen war. Seitdem kannte sie Edith Munroe. Helen war ein paar Jahre später nach London zurückgekommen und wohnte seit dem Tod der alten Mrs Munroe nun hier oben im Haus. Auch Helen Campbell kannte sie gut. Deshalb machte sie sich jetzt ohne viele Gedanken daran, nach der Wolle zu ihren Entwürfen zu suchen. Helen hatte spezielle schottische Garne eingeführt, leicht meliert und für manche afrikanischen Stoffe die perfekte Kombination. Irgendwann lagen die Knäule schottischer Garne auf den entsprechenden Stoffen, alle nebeneinander auf dem Tresen. Einen rotbraunen Farbton hätte Olivia noch gern, der ließ sich hoffentlich in den Katalogen finden.

Nichts hatte sich in der ganzen Zeit gerührt. Verwundert und zögernd öffnete sie nun doch die Tür zwischen dem Laden und den privaten Räumen und rief noch einmal eine freundliche Begrüßung. Sie ließ die Tür offen und legte die nächsten Stoffe und Entwürfe vor sich auf den Tresen. Jetzt ging es um dünnere, einfarbige Wolle zu feineren Stoffen. Olivia schwelgte in Möglichkeiten. Da sie das alles für den Afrika-Laden ihrer Freundin Wangari in St. John’s Wood aussuchte und deren hilfreiche Geister ihre Entwürfe stricken würden, waren diesem Schwelgen nur sehr vage Grenzen gesetzt. Häufig verkauften sich die übermütigsten Entwürfe als erste. Es gab so viele Möglichkeiten, wenn man sich nicht fragen musste, ob man selbst die Farbkombination tragen wollte, die einen gerade begeisterte. Sie musste zu einem der Stoffe passen, die Wangari aus Afrika mitgebracht hatte, das war die wichtigste Bedingung, zu Stoffen aus Kenia, Ghana und Nigeria, dieses Mal kamen die allerschönsten aus Benin. Wangari ließ Hosen, Röcke und Kleider schneidern und Pullover, Westen und Jacken nach Olivias Entwürfen stricken. Diese Zusammenarbeit war noch ziemlich neu, aber zu beider Begeisterung florierte sie.

Unweigerlich kam einmal der Punkt, an dem das Auswählen ein Ende hatte. Viele Gruppen verschiedener Wollknäule lagen auf den entsprechenden Stoffen, ein goldgelber Stoff aus Ghana hatte es Olivia besonders angetan, er lag ausgebreitet da mit einem halbdutzend möglicher Wollkombinationen. Sie atmete tief durch, während ihre Augen über die Farbenpracht glitten. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf, allmählich wirkte das alles leicht verwirrend. Dann trat sie zurück, ließ sich auf die große Truhe sinken und vorgebeugt Kopf und Arme hängen. Als sie den Kopf nach einer mittleren Weile wieder hob, fühlte sie sich entspannt und verwundert; sie war noch immer allein im Laden. Müßig glitt ihr Blick durch den Raum. Heute war offenbar eine Wolllieferung gekommen, halbvolle Kisten und Stöße von Kartons standen herum. Edith oder Helen hatte mit dem Auspacken begonnen, war aber davon abgekommen. Olivia sprang auf, wenn niemand kam, musste sie nun doch noch feststellen, ob neue Farben dabei waren. Damit fertig, drehte sie sich um sich selbst, blieb wieder mit dem Blick an der lila Truhe hängen und gab der Laune nach, den Deckel zu heben. Erschrocken sprang sie zurück, mit einem lauten Knall fiel die Truhe zu. In dieser Sommerstille empfand Olivia den Lärm wie eine Welle, die an ihr vorbeibrandete, ehe sie sich verlief. ›So, wenn jetzt niemand kommt‹, stellte sie fest, ›dann stimmt hier was nicht!

Es kam niemand. Entschlossen ging sie zur Truhe zurück und hob mit einem energischen Ruck den Deckel. Er ließ sich fixieren, so. Sie schaute hinunter und sah immer noch, was sie nicht glauben wollte: da lag eine große, tote Katze, eher ein Kater. Das Tier kam ihr riesig vor. Nach kurzem Überlegen ging Olivia als erstes zur Ladentür, schob die beiden Riegel vor, zog den unteren wieder auf und stellte fest, dass sie fröstelte. Sie drehte das Schild in der Tür auf ›Geschlossen‹. So. Sie schob den oberen Riegel noch einmal hin und her, er rutschte einwandfrei – man sollte sich niemals seinen Fluchtweg versperren. Warum aber überhaupt den Laden schließen? Eine weitere Kundin würde die Stille endlich unterbrechen… aber nicht mit der toten Katze… was spielte das für eine Rolle? Olivia blieb auf halbem Weg durch den Laden stehen. ›Ich drücke mich gerade davor, dieser unverständlichen Stille endlich auf den Grund zu gehen‹, gab sie sich zu, ›das geht so nicht, los!‹

Sie durchschritt die Tür zwischen Laden und Privaträumen, die sie vor Längerem offen gelassen hatte und stand im Treppenhaus, hier war es noch dunkler als im Laden, aber hinter dem Treppenhaus standen zwei Zimmertüren offen. Sie ging durch die gleich links liegende und stand in einer Art Arbeitszimmer, wie sie auf Grund des ausladenden Schreibtisches schloss. Der Raum war leer, die Tür zum Garten stand offen. Olivia rief nach Edith Munroe, bekam aber keine Antwort. Sie zog sich zurück, atmete tief durch und ging zur Tür am Ende des Flurs. Dahinter war die Küche, ebenfalls leer, und auch hier stand die Tür zum Garten offen. Und wieder keine Antwort auf ihren Ruf. Eine Küche war nicht ganz so privat wie ein Arbeitszimmer, fand sie; sie ging entschlossen hinein, auf die breite Tür zum Garten zu. Beide Flügel standen offen, Sommerduft strömte herein. Abrupt stürzte die Wahrnehmung der Schönheit in sich zusammen. Am Boden sah Olivia einen Kopf. Mit wenigen Schritten war sie um die Glastür herum, stieß den Weidensessel aus dem Weg und beugte sich über Edith Munroe. Sie war tot. Sie war so zweifelsfrei tot, dass man sie nicht einmal mehr anzufassen brauchte. Trotzdem sprang Olivia sofort auf, sauste zu ihrer Tasche im Laden, zog das Handy heraus und rief den Notarzt an. Er würde umgehend kommen. Auf das Klicken im Handy hin ließ sie den Arm sinken, ihr Blick glitt über die Stoffe und Knäule, die sie zusammengetragen hatte. Diese ganze Zeit über hatte Edith Munroe dort hinten gelegen. Vielleicht hätte sie sie retten können, wenn sie nicht so verdammt diskret gewesen wäre. Ein offener Laden ohne einen einzigen Menschen, der sich um ihn kümmert, war eigentlich unnatürlich genug, um Diskretion, zumindest nach einer Weile, zweitrangig werden zu lassen.

Sie schaute noch einmal auf die riesige rotbraune Katze hinunter und klappte den Truhendeckel zu. Mechanisch hob sie den Schal auf, der daneben lag, faltete ihn zusammen und hängte ihn über die Sofalehne. Nachdenklich ging sie in die Küche zurück und sah sich um. Öl und Essig standen auf dem Küchentisch, eine Trockentrommel für Salat, offen, nass innen mit Resten von Blättern, wahrscheinlich Feldsalat, ein Brett und Messer, ein Zweig Petersilie, ein Radicchio-Strunk, ein Laib Brot, von dem nur wenig fehlte. Sie ging hinaus und musterte den kleinen Esstisch. Hier hatten zwei Personen ihren Lunch eingenommen: zwei Gedecke, Kaffeebecher und Gläser, eine Flasche Granatapfelsaft und eine Karaffe mit Wasser, die fast leere Salatschale, ein schwitzendes Stück Käse und ein offenes Glas mit Chutney. Sie fühlte das Handy zwischen den Fingern und fast automatisch wählte sie Richards Nummer. Zum Glück hatte ihr alter Freund, der inzwischen Chief Inspector in der Mordabteilung von Scotland Yard war, erst in der zweiten Augusthälfte seinen Sommerfamilienurlaub. Er meldete sich sofort.

»Richard, hast du ganz kurz Zeit? – Danke«, sie gestattete sich einen erleichterten Seufzer. »Richard, ich stehe hier in meinem Wollladen in Chelsea zwischen der Leiche der Besitzerin und einer toten Katze. Ich glaube nicht, dass das alles mit rechten Dingen zugegangen ist.«

»Klingt zumindest überraschend. Wie heißt der Laden?«

»›Cat’s Rest.‹«

»Soll das ein Scherz sein?«

»Die tote Katze in der Truhe ist absurd! Zugegeben. Hör ganz kurz zu, bitte.« Sie schilderte ihm den äußeren Ablauf der letzten anderthalb Stunden, und beobachtete, wie die anhaltende Stille das eigentliche Ereignis wurde.

»Der Notarzt muss jeden Moment kommen«, schloss sie.

»Dann lass ihn seine Arbeit tun und bitte ihn, mich anzurufen, bevor er geht. Bis dahin mache ich hier meine Schreibtischarbeit weiter, in Ordnung?«

»In Ordnung, und danke.« Langsam ging Olivia zurück in den Laden und entriegelte die Tür, das Schild ließ sie unverändert hängen. Vor sich sah sie die Seite mit der einladenden Aufforderung, bitte einzutreten, eine reizende graue Katze sah den Betrachter an. Auf der anderen Seite des Schildes schlief die Katze, ›Geschlossen, tut mir leid‹, entschuldigte sie der Text neben ihr. Alles in diesem Laden war so freundlich. Wer hatte das mit der scheußlichen braunen langhaarigen toten Katze zerstört? Und warum? Und warum war Edith Munroe tot? Hatte die tote Katze sie zu Tode erschreckt? War sie zwischen den Kartons der neuen Lieferung hindurch davon gestürzt an die frische Luft und dort zusammengebrochen? Und wo war Helen? Die Antwort auf alle Fragen war die bewegungslose Stille dieses heißen Augusttages.

Eine Sirene näherte sich. Es war das erste Mal, dass dieser Ton Olivia erleichterte. Der Ton verstummte, sorgfältig wurde der Krankenwagen in die enge Gasse gesteuert. Da sprang schon ein Mann mit einer Tasche heraus und kam zu ihr gelaufen. Mit beiderseits knappen Begrüßungsfloskeln eilten sie zu der Toten. Zum zweiten Mal in ihrem Leben schaute Olivia zu, wie der Tod eines Menschen festgestellt wurde. In diesem Fall waren nur wenige Handgriffe nötig, dann richtete der Arzt sich wieder auf. »Hier kommt leider jede Hilfe zu spät. Ist die Tote eine Verwandte von Ihnen?«

Olivia erklärte die Situation. »Wie lange ist sie schon tot, Doktor?«

»Zwischen zwei und vier Stunden, eher kürzer als länger.« Er hockte sich wieder hin. »Sehen Sie, die Leichenstarre um die Augen hat schon eingesetzt, den Kiefer könnte ich noch ganz schließen. Es ist sehr warm, dann beginnt der Erstarrungsprozess schneller, andererseits liegt die Tote auf Kacheln im Schatten…« er stand wieder auf und sah Olivia wie abwartend an.

»Doktor, ich habe einen befreundeten Inspektor beim Yard, würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz mit ihm zu sprechen?«

»Nein, natürlich nicht. Von einem neuen Notfall wird mein Kollege draußen mich verständigen, bis dahin habe ich Zeit.«

Olivia sah in den Garten hinaus, während sie den Gesprächsteilen in ihrem Rücken zuhörte. »Chief Inspector Bates, hier Doktor Mortimer vom Royal Brompton Hospital. …Ja, ich stehe hier neben der Leiche einer etwa sechzigjährigen Frau… vermutlich Herzversagen, sicher sagen kann ich es nicht… nein, Mrs Lawrence erwähnte, dass die Tote mit zu niedrigem Blutdruck kämpfte, ich sehe eine fast leere Flasche Granatapfelsaft, keinen Alkohol… wenn Sie mich so direkt fragen: in den meisten Fällen finde ich Herztote in ihrem Sitzmöbel, sie fühlen sich schwach, lehnen sich eher zurück und sacken dann weg. Diese Frau ist aufgestanden, sie hat eine Hand am Kleidausschnitt, als fehle ihr Luft… ich kenne ihr Krankheitsbild nicht, das kann alles ganz natürlich so abgelaufen sein, aber ich weiß es nicht aus meinem minimalen Kenntnisstand heraus… ja, selbstverständlich, Chief Inspector, ich gebe das weiter. Und, Chief Inspector, ich schließe der Toten die Augen und den Mund, noch geht das, mehr Veränderungen nehme ich nicht vor.«

Es klickte kaum hörbar. In der neuen Stille drehte Olivia sich wieder Doktor Mortimer zu und nahm ihr Handy zurück. »Chief Inspector Bates bittet mich, Ihnen auszurichten, dass er kommen wird. Er weiß nicht genau, mit welchem Verkehrsmittel, dadurch kann er die Zeit nicht vorhersagen. Aber er ist auf dem Weg.« Mit ruhigen Bewegungen schloss Doktor Mortimer Edith Munroe die Augen und schob den Unterkiefer nach oben. Es war eine Geste des Respekts. Nach dem Aufstehen verweilte er einen ganz kurzen Moment, ehe er sich Olivia wieder zuwandte und eine Karte aus seiner Brusttasche zog: »Wenn Sie das Chief Inspector Bates bitte geben, dann kann er mich jederzeit erreichen.«

Olivia begleitete ihn zur Tür und schob, als sie hinter ihm die Tür sanft geschlossen hatte, entschlossen den oberen Riegel wieder vor, er war noch unter Augenhöhe über dem Türgriff angebracht, also wirklich schnell beiseite geschoben. Was nun? Vor allem: wo war Helen? Kälte kroch in ihre Glieder, zog durch die Knochen. Bevor sie sich ganz starr fühlte, rief sie sich wieder zur Ordnung und kommandierte sich in die oberen Stockwerke. Sie eilte die erste Treppe hinauf, schaute in die beiden Räume, niemand. Hinaus auf die umlaufende Balustrade und durchs Bad zurück. Schon war sie im 2. Stock. Dasselbe Spiel. Kein Menschen nirgendwo, keine tote Helen. Auch wenn sie nicht daran geglaubt hatte, war sie doch erleichtert, dass wirklich keine tote Helen da war. Es gab noch den Garten. Schon war sie wieder auf der Treppe und unten in der Küche. Etwas langsamer ging sie hinaus, an der Toten vorbei auf die kleine Rasenfläche. Sie sah unter die größeren Sträucher, hinter den Kompost und in den Gartenschuppen, alles menschenleer. Helen war einfach nicht da. Also war sie höchstwahrscheinlich sehr lebendig in London unterwegs, soweit alles gut. Olivia stand nun mitten auf dem Rasen, blickte um sich, am Haus mit den angebauten Holzbalustraden hinauf, die sie ein wenig an die Südstaaten drüben in den USA erinnerten. Allmählich beruhigte sie sich, ließ den Oberkörper vornüberfallen und die Arme hängen. Wenige Minuten später fühlte sie sich ausreichend entspannt, um sich zu fragen, was sie als nächstes machen könnte.

Allem Anschein nach hatte Edith Munroe die letzte Spanne Leben mit einer Besucherin zwischen der Küche und dem Sitzplatz draußen unter der Balustrade verbracht. Das war ja ein nettes Vorurteil, stellte sie über sich selbst empört fest: nur weil der Gast beim Salat-Zubereiten geholfen hatte, musste es noch keine Frau sein! Sie hatte sich Edith Munroe allerdings auch nie mit einem Mann zusammen vorgestellt, es passte nicht. Noch ein Vorurteil? Also: ob Mann oder Frau – was gab es zu sehen? Ausführlich musterte sie erneut den Küchentisch, die Spüle, die versprengt herumstehenden Stühle, es waren drei und zwei Hocker, alles wirkte völlig normal; wenn da draußen nicht eine Tote läge, würde sie keinen Gedanken an diese Details verschwenden. Doch da dem so war, fotografierte sie schließlich den Tisch im Besonderen und die Küche im Allgemeinen, auch den Tisch draußen und die Leiche zwischen den Gartenmöbeln, stellte den Weidensessel, den sie umgestoßen hatte, wieder an seinen Platz und grübelte.

Als erstes verwarf sie die These, die ihr beim Warten auf den Notarzt durch den Kopf geschossen war. Edith war nicht über die Katze erschrocken und daraufhin nach hinten gelaufen, denn die Tür zwischen Laden und Wohnhaus war geschlossen gewesen. Das tat niemand, der in Panik unterwegs war. Also war sie höchstwahrscheinlich von ihrem Sessel am Tisch aufgestanden und gleich darauf umgefallen, tot oder jedenfalls beinahe. Wo war die zweite Person zu diesem Zeitpunkt gewesen? War Helen diese zweite Person gewesen, die gleich nach dem Lunch zu einem Termin musste und der Schwester das Aufräumen überlassen hatte? Durchaus möglich. Oder es war ein Freund, eine Freundin von Edith, der oder die aus dem gleichen Grund einfach gegangen war… oder war die fragliche Person weggelaufen, als Edith zusammenbrach… in Schrecken oder Panik machen wir die unsinnigsten Sachen. Schließen wir dann auch Türen hinter uns wie die zwischen Wohnbereich und Laden? Schon möglich, Schrecken hinter geschlossenen Türen ist vielleicht eher gebannt. Oder die zwei hatten eine Meinungsverschiedenheit gehabt, der Gast war gegangen und Edith zusammengeklappt, als sie endlich aufstand… jedenfalls hatte er bei der Vorbereitung geholfen, es standen zwei Wassergläser zwischen den Salatresten auf dem Küchentisch.

Das Abendläuten von der nahen Kirche ließ sie im Grübeln innehalten, zu ihrer Überraschung lenkte der Glockenklang ihre Aufmerksamkeit auf den Frieden dieses kleinen verborgenen Gartens. Rosen blühten, flache Stauden in Blau, späte weiße Iris, Insekten schwirrten herum und Vögel huschten durch Ranken an der Mauer, die Kletterrosen am Haus summten vor Leben, kleinblättriger Sommerflieder wuchs in einen roten Japanischen Ahorn… sie horchte auf, eilte nach vorn, Richard stand schon vor der Tür!

»Donnerwetter! Bist du geflogen?«

Richard Bates grinste breit: »Fast, ein Kollege hat mich auf seinem Motorrad mitgenommen.« Da stand der Freund, deutlich größer als sie und genauso schlank, mit schmalem Gesicht und einem leicht kantigen Kinn, grünblauen Augen und braunen Haaren, die feucht am Kopf klebten genauso wie sein Hemd am Körper. Motorradschutzkleidung im August war entschieden zu heiß, stellte sie halbbewusst fest. Ihre Erleichterung war so groß, dass sie ihm allen Schweiß missachtend beinahe um den Hals gefallen wäre. Doch in der gegenwärtigen Lage hätte das äußerst unprofessionell ausgesehen. Also unterdrückte sie diesen Wunsch. Er bemerkte ihre Erleichterung trotzdem und verstand sie. »Du bist ganz allein in diesem Haus? Seit wann?«

»Seit wann… lange. Heute Vormittag war ich in der National Art Library, irgendwann nach zwei Uhr bin ich da weggegangen; auf dem kleinen dreieckigen Platz auf ungefähr halbem Weg zwischen dort und hier habe ich mich auf eine schattige Bank gesetzt, Skizzen gemacht und etwas gegessen, es sind viele Skizzen… Der Weg dauert zweimal knapp zehn Minuten, wenn man nicht trödelt wie ich heute… ich weiß es nicht sehr genau, irgendwann zwischen halb vier und vier bin ich wahrscheinlich hier angekommen.«

»Jetzt haben wir zehn nach sechs. Also bist du seit ungefähr zweieinhalb Stunden hier. Zeig mir bitte als erstes die Tote.«

Tiefes Mitleid erfüllte Olivia, als sie Richard zusah, wie er Edith Munroe genau musterte. Sie war so freundlich gewesen, so klug und entspannt. »Dieser zu niedrige Blutdruck – er hat ihr, glaube ich, keine großen Probleme gemacht. Die Kreislauftabletten wirkten sehr gut und abgesehen davon war sie gesund, soweit ich weiß.«

»Sie hat keine Luft mehr bekommen, das hat sie zutiefst erschreckt, siehst du den Gesichtsausdruck und die Hand am Ausschnitt? Offenbar ist sie in ihrem Entsetzen aufgesprungen und umgefallen. Und dann war es auch schon vorbei. – Wo ist die Katze?« Und wieder ging es zurück in den Laden.

»Das ist ja mal ein eindrucksvoller Brocken!« Richard zog einen Einweghandschuh aus der Hosentasche und drückte an verschiedenen Stellen auf den Katzenkörper. »Steinhart. Sie war schon völlig steif, als sie hier hineingelegt wurde. Siehst du, hier – die Pfoten wären sonst nach unten gesunken.« Er tastete weiter. »Auch hier unter dem Hinterteil ist ein größerer Hohlraum von mehr als einer Handbreit Tiefe. Die Truhe ist groß und nicht voll, die Katze hat einfach hineingepasst. Aber sie ist weder darin gestorben noch erstarrt. Also hat sie jemand eine ganze Weile nach ihrem Tod hier deponiert. Humm, aus Freundschaft macht man so etwas jedenfalls nicht. Warum aber überhaupt? Eine Ahnung, wem dieses Tier gehört hat?« Olivia schüttelte schweigend den Kopf.

»Du hast gesagt, Edith Munroe lebte hier mit ihrer Schwester Helen Campbell. Mrs Campbell ist nicht zuhause, richtig? – Gut.« Richard sah sich weiter um: »Diese Stoffe und Wollknäule auf den Tresen sind dein Werk, nehme ich an?«

»Ja, ich arbeite gerade für Wangari, Urlaub von meinem Schreibtisch sozusagen. Es hat wieder Spaß gemacht, deswegen störte es mich auch nicht, dass ich allein blieb. Aber es war nicht gut, dass ich die Situation einfach hingenommen habe. Vielleicht hätte ich Edith das Leben retten können, wenn der Notarzt früher gekommen wäre.«

»Wir wissen es nicht. Wenn ihre Schwester zuhause gewesen wäre, wäre es vielleicht auch nicht passiert… das Leben folgt seinem eigenen Rhythmus. Ich möchte mich im Haus umschauen, kommst du mit?« Richard sicherte jetzt seinerseits die Ladentür, bevor er die Treppe hinaufstieg. Sie war schmal, denn an der Wand entlang bis kurz über Kopfhöhe war Wolle gestapelt, das ganze Treppenhaus hinauf bis in den zweiten Stock einschließlich der Flure, von denen die Türen abgingen. Richard ging mit einem flüchtigen Blick durch alle Räume im ersten Stock und weiter bis zu dem kleinen Toilettenraum hinter dem Bad oben im zweiten Stock. Jetzt begann er, sich in Ruhe umzuschauen ohne etwas zu berühren, im Bad, dann in den beiden Wohnräumen. »Welche Schwester wohnt deiner Einschätzung nach in diesen beiden Zimmern?«

Der Wohnraum ging zur Straße hinaus, das Schlafzimmer nach hinten, beides war weißgestrichen und mit dunklen Möbeln eingerichtet, sparsam, aber doch wohnlich. Keine Zimmerpflanzen. Ein kleines Bücherregal, an den Wänden Bilder, das Format groß, leuchtend die Farben. Alle zeigten Stadtlandschaften in einfachen klaren Formen, aber fast jedes einzelne Feld war in sich noch einmal gemustert. Die Formen waren so angeordnet worden, dass das Auge unweigerlich zu einem Punkt sehr weit hinten gezogen wurde, beinahe hinter das Bild, dachte Olivia. Wenn die Bilder am Boden lägen, würde man vielleicht hineinspringen wollen wie in die Bilder des Pflastermalers in ›Mary Poppins‹.

»Hier hat, glaube ich, Edith gewohnt… diesen Maler mochte sie offenbar besonders. Ich denke jedenfalls, dass alle Bilder von demselben Künstler sind. Vielleicht ein Freund aus früheren Zeiten, heute malt man eher anders.«

»›VC‹ – immer dieselben Buchstaben«, teilte Richard mit. »Mrs Munroe sah abends eher fern oder hörte Musik, dürfen wir aus den Geräten schließen. Ihre Plattensammlung und Filme sind staubsicher hinter diesen Schranktüren, nehme ich an. Es ist mir von Rechts wegen nicht erlaubt, sie zu öffnen, also lasse ich es im Moment auch lieber. – Komm, wir gucken uns in Mrs Campbells Räumen um, bevor sie zurückkommt.«

Im Stockwerk darunter war alles vollkommen anders. Es begann damit, dass die Räume untereinander verbunden waren, einschließlich des Badezimmers. Helen hatte ihre Wände farbig gestrichen: das Zimmer zur Straße in einem dunklen warmen blaugrau, den Raum zur Balustrade in einem hellen blaugrau, die Fensterfronten beider Räume und der Durchbruch strahlten in einem stillen Lindgrün, dass sich in sehr hellem Ton unter der Decke wiederholte. Die Möbel schienen zusammengesucht und alt zu sein, in den verschiedensten Farben ihrer Umgebung anempfunden. Beide Räume waren Wohnräume, auch wenn im vorderen ein Bett stand. Und überall war Wolle, lagen Muster, gestrickt, gezeichnet, Bücherstöße und Wollkataloge. Neben der offenen Tür auf den Balkon hinaus stand eine Strickmaschine, ein auberginefarbenes Teil war in Arbeit. Und zwischen all dem standen Zimmerpflanzen, der Blick auf den Balkon hinaus war wie der Blick in einen Garten – Pflanzen überall. »Dies muss Helen Campbells Reich sein«, entschied Olivia, »jetzt verstehe ich auch, warum sie so wenig im Laden ist.«

Richard nickte zustimmend, er hatte sich um anderes gekümmert. »Ich denke, es sieht nicht nach einem überstürzten Aufbruch aus. Sie ist einfach gegangen, um nachher weiterzuarbeiten. Mehr steht uns im Moment nicht zu, festzustellen.« Sie gingen wieder hinunter. Helen Campbell kam noch immer nicht.

Vor dem Küchentisch stehend zog Richard sein Handy aus der Tasche und bestellte ein Team zur Tatortsicherung. »Du hältst also Mord für möglich?« erkundigte Olivia sich anschließend.

»Ich halte es für möglich, ja.« Sie waren wieder durch die Küche hinausgegangen. »Der Gesichtsausdruck der Toten und die Hand am Ausschnitt können auf eine Vergiftung deuten, die Ersticken hervorruft«, fuhr Richard fort, »sie können natürlich auch die Folge einer Krankheit sein, von der wir nichts wissen. Da wird uns der Hausarzt weiterhelfen. Außerdem will ich wissen, woran die Katze drüben in der Truhe gestorben ist. Ihr Kadaver ist mir zu viel des Zufalls.«

Mit den Händen in den Hosentaschen musterte er die Reste auf dem Gartentisch. »Das alles sieht völlig normal aus.« Er warf einen sorgfältigen Blick auf den Küchentisch und blieb schließlich in der offenen Tür stehen, beide Tische im Blick. »Aber es ist nicht normal. Schau dir den Küchentisch an: Zwei Personen haben dort den Lunch vorbereitet. Sie haben das Notwendige hinausgetragen und alles andere stehen und liegen lassen. Das spricht für einen Gast. Wären es die beiden Schwestern gewesen, hätte eine zumindest die Salatabfälle aufgeräumt, während die andere die Schale und das übrige hinaustrug. Das schließe ich aus der ansonsten sehr ordentlichen Küche und den Augusttemperaturen. Bei dieser Hitze beseitigt ein ordentlicher Mensch die Essensreste. Gut. Wenn nun ein Gast aufbricht, zumal wenn er wie hier bei den Vorbereitungen zur Mahlzeit mithilft, ist das Verhältnis normalerweise so, dass man ihn zur Tür begleitet, das heißt hier: zur Ladentür. Käme Edith Munroe nun zurück, würde sie als erstes, vermutlich völlig mechanisch, die Reste hineintragen. So war es aber nicht, sie setzte sich in ihren Sessel. Unter welchen Umständen ist das plausibel?«

»Sie fühlte sich nicht gut.«

»Hätte sie dann nicht den Sessel gleich hier bei der offenen Tür genommen, statt um den Türflügel herum zu ihrem Sessel am Tisch zu gehen?«

Olivia überlegte sich die Situation: »Wahrscheinlich hätte sie das, noch wahrscheinlicher wäre sie in der Küche auf einen Stuhl gesunken, es ist drinnen kühler, das ist angenehm, wenn einem nicht gut ist.«

»Stimmt.«

»Sie blieb demnach sitzen, als ihr Gast aufbrach, weil sie sich bereits nicht gut fühlte.« Olivia wurde beklommen bei der Vorstellung.

»Oder sie war schon tot«, stellte Richard sachlich fest. »In dem Fall sind zwei Rückschlüsse möglich: Der Gast floh in panischem Entsetzen. Dagegen spricht sein Sessel hier am Gartentisch, er steht zu nah und gerade am Tisch. So sieht das nicht aus, wenn jemand in Panik aufspringt. Zu der korrekten Position des Sessels passt die geschlossene Verbindungstür zwischen Wohnbereich und Geschäft. Ein derart geordneter Abgang angesichts einer toten Gastgeberin – lass es mich so neutral wie möglich ausdrücken – erinnert mich wieder daran, dass ich Mord nicht ausschließen will. Man kann aber auch sagen: Der Mörder oder die Mörderin verdrückte sich so unauffällig wie möglich, als das Ziel erreicht war.«

»Dachte er oder sie jedenfalls.«

»Mit dem Denken probieren wir es alle«, er grinste, »im Laufe der Ermittlungen entdeckt man fast immer noch mehr Möglichkeiten. Ich glaube, ich höre Motorengeräusche, vielleicht sind meine Leute schon da. Inzwischen ist es relativ leer auf Londons sommerlichen Straßen.« Er ging mit ausgreifenden Schritten durchs Haus, das ihm vertraut zu werden begann, und entriegelte die Tür zur Straße. Einige Männer luden gerade ihr Gerät aus. Im Verhältnis zu Stativ und Kamera war ein Arztkoffer eine handliche Sache, genauso wie der Behälter für die Sicherung von Fingerabdrücken. Olivia sah dem allen durch die große Fensterscheibe interessiert zu, bis sie Helen Campbell erblickte. In einem schmalen, langen Baumwollkleid in hellem Lindgrün, die noch immer dunklen Haare hochgesteckt, stand sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Empörung im Gesicht unbeweglich, wie festgewachsen, einige Meter von dem Polizeiwagen entfernt. Sie musste durch den Fußgängerdurchgang von der Old Church Street her gekommen sein. Es war neunzehn Uhr dreißig.

Olivia beobachtete sie einige Atemzüge lang. Als sie erkannte, dass die Frau völlig erstarrt war, passte sie eine Pause in dem Hin und Her durch die Ladentür ab und eilte hinaus. Helen hörte ihre Begrüßung nicht, nahm sie selbst auch nicht wahr, bis Olivia schließlich sanft eine Hand auf Helens Arm legte, während sie sie zum wiederholten Male anrief. Unter der menschlichen Nähe löste sich die Erstarrung, die Augen nahmen Olivia auf und damit verschwand der Rest Empörung aus Helens Blick und blankes Entsetzen blieb zurück. »Was ist geschehen?« fragte sie tonlos.

»Wir wissen es noch nicht. Bitte, kommen Sie herein.« Mitfühlend nahm Olivia ihr die Einkaufstasche ab, führte sie in den kühlen Laden und drückte sie ebenso behutsam wie entschlossen auf das rote Samtsofa. Sie setzte sich daneben. Inzwischen war es hier vollkommen ruhig, die Leute vom Yard waren mit dem Tatort beschäftigt.

Irgendwann begannen Helens Augen ihre Umgebung wieder aufzunehmen. »Warum steht die Truhe offen?« wollte sie wissen, ohne den Blick davon abzuwenden.

»Darin liegt eine riesige, tote Katze.«

»Aha. – Wo ist Edith?«

»Edith ist hinten im Garten, sie ist tot.«

»Tot…«

»Ja, wir wissen die Ursache noch nicht. – Mein Freund Richard Bates kümmert sich darum. Deshalb auch die vielen Leute.«

Lange schwieg Helen. Bis ein Schauer ihren ganzen Körper erschütterte. Sie raffte sich zusammen und sah nun Olivia wirklich an. »Die vielen Leute… was macht ihr Freund?«

»Er ist Chief Inspector bei Scotland Yard.« Olivia holte tief Luft. »Wir sind nicht sicher, ob Edith eines natürlichen Todes gestorben ist.«

Helen schüttelte langsam den Kopf: »Für einen normalen Tod gibt es wenig Grund. Sie war gerade munter dabei, die neue Lieferung auszupacken, als ich wegging. Und sie hatte dazu Ruhe genug, im August kauft kaum jemand Wolle.« Ihr Blick glitt über die Tresen, über die Stoffe und Wollknäule. »Außer Ihnen, das waren vermutlich Sie?«

»Ja, ich war so frei, mich selber zu bedienen, als niemand kam. Ich war ganz sicher, dass Sie damit einverstanden sein würden.«

»Natürlich«, antwortete Helen mechanisch. Sie wollte aufstehen, doch Olivia hielt sie davon ab.

»Bleiben wir hier. Da hinten sind wir der Spurensicherung nur im Weg. Nachher können Sie Edith sicher sehen. Was haben Sie heute gemacht?«

Lange sah Helen in die dunklen braunen Augen neben sich, dann glitt ihr Blick wieder über die Wolle und Stoffe auf den Tresen. »Ich war in Kew Gardens. Im Moment finde ich das Licht in den schattigen Teilen dort zusammen mit den Blättern mehrerer Pflanzen besonders ungewöhnlich. Ich studiere die Farbwirkungen und versuche, neue Muster für meine Arbeit zu finden. Die Natur bringt mich immer wieder auf völlig neue Farbkombinationen und da es natürliche Farben sind, kann man sie auch immer irgendwie herstellen. – Ich war in der letzten Woche schon einmal dort«, ergänzte sie, jetzt wieder völlig mechanisch.

Die beiden Frauen saßen still nebeneinander. Die Geräusche aus Küche und Garten drangen zu ihnen wie Signale aus einer anderen Welt, die sie nichts angingen. Und doch würden sie Helen helfen, nach und nach die veränderte Wirklichkeit zumindest soweit an sich heranzulassen, dass sie imstande sein würde, sich Richards Fragen zu stellen. Diesen vorbereitenden Moment der Ruhe konnte Olivia ihr noch verschaffen.

Es dauerte nicht mehr allzu lange, bis Richard im Türrahmen erschien. Sein Hemd war wieder getrocknet und die Haare frisch gekämmt. Er machte sich mit Helen Campbell bekannt und fasste die dramatische Lage in wenigen ruhigen Sätzen zusammen. Gemeinsam gingen sie nach hinten. Olivia schloss sich ihnen nicht an, es waren auch ohne sie mehr als genug fremde Menschen dort um die Wege, wenn sie bedachte, was Helen sehen würde. Sie machte sich ihre eigenen Gedanken. Gerade als sie bei der Ansicht angelangt war, dass Helen über Nacht nicht allein bleiben sollte, wurde ein schmaler Metallsarg an ihr vorbeigetragen. Sie stand auf, als wollte sie der Toten ihre Ehre erweisen. Bald genug war der Sarg aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie seufzte leise und traurig und folgte dann doch Helen und Richard in den Garten.

Sie standen mitten auf dem Rasen, der um diese Tageszeit im Schatten lag. Die Temperatur war angenehm geworden. Helen Campbell hatte gerade von ihrem Besuch in Kew Gardens berichtet, jetzt fragte Richard nach genauen Einzelheiten. Sie war gegen halb zwölf Uhr von Zuhause weggegangen und mit dem Bus nach Kew gefahren; davor war sie in einem Geschäft für Wohnungseinrichtung in der King’s Road gewesen. Wann sie in Kew angekommen war, wusste sie nicht. Gegen sechs Uhr abends, das wusste sie, hatte sie sich auf den Rückweg gemacht, war am Carlyle Square ausgestiegen und hatte in der King’s Road einige Einkäufe gemacht, vor allem für das Essen der nächsten Tage. Dann war sie nach Hause gekommen.

Zaghaft sah Helen zum Haus. Als sie erkannte, dass die Leute vom Yard den äußeren Teil geräumt hatten, bat sie, sich setzen zu dürfen. Richard gruppierte drei Sessel im Halbrund mit Blick auf den Garten. »Erwartete Ihre Schwester Besuch zum Lunch?« fuhr er fort.

»Nein, ich denke nicht, das hätte sie mir erzählt. Wir hatten auch keinen Feldsalat im Haus«, stellte sie mit dieser gerade wieder ins mechanische abgleitenden Stimme fest, »und keinen Granatapfelsaft, den haben wir nie.«

»Alle anderen Sachen waren da?«

»Das weiß ich nicht, ich habe nicht genau geschaut, aber die zwei Sachen hatten wir sicher nicht.«

»Welcher von Ediths Freunden oder Freundinnen fällt Ihnen ein, der spontan zu einem Lunch vorbeikommen und gemeinsam mit ihrer Schwester in der Küche sitzen und Salat rupfen würde?«

»Ich weiß es wirklich nicht.« In die mechanische Sprechweise mischte sich Verzweiflung. Wieder ging ein Zucken durch Helens Körper, Olivia beobachtete diese Schockreaktionen mit wachsender Anspannung. »Was wollen Sie mit ihrer Frage? Denken Sie, derjenige, der zum Lunch diese Dinge mitbrachte, ist für Ediths Tod verantwortlich? Glauben Sie das? Und dann wollen Sie von mir wissen, wer das gewesen sein könnte? Das wagen Sie, so direkt zu fragen?« Die wie mechanisch wirkende Starre war wieder abgefallen, empört sah sie Richard an.

»Mrs Campbell, gegenwärtig wissen wir noch nicht einmal sicher, warum Ihre Schwester gestorben ist. Vielleicht ist der Tod ganz natürlich vor sich gegangen. Doch da wir nun einmal hier beisammen sind und es Grund dafür gibt, sich Fragen zu stellen, stelle ich sie. Ich interessiere mich für Fakten, nicht für Schlüsse daraus, das kann ich auch noch gar nicht.«

Helen zitterte unter einem langen Seufzer und zog sich wieder in sich zurück. Richard wartete. Da sie keine weiteren Reaktionen zeigte, störte er sie nach kurzer Pause wieder auf. »Ich bitte Sie noch einmal um Antwort: Welche Freundinnen kommen manchmal zum Lunch vorbei? Wir wenden uns nur an sie, wenn es nötig ist, verstehen Sie? Doch wenn es nötig ist, könnten wir dann ohne Verzug mit unserer Arbeit beginnen. Also – wer fällt Ihnen ein?«

Helens Blick belebte sich schließlich, blieb aber auf den Garten gerichtet: »Eigentlich niemand. Unsere Freunde arbeiten alle, wissen Sie. Sollte jemand von ihnen um die Mittagszeit in der Nähe sein, würde er vielleicht kommen, aber er – oder sie, um polizeipräzise zu sein, – würde fertige Sandwiches oder so etwas mitbringen, Edith würde einen Kaffee kochen und schon säße man draußen und unterhielte sich. Ich verstehe das alles nicht.«

»Das wäre auch zu viel verlangt«, schaltete Olivia sich ein. »Helen, Sie sollten heute Nacht nicht allein in diesem Haus bleiben. Wen könnten wir anrufen und bitten, für eine Nacht hierher zu kommen? Mit wem würden Sie gerne reden?«

»Marian – meine Tochter – aber sie ist nicht in London…« Es folgte nur ein Schauder.

»Wenn Ihre Tochter im Moment nicht in der Stadt ist, gibt es vielleicht eine Freundin?«

»Marilyn. Sie wohnt nicht weit weg, auf der anderen Seite der King’s Road.«

»Und sie ist in London?«

»Ja, ist sie.« Mechanisch wandte Helen sich Olivia zu. Unter dem ruhigen Blick, der versuchte, ihr Mut zuzusprechen, raffte sie sich erneut zusammen. »Auf Ediths Schreibtisch steht das Telefon, sie heißt Marilyn Fleming. Würden Sie sie anrufen? – Danke.«

Als Olivia im Arbeitszimmer telefonierte, erhob Richard sich. Er akzeptierte, dass Helen ihm heute nichts mehr sagen konnte, bis auf eine letzte Frage: »Würden Sie so freundlich sein und im Laden einen Blick auf die Katze werfen? Vielleicht haben Sie sie schon einmal gesehen.« Er ging voran.

Schaudernd starrte Helen auf das große Tier: »Wie grässlich! Ich habe sie gelegentlich hier in den Straßen gesehen – aber ich weiß nicht, wem sie gehört. Können Sie sie bitte mitnehmen!« Richard konnte, die Spurensicherung war noch nicht abgefahren. Sie steckten das Tier in eine große Folie, untersuchten den Truheninhalt, der jetzt frei lag, und gingen endlich. Schweigend hatte Helen dem zugesehen. Sie wirkte erleichtert, als die Männer und die Katze verschwunden waren. Auch Richard verabschiedete sich, Olivia wollte bleiben, bis Marilyn kam.

»Helen, wäre es möglich, dass wir diese Knäule aufschreiben und ich sie dann mitnehme?« startete Olivia einen Versuch zurück zur Routine.

»Ja, sicher.« Ruhig und selbstverständlich nahm Helen Papier und Stift und tat, was sie immer in dieser Situation tat. Aber sie achtete nicht auf die Farbauswahl und machte keine eigenen Vorschläge. Als alles erledigt war, blieben sie an die Tresen gelehnt stehen.

»Mögen Sie mir von Marilyn erzählen? Wie lange kennen Sie einander schon?«

Ein Seufzer verlor sich in der Stille, bevor Helen antwortete: »Ewigkeiten. Jahrzehnte, um etwas präziser zu sein. Wir haben uns in Saint Martin’s kennengelernt, auf der Mode- und Designschule, vielleicht haben Sie davon gehört? Sicher, sie ist ja berühmt genug. Wir waren derselbe Jahrgang.«

»Und wann war das?«

»In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, der wilden, aufregenden Sechziger, die hier in Chelsea, in der King’s Road am allerspannendsten waren. Manchmal fast zu spannend…«

»Gibt es das? Zu spannend, wenn man jung ist?«

»Gerade wenn man jung ist, glaube ich.« Helen sah Olivias fragenden Blick und nickte: »Meiner Einsicht nach gibt es zwei Hauptwege, kreativ zu sein, und das sollte man ja wohl zu sein versuchen, wenn man sich hauptberuflich mit dem Entwerfen von Mode beschäftigt: Entweder bemüht man sich, so eng wie möglich am Zeitgeschmack zu liegen und ihn weiterzuentwickeln, oder man versucht, herauszufinden, wer man ist und was man besonders gut kann, um daraus neue Ideen zu entwickeln. Ich versuchte beides, Marilyn auf ihre Weise auch. Wir waren stark und neugierig und aktiv und wir kamen dennoch ständig an unsere Grenzen, rein physisch. Selbst mit zwanzig gibt es Erschöpfungszustände, die einen ganz hohl sein lassen. Ich erinnere mich an ein Wochenende am Meer, wo ich mich wunderte, dass der Wind mich nicht einfach davon blies. Sehr seltsam.«

»Aber Sie haben durchgehalten?«

»Ja, ich habe durchgehalten, Marilyn auch, viele, aber bei weitem nicht alle. Manchmal denke ich rückblickend, diese Jahre waren vor allem ein Stresstraining. Wer am widerstandsfähigsten ist, kommt am weitesten; oder wer beizeiten eine Nische findet, auf die er sich konzentriert. Wenn der Bereich schmal genug ist, den man beackert, geht es auch wieder. Es darf dann allerdings kein Sinneswandel der Mode diesen Bereich abwerfen. Ohne Risiko geht es eben nicht.« Nachdenklich verloren sich ihre Augen in Olivias braunen Augen. »Und so etwas wie Sicherheit ist überhaupt ein sehr vorübergehender Zustand«, grübelte sie.

»Haben Sie noch mehr Freunde aus dieser Zeit?«

Wachsamkeit zeigte sich kurz in Helens Miene, verschwand rasch wieder; sich der Vergangenheit zuzuwenden, tat ihr offenbar gut. »Nein, keine Freunde. Bekannte. Viele der Leute sieht man hier und da oder hört von ihnen, von den meisten weiß ich ungefähr, was sie machen, manchmal trifft man sich auf einen Drink, das geht in der King’s Road noch immer, wir treffen uns gern dort. Leila gibt es noch, Leila Man, sie ist eine Freundin von Edith, sie ging die letzten zwei Jahre in dieselbe Schule wie Edith, danach studierte Leila am Saint Martin’s. Sie war im letzten Jahrgang, als ich anfing. Wir liefen uns dort manchmal über den Weg, aber meistens sah ich sie hier.«

»Und sie ist noch immer mit Edith befreundet?«

»Ja, noch immer, wenn auch keine Busenfreundin. Dazu sind ihre Leben zu verschieden gelaufen, denke ich. Leila leitet heute die Abteilung für Damenmode bei Selfridges, sehen Sie, das ist eine andere Liga, als ein Wollladen in einer stillen Straße im unteren Chelsea. Aber beide bezeichnen sich noch immer als Freundinnen… telefonieren und so weiter… Edith… kauft… kaufte ihre Kleider bei Selfridges…« Helen verstummte.

Es schien, als sei sie endgültig verstummt. Olivia war zutiefst erleichtert, als die Ladentür aufgestoßen wurde und eine mollige Frau gleichsam wie eine Böe vom nahen Fluss Cat’s Rest stürmte und Helen umstandslos in die Arme schloss. Es fiel kein Wort, doch Helen gab der Umarmung langsam nach, ihr Kopf sank auf die Schulter der Freundin und schließlich schlossen sich ihre Arme um den runden Leib. Dies tröstliche Bild vor Augen verließ Olivia leise den Schauplatz.

Cat's Rest

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