Читать книгу Schatten über Fehmarn - Gerda M. Neumann - Страница 13
ОглавлениеKapitel 6
Der nächste Tag war ein Sonntag und vollkommen informationsfrei. Olivia bekämpfte ihre aufkeimende Unrast, indem sie die Arbeit für einen Text über Alexander Hyde für ihre Essayreihe in der Süddeutschen Zeitung begann und dazu Amanda in ein langes Gespräch über ihren Freund, seine Kunst und die zugehörige Szene in London verwickelte. Sie hätte den Verschwundenen wirklich gerne kennengelernt. Endlich, der Tag war schon ziemlich fortgeschritten, unternahmen sie einen langen Spaziergang unter der Steilküste hinter Katharinenhof. Der Himmel war noch immer blau, die Luft sehr weich und das Meeresmurmeln wurde nur vom Knirschen ihrer Sohlen auf Sand und Steinen übertönt.
»Sag mal, Alexander wird doch nicht nur an dieser Skulptur gearbeitet haben, einen ganzen Sommer lang. Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist er zuallererst Maler. Da ist es doch wahrscheinlich, dass es hier auf Fehmarn Bilder von ihm gibt, oder nicht? Die würde ich wirklich gern sehen. Los, lass uns Picard überfallen und ihn fragen!«
»Weißt du denn, wo er wohnt?«
Olivia blieb abrupt stehen: »Nein! Ist das zu fassen!« Sie sah Amanda an: »Am Telefon kann er zwar ›nein‹ sagen… aber warum sollte er das tun… Magst du ihn anrufen und dir von ihm den Weg erklären lassen?«
Automatisch griff Amanda in die Tasche ihrer Barbourjacke. Leer zog sie sie wieder heraus: »Wie kann das sein, mein Telefon ist weg!« Erleichternd schnell erinnerte sie sich, dass es in der Ferienwohnung lag, beiseite gelegt wie zu Hause das Festnetzgerät.
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Olivia verfolgte schon den nächsten Gedanken: »Immerhin haben wir eine vage Erinnerung, wo die Kienhardts wohnen. Mit Hilfe der Karte werden wir sie wohl finden.«
Amanda seufzte: »Ein Überfall auf Felix Picard wäre mir wirklich lieber, aber da ist nun keine Hilfe!«
Und wieder rollte der Wagen über das flache Land. »Eigentlich könnte Picard uns hier umherirren sehen und eine Signalflagge aus dem Fenster hängen,« schlug Amanda vor.
Olivia lachte: »Ich verwahre mich gegen das Wort ›umherirren‹.« Energisch drückte sie ihren Finger auf die Karte: »Wir sind hier, kurz vor Meeschendorf, von da wollen wir nach Staberdorf, das wird ja wohl ausgeschildert sein, und hinter Staberdorf halten wir die Augen offen nach dem Schild ›Verboten is‹, da wollen wir dann hinein. Und was Felix Picard betrifft, kann ich ihn mir gar nicht als Fenstergucker vorstellen.«
Sie fanden das Verbotsschild und bogen unter fröhlicher Missachtung desselben in die gesperrte Straße ein. Hinter dem Hofgitter schaltete Amanda rücksichtsvoll in den ersten Gang. Doch machte das ihren Wagen natürlich nicht unsichtbar und sie sah im Rückspiegel, wie sich die Tür des Gutshauses öffnete und eine Gestalt drohend den Arm hinter ihnen her schwenkte. Ungerührt und unverändert langsam rollte sie weiter und bog um die Ecke der Scheune.
»Fehmaraner Gastfreundschaft. Ein Gefühl im Magen sagt mir, dass die Kienhardts unser Auftauchen auch nicht begeisternd finden werden.«
»Unwichtig!« erklärte Olivia. »Schließlich sind wir nicht zum Spaß hier.« Sie läutete.
Es brauchte eine Weile, bis Juro Kienhardt öffnete: »Ja…«
»Guten Tag!« grüßte Olivia ihn freundlich. »Sie erinnern sich an uns? In den letzten Tagen haben wir so viel über Alexander geredet, dass ich gar zu gerne Bilder von ihm sehen würde. Da kam mir der Gedanke, dass es hier auf Fehmarn doch sicher einige geben wird. Die würde ich gern anschauen.«
»Meine Agnes ist nicht da. Ich kann Ihnen deshalb nicht helfen.« Kein Muskel rührte sich an dem Sprecher. Verblüfft musterte Olivia ihn: die schmalen Augen mit einem ganzen Fächer von Falten, als blinzele er ständig gegen die Sonne, eine scharfe Nase, Lippen wie nach innen gezogen unter einem kleinen Schnauzbart. Würde nicht die hohe Stirn Großzügigkeit in dieses Gesicht bringen, wäre sie jetzt geneigt, ihn für einen Troll zu halten.
»Schade… Aber Sie können uns doch sicher sagen, wo wir Felix Picard finden.«
Es regte sich weiterhin kein Muskel an Juro. Als Olivia gerade überlegte, ob er sie schon wieder vergessen haben konnte, sprach er. Picard wohnte, von ihrem jetzigen Standort aus gesehen, am Ortseingang von Staberdorf. Der Dachaufbau machte dass Haus unverwechselbar. Es klang ziemlich einfach. Olivia bedankte sich, Amanda neigte leicht den Kopf und Juro Kienhardt schloss die Tür, bevor sie sich noch zum Gehen gewandt hatten.
»Hat man Töne!« Dieser Ausruf entfuhr Amanda allerdings erst, als sie die Autotür hinter sich zugeschlagen hatte. »Dieser Gnom! Ich mochte ihn schon gestern nicht.«
»Meine Assoziationen waren noch unfreundlicher,« Olivia kniff die Augen zusammen, »mir kam er wie ein Troll vor, einer von der großen, hintergründigen Sorte, der Mann dürfte mindestens eins neunzig groß sein.« Auf der Karte fanden sie Auskunft darüber, dass es einen zweiten Weg zur offiziellen Straße zurück gab; sie mussten den Gutsbesitzer nicht noch einmal ärgern.
»Wenn wir noch eine kleine Weile hier bleiben, werden wir alle auf der Karte verzeichneten Straßen und Wege einmal gefahren sein,« teilte Olivia mit, »ziemlich kurios, nicht wahr?«
»Eine Insel ist eben eine Insel.« Diese Feststellung war unangreifbar.
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Felix Picard begrüßte das englische Überfallkommando auf seine bedächtige Weise wie alte Freunde. »Gerade überlegte ich, ob Sie wohl heute Abend mit mir irgendwohin zum Essen gehen würden. Dieses Warten ohne Nachrichten ist doch sehr ärgerlich. Und es ist alles andere als gastfreundlich, Sie dabei auch noch sich selbst zu überlassen.« Während er sie einließ, grüßte er zur Straße hinüber.
Olivia fing das Bild eines Radfahrers mit Schirmmütze ein. »Einen interessanten Anhänger hat dieses Rad,« stellte sie fest.
Picard hielt den Türgriff tatenlos fest: »Selbstgebastelt aus Bauholz, nicht sehr groß, aber sehr stabil.« Als Olivia ihm weiter nachschaute, ergänzte er: »Rußke wohnt zwei- oder dreihundert Meter den Weg hinunter, er ist passionierter Umweltschützer und macht fast alles mit dem Fahrrad, sogar seine Einkäufe in Burg. Da er genauso wenig redet wie ich, verstehen wir uns recht gut.«
»Fährt er immer mit diesem Anhänger herum?«
Verwundert sah Picard sie an: »Warum nicht? Er ist übrigens Biologielehrer am Inselgymnasium in Burg.«
Olivia starrte gedankenverloren hinter dem verschwundenen Radfahrer her: »Eine merkwürdige Erscheinung…«
»…und eine Inselinstitution. Vor Jahren allerdings fanden ihn sogar die Fehmaraner vorübergehend merkwürdig…«
»Warum?«
»Damals gingen beim hiesigen Tageblatt Leserbriefe ein, in verschiedenen Abständen, in verschiedenen Schriften, Absender unbekannt. Sie forderten kontrollierte Beweidung zur Erhaltung kurzrasiger Pflanzenarten, vor allem auf den Deichen; Ausweitung der Vogelschutzgebiete drüben in Wallnau, weil die Zahl der Besucher zu stark angestiegen sei; und überhaupt Begrenzung der Bettenzahlen und Stopp für neues Bauland. Alles Maßnahmen zum Schutz der Insel. Man druckte die Briefe ab.«
»Und weiter?«
Irritiert sah Picard Olivia an: »Warum interessiert Sie das?«
»Weil Ihr Nachbar so seltsam aussieht… oder sein Fahrrad… ich weiß nicht genau…«
Nach einem leichten Nicken fuhr er fort: »Als überhaupt keine Reaktion erfolgte, wurden die Briefe drohender. Wenn Sie Einzelheiten hören wollen, müssen Sie sich an Agnes wenden. Sie erinnert sich am ehesten daran. Jedenfalls – die Drohungen veranlassten die Polizei schließlich, ernsthaft nach den Absendern zu fahnden. Sie nahmen auch Rußke ins Visier, denn die Autoren waren mit großer Wahrscheinlichkeit Naturwissenschaftler. Deshalb.«
»Und? Ist er es gewesen?«
»Ich glaube nicht. Aber Sie müssten…
»…Agnes fragen,« vollendete Olivia grinsend. »Wie gut kennen Sie eigentlich Ihre Nachbarn?«
Er schloss die Haustür: »Na ja… ich weiß, wer sie sind. Wir begegnen uns, wenn ich draußen arbeite, dann reden wir auch mal, aber nicht viel… Sie schauen skeptisch?«
»Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie Sie in der Landschaft sitzen und die Menschen vorbeikommen, hinter Ihnen stehen bleiben und Ihnen beim Malen zuschauen – es gelingt mir nicht.« Olivia sah in seine dunklen Augen.
»Ganz so ist es auch nicht. Es gibt viele Möglichkeiten, sich unsichtbar in der Landschaft aufzuhalten: die vielen Knicks, Baumgruppen um die Wasserkuhlen. Die Bauern hier in der Umgebung kennen mich und haben nichts dagegen, wenn ich an ihren Feldrändern arbeite. Aber die reden nicht viel.« Diese Szenarien vermochte Olivia sich vorzustellen.
»Mir ist ein Mann aufgefallen, der wie ein Seemann aus dem Bilderbuch aussieht: groß, breit, braune Gesichtsfarbe, kurzgeschnittene weiße Haare und ein gestutzter, weißer Vollbart. Er war bei der Denkmalsenthüllung dabei und heute machte er einen Spaziergang an der Steilküste. Wissen Sie, von wem ich rede?«
»Das muss wohl Johann Lüders sein, ehemals Erster Offizier auf dem Segelschulschiff ›Gorch Fock‹, jetzt im Ruhestand.«
»Das passt. Kennen Sie ihn persönlich?«
»Er nimmt mich manchmal mit aufs Meer hinaus.«
»Felix, Alexander hat im verflossenen Sommer doch sicher auch gemalt, wenn er sich von der Arbeit an seiner Plastik erholen wollte. Können Sie uns Bilder aus dieser Zeit zeigen?« wechselte Amanda das Thema, da Felix sichtlich nichts mehr ergänzen wollte.
Der Maler sah sie an und zögerte.
»Er hätte gewiss nichts dagegen,« setzte Amanda nach. »So gut kennen Sie ihn doch auch.«
»Er würde sie Ihnen schon zeigen,« bestätigte Picard. »Nur, er würde seine eigenen Bilder zeigen, ich würde über fremde verfügen. Das ist ein Unterschied.« Seine Fingerkuppen drückten gegeneinander, als er weiter nachsann. »Es gibt kleine Arbeiten in seinem Zimmer. Die großen Gemälde stehen in der Scheune im Staberhof, sie hätten hier keinen Platz.« Er musterte seine Besucherinnen eingehend, bevor er sich umdrehte und die Treppe hinauf voranging.
Die großen Fenster des hellen Raumes gingen aufs Meer hinaus. Knapp über den Baumwipfeln hatte die Dämmerung eingesetzt. Einige Landschaftsbilder lehnten an der Wand unterhalb der Fenster im Schatten, keines war fertig geworden. Amanda hielt sie ins Licht, schweigend, eines nach dem anderen. »Merkwürdig,« wandte sie sich schließlich an Picard, »alle scheinen wie gegen Widerstand gemalt, als hätte die Hand sich gewehrt« Er sah auf das Bild in ihrer Hand und schwieg. »Habe ich Recht?« – Felix schwieg weiter. – »Was war anders in diesem Sommer?«
»Alexander hat die Berge entdeckt,« erklärte der Freund schlicht.
»Was heißt das?«
»Im letzten Winter arbeitete er in Tirol. Er hatte den Auftrag bekommen, dort Wandgemälde in einem Sanatorium zu malen, Sie wissen davon?« Als Amanda nickte, fuhr er fort: »Die Arbeit dauerte vier Monate. Als wir uns wiedersahen, er besuchte mich anschließend in Düsseldorf, sprach er fast nur von den Bergen. Er sprach von ihnen als einem Gegenüber, von ihrer friedlichen Gewalt, dem ewig vorhandenen Gesicht der Natur. Die Berge hätten ihn aufgenommen, sagte er, ihm die Möglichkeit gegeben, sich in ihre Kraft einzufügen. Er sprach immer wieder von ›Ruhe‹ und ›Besänftigung‹. Im jetzt anschließenden Sommer empfand er das Meer dann als rastlos, beunruhigend, abweisend. Hätte er seine Skulptur nicht beenden müssen – er wäre wohl nicht geblieben.«
Eine Falte zeigte sich über Amandas Nasenwurzel: »Vielleicht haben die Berge ihn gerufen, sozusagen. Vielleicht war der Drang, dorthin zurückzukehren, so stark, dass er London und Fehmarn vergessen und in Hamburg ein Flugzeug nach München bestiegen hat.«
Felix Picard war dieser Gedanke ganz offensichtlich neu und musste in Ruhe überdacht werden. Er wandte sich zum Fenster.
Olivia staunte: »Glaubt ihr denn, dass er sich seinen eigenen Drohbrief schreibt?« Für sie war das ein ziemlich abwegiger Gedanke.
Amandas Falte vertiefte sich: »Das wäre eine Art Doppelgängerspiel, nicht wahr? Warum nicht. Er hat Artikel zur Kunstgeschichte publiziert, auch zu seiner eigenen Kunst – unter Pseudonym. Das Spiel mit einem zweiten Namen hat ihn durchaus beschäftigt. Wohin das führen kann… wer weiß. Nach dem, was Felix gerade gesagt hat, kann man nicht ganz ausschließen, dass er lieber in die Berge fuhr, als hierher zurückzukehren. Das konnte er natürlich nicht offen zugeben, also schickte er kurzerhand einen Brief. Viel denken musste er nicht, wenn er von den beiden anderen Fällen wusste. Tat er das?« unterbrach sie Picards Gedanken.
»Tat er was?«
»Wusste er von den Briefen, die nach dem Verschwinden des Maklers und des Architekten auf der Insel eingegangen sind?«
»Keine Ahnung, jedenfalls haben wir nicht darüber gesprochen – über Lokales sprach er allenfalls mit Agnes, sie müssten wir das fragen,« ergänzte er wieder einmal.
Dazu hatte Amanda gerade keine Lust, Picard sagte nichts weiter und Olivia hielt die Idee für einen Irrweg. So wurde sie nicht weiter verfolgt.