Читать книгу Schatten über Fehmarn - Gerda M. Neumann - Страница 6

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Weit streckte sich das Land rechts und links der Straße. Amanda steuerte ihr dunkelbraunes Mercedes-Cabriolet langsam voran, was nicht häufig vorkam.

»Schau mal, da links hinten fährt ein Auto am Horizont…« Olivia war geneigt, das, was sie gerade sah, für einen Taschenspielertrick zu halten.

»Warum nicht, da verläuft sicher die nächste Straße.«

»Wenn du das sagst… Es ist wirklich ein flaches Land. Das nächste Dorf heißt Neue Tiefe. Richtig wohnlich klingt das in meinen Ohren nicht.« Häuser tauchten auf und waren vorbei. »War das alles?« erkundigte Olivia sich überrascht.

»Ja, alles. Was erwartest du? Fehmarn hat zweiundvierzig Dörfer. Wenn man die Einwohner von Burg abzieht, bleiben ungefähr achttausend Leute dafür übrig. Wenn du’s mit Arithmetik versuchst, wirst du rasch einsehen, was du erwarten darfst.«

Sie fuhren bereits wieder auf einem Damm. Links der Straße grasten Pferde auf Weidestücken, die wie Halbinseln ins Wasser ragten, so weit hinaus und so hinein verflochten, dass es Süßwasser sein musste, sonst würden die Pferde das Gras nicht fressen. Irgendwie beruhigte dieser Gedanke Olivia. Rechts waren ernstere Mengen Wasser zu sehen. Sie kamen erneut zwischen Häuser, ziemlich viele sogar und drei Hochhäuser. Amanda parkte ein und stieg aus. »Im Sommer gibt es hier mehr Touristen, oder Badegäste – ein schönes deutsches Wort, nicht wahr? – als Einheimische, jedenfalls hier in Burgtiefe. Komm!«

»Der Strand! Da vorn! Weißer weicher Sand, so weit du sehen kannst…« Amanda verstummte. Zügig ging sie den befestigten Strandweg entlang bis zum nächsten Holzsteg. Er führte zwischen Dünen hindurch und endlich ganz direkt in den Sand.

Olivia blieb ein wenig zurück und ließ die harten schmalen Blätter des Strandhafers durch ihre Finger gleiten. Gräser gefielen ihr, wo immer sie wuchsen und hier am Meer, wo sie das Land gegen Wasser und Sturm verteidigten, empfand sie so etwas wie Respekt vor der Lebenskraft und Durchhaltefähigkeit der Pflanzen. Schließlich ging auch sie weiter vor, nahm eine Handvoll Sand auf und ließ ihn ganz langsam durch die Finger rieseln. Das wiederholte sie wieder und wieder. Beide Hände griffen in die weiche Fülle und boten sie dem leichten Wind zum Spiel an. »Deine Erinnerung hat Recht, dieser Sand ist perfekt. Ich wüsste nicht, wo man an Englands langen Küsten so etwas finden könnte.«

Das war das größte Kompliment, das Olivia Fehmarn machen konnte, Amanda wusste das und freute sich. »Schau,« rief sie und streckte beide Arme aus, »wie weit du laufen kannst und der Sand hört nicht auf.«

»Sollen wir? Nach rechts oder nach links?«

Nachdenklich und prüfend schaute Amanda in beide Richtungen und dann aufs Meer hinaus. »Ich vermute, beides nicht…«

»Geradeaus ins Wasser hineinzuspazieren, wäre mir zu nass… Ist die graue Linie dort am Horizont Land?«

»Ja, das ist Mecklenburg. Ich glaube, dein Vorschlag von den vier Himmelsrichtungen entspricht meiner lästigen Unrast mehr als ein Strandspaziergang, selbst eine herzhafte Wanderung würde mich nur unruhig machen. Wie blödsinnig man sein kann! Also: auf nach Osten!« Sie ließen noch manche Handvoll Sand durch die Finger gleiten, während sie zum Holzsteg zurückgingen.

Trotz ihrer Unruhe steuerte Amanda langsam über die schmalen Straßen. Beide schauten über das weite Land. Viele Feldränder wurden von Kopfweiden gesäumt. Mit ihrem Herbstlaub standen sie wie durchsichtig in der flachen Weite. Zwischendurch tauchte Burg am Horizont auf. Die sturmtrotzende Kirche überragte die roten Dächer wie eine Festung. Wieder war ein Dorf zu Ende und eine Straße dehnte sich vor ihnen, bis erneut eine Lindenallee sie aufnahm.

»Dieses Land ist so flach, dass ich den Bäumen für ihren Schutz richtig dankbar bin,« stellte Olivia fest. »Eigentlich verstehe ich nicht, warum das Meer nicht einfach darüber hin braust, zumindest in einer Sturmnacht.«

»Die letzte Sturmflut liegt hundertfünfzig Jahre zurück. Warum soll das Wasser auf das Land fließen, wenn es einfacher darum herum strömen kann?«

»Weil das Land so flach ist!«

»Das Land, aber nicht die Küste. Gleich wirst du staunen.«

Sie gingen auf einen schmalen Waldstreifen zu. Amanda bestand auf dem Titel ›Wald‹, Olivia hätte sich eher für ›Hain‹ entschieden, schließlich sah man zwischen den Stämmen hindurch das Meer. Und dann war sie wirklich überrascht. Ein Pfad wand sich zwischen den Bäumen nach unten, er führte unbestreitbar abwärts. Sie traten ins Freie auf ein steiniges Stück Land hinaus. Dahinter lag das Wasser. Mit leisen glucksenden Geräuschen schlug es gegen die Steine, zog sich zurück und kam wieder, ohne Pause und ohne Hektik, beruhigend und freundlich. Sie gingen zwischen Land und Wasser dahin. Olivia schaute zu den Bäumen hinauf, sie standen zehn, wohl auch zwölf Meter über ihr. »Eine richtige Steilküste – die Überraschung ist dir gelungen!«

»Ja, nicht wahr?« Amanda löste den Blick vom Land und wandte sich zum Wasser. »Dieses Mal siehst du kein Land am Horizont, vor dir liegt die freie Ostsee, frei bis hinüber nach Riga und St. Petersburg. Die weite Welt der Hanse, wenn du gerade Lust haben solltest, dir große Segelschiffe und alte Hafenstädte vorzustellen… Und hinter dir eine Steilwand, die sich den Winterstürmen entgegenstellt. Gar so ausgesetzt, wie du zu glauben scheinst, ist diese Insel gar nicht.«

Auf dem Rückweg nahm Olivia den ein oder anderen Stein auf und drehte ihn in der Hand. »Hier könnten die Straßenbauer von Burg ihre Steine gesammelt haben, es gibt genug davon. Baden kann man hier allerdings weniger, oder?«

»Nein, deswegen ist es hier auch im Sommer ziemlich leer, und zum Wandern ziemlich schön. Manchmal sieht man Angler, sie stehen sogar im Wasser, so flach läuft das Land hier unter die Meeresoberfläche.«

»Für Schiffslandungen gänzlich ungeeignet… Eigentlich schade, als Kulisse für Seeräuber könnte ich es mir ganz gut vorstellen.«

Die Karte und ihr Kompass lenkten sie weiter nach Norden. Dieses Mal standen sie auf einem Deich. Dass die Insulaner eine solche Schutzmaßnahme für notwendig gehalten hatten, wertete Olivia als einen erleichternd menschlichen Zug an ihnen. Der Strand vor ihr war eine Mischung aus Sand, Steinen und Algen, und hinter dem Wasser sah man wieder Land, deutlich näher als Mecklenburg.

»Das ist Dänemark, die Insel Lolland. Es gibt den Plan zu einer Brücke zwischen hier und drüben… Die Leute streiten über…« Amanda verstand ganz plötzlich, was der Sonnenstand ihr mitteilte. »Das ist jetzt gleichgültig. Lass uns weiterfahren. Da wir nun mal dabei sind, möchte ich dir auch die Westküste zeigen und das Licht schwindet ähnlich wie der Sand zwischen den Fingern. Ganz klein ist Fehmarn eben doch nicht. Beruhigend?«

»Schon irgendwie. Dieses Burgtiefe auf Sand ins Wasser gebaut weckt den Bergbauern in mir, der Wasser lieber trinkt als hineingerät.«

Der Deich schützte die Insel auch im Westen. Hier grasten sogar Schafe auf ihm und landeinwärts wuchsen in seinem Windschatten niedrige Kiefern. Endlich zeigten sich wieder kleine Kobolde in Olivias Augenwinkeln: »Fehmarn wird nicht untergehen, ich sehe es jetzt selbst – wozu gehören die weißen Häuserblocks dort am anderen Ufer?« Ihr ausgestreckter Arm wies nach Süden.

»Das muss noch Heiligenhafen sein, also das Festland von Schleswig-Holstein. Und wenn du dir eine gerade Linie etwas rechts an der untergehenden Sonne vorbei denkst, triffst du auf Angeln, ein hügeliges Stück von Schleswig-Holstein und die Heimat jener Abenteurer, die in tiefer Vergangenheit aufbrachen, England zu besiedeln.«

»Die Angelsachsen… Amanda, ich beginne allmählich den Namen der Skulptur zu verstehen, die dein Freund für diese Insel geschaffen hat: ›Fehmarn, eine Brücke in Europa‹, ein Denkmal in des Wortes engster Bedeutung: Denk mal – darüber nach. Auf die vielen Steinblöcke voller Namen, die überall in Dörfern und Städten aufgestellt sind, trifft diese Bezeichnung weniger zu, sie müssten Erinnerungsmale heißen, die präzise Übersetzung des englischen ›memorial‹.

»Apropos England. Auf der Rückfahrt muss ich dir noch eine Geschichte erzählen.« Während sie auf Burg zufuhren und in ihrem Rücken die Sonne unterging, begann Amanda: »Spring in Gedanken zurück in die Jahre 1945/46. In London tagt eine Konferenz, um das besiegte Deutschland in Besatzungszonen aufzuteilen, neunzehn Monate lang. Dabei hätten es zwei weniger werden können, aber der russische Botschafter hatte sich an Fehmarn festgebissen. Die Kornkammer in der Ostsee wollte er auch noch haben. Doch der englische Unterhändler erkannte Fehmarns strategische Lage: Die Russen hätten sich weit in den Nordwesten bis vor die Küste Dänemarks geschoben. Das wog noch schwerer als das Getreide. Und Lord Strang führte die Geschichte ins Feld: Seit Jahrhunderten gehörte Fehmarn zum Norden, mal zu Dänemark, dann zu Holstein, immer abwechselnd, aber niemals zu Mecklenburg. Er blieb stur, obwohl die britische Regierung ihm freie Hand gegeben hatte. Und eines schönen Tages ließ der russische Botschafter seine Forderung fallen, als wäre sie nie ernst gemeint gewesen. Fehmarn verdankt Lord Strang zweiundvierzig Jahre in Freiheit! Auch wenn die Insulaner selbst diese Tatsache erst fünfzehn Jahre später herausfanden.«

»Genau genommen verdankst du diesem Diplomaten die schönsten Sommerferien deiner Kindheit,« spann Olivia die Geschichte fort.

»Du wirst lachen, das ist nicht einmal nur Zufall. Er gehört in die weitläufige Verwandtschaft meines Vaters. Der war damals noch sehr jung, aber da sich das diplomatische Leben von William Strang eineinhalb Jahre nur um Deutschland drehte und davon zwei Monate ausschließlich um Fehmarn, sprach er im privaten Kreise ebenfalls davon und im Kopf meines Vaters setzte der Name sich so fest, dass er Mutter und mich mitnahm, als ihn dreißig Jahre später eine Geschäftsreise nach Hamburg führte. Im Anschluss an eine Woche Stadtbesichtigung verbrachten wir unsere Sommerfrische – noch so ein anschauliches deutsches Wort – das erste Mal auf Fehmarn.«

Schatten über Fehmarn

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