Читать книгу Schatten über Fehmarn - Gerda M. Neumann - Страница 7

Kapitel 2

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Eine Stunde später stiegen die beiden Engländerinnen die Stufen zum Hotel im Zentrum von Burg hinauf. Amanda übernahm die Führung. Der Raum, den sie hinter einem kurzen Gang und einer weiteren Tür betraten, nahm sie mit abendlich gedämpfter Beleuchtung auf. Er war lang und schmal, lang auch die Bar, neben der Amanda stehen blieb. Ihre Augen streiften über die hohen kleinen Tische nach links bis zu den beiden Fenster, hinter denen die Straßenlaternen den Markt draußen beleuchteten, über die hohen Tische an der gegenüberliegenden Wand zurück: kein bekanntes Gesicht. »Alexander ist noch nicht da. Also setzen wir uns an einen der niedrigen Tische dort gegenüber der Bar und essen etwas Warmes, bis er kommt.«

Sie nahm mit dem Rücken zur Wand Platz, den Eingang wie beiläufig im Blick. Der sie umgebende Raum wirkte vollständig dunkelrot, doch bei genauerem Hinsehen standen die Möbel auf Parkett und die Wände waren hell gestrichen. Amandas Hand glitt über den Bezugstoff neben sich: »Blutroter Alcantara… wie es hier vor fünfundzwanzig Jahren aussah, habe ich vergessen.«

»Natürlich. Warum sollte ein Kind sich für Inneneinrichtung interessieren… Da Alexander Hyde nicht da ist, erzähl mir genauer von seinem Denkmal, bis er kommt, magst du?«

»Es gibt nichts zu erzählen, da muss ich dich leider enttäuschen, ich kenne es so wenig wie du. Die feierliche Enthüllung findet morgen statt, das weißt du. Vielleicht gerät der Festakt zu einer eigenen Überraschung, Offizielles liegt Alexander wenig. Seine Auftraggeber, eine hiesige Bürgervereinigung, wird sich vermutlich genau das vorstellen, Reden und Blasmusik und die örtliche Presse. Wir werden sehen, wer von beiden sich durchgesetzt hat.« Amanda spürte das Lachen in sich aufsteigen.

»Dann erzähl mir von ihm: Wie sieht er aus, was für ein Leben führt er?«

»Willst du nicht lieber wissen, was für Kunst er macht?«

»Später, wenn noch Zeit ist. Bilder schaue ich mir eigentlich lieber an als sie mir beschreiben zu lassen.« Ihr alter Übermut blitzte in Olivias Augen auf. In diesem Raum mit seinem gedämpften Licht, der leisen Musik und heißem Tee vor sich, der Bar kehrte sie in doppelter Weise den Rücken zu, hatte sie das Meer vorübergehend vergessen – so schien es Amanda zumindest.

»Also gut. Er ist ungefähr so groß wie ich, also für einen Mann eher klein, und sehr schmal. Da seine Bewegungen leicht und flink sind, erinnert er mich immer wieder an einen Vogel. Manche halten seine Bewegungsweise für nervös, ich glaube das aber nicht. Ich habe ihm manchmal bei der Arbeit zugeschaut. Auch wenn er ruhig und konzentriert ist, bewegt er sich in dieser vogelhaften Weise. Seine Augen sind graublau und seine Stirn sehr weiß, darüber stehen braune Haare in die Luft, weil er beim Denken und beim Reden immer mit den Fingern hindurch fährt.«

»Und wie kam er ausgerechnet nach Fehmarn?«

»Zufall, glaube ich. Und eine Neigung zu kleineren Inseln als England eine ist. Als ganz junger Maler hat er einige Jahre in der Südsee gelebt. Dann war er wieder da, malte Stadtbilder wie ein Wahnsinniger, als wollte er sich in London hinein wühlen… bis er nach Fehmarn verschwand. Er hatte bei einer Ausstellung in irgendeiner Galerie im Westend Felix Picard kennengelernt. Der ist Deutscher, verbringt seine Sommer seit ewig hier auf der Ostseeinsel und erzählte ihm davon. Das, was Alexander sich beim Zuhören vorstellte, schien genau zu passen. Er fuhr hin, blieb den ganzen Sommer und kam in den folgenden wieder.«

»Kennst du diesen Felix Picard?«

Die Antwort beschränkte sich auf ein leichtes Kopfschütteln. Amanda sah zum Eingang. Da sie schwieg, wandte Olivia sich um, schließlich sollte man wissen, was sich im eigenen Rücken abspielt. Ein großer Mann um die Vierzig hatte den Raum betreten und stand nun neben der Bar wie sie selbst vorhin. Als erstes fielen ihr die tiefen, braunen Augen auf, die langsam über die Gäste wanderten, dann die schmalen, festgeschlossenen Lippen und der kurzgeschnittene dunkle Bart. Obwohl die Haut wettergebräunt zu sein schien, es war wirklich nicht sehr hell hier im Raum, war er bestimmt kein Seemann. Schließlich löste er seine Rechte von der Thekenkante und kam auf ihren Tisch zu, obwohl nichts in seinem Blick darauf hingedeutet hatte, dass er sie anders wahrnahm als jeden anderen Gast.

»Entschuldigen Sie, bitte, warten Sie womöglich auf den Maler Alexander Hyde?« Die Worte kamen leise und langsam.

»Ja, so ist es.« Amanda hatte ihm den nächsten Satz überlassen wollen, doch in das fragende Abwarten der sehr dunklen Augen ergänzte sie dann doch: »Kennen Sie ihn?«

»Ja, durchaus. Er ist ein Freund von mir. Ich heiße Felix Picard.« Nach einer förmlichen Begrüßung setzte er sich zu ihnen. Olivia empfand es beinahe als Ehre, so dramatisch wirkte seine scheue, etwas bedächtige Art auf sie.

»Sie sind zum verabredeten Zeitpunkt hier, also sind Sie sicher, dass Alexander auch kommen wird, darf ich das annehmen?« Sorgfältig setzte er die Worte hintereinander.

»Ja, natürlich. Wir sind seinetwegen von London gekommen!«

Er nickte zögernd: »Darf ich weiter fragen, wann Sie zuletzt von ihm gehört haben?«

»Fragen dürfen Sie das schon… da muss ich nachdenken…« Amanda griff nach ihrer Tasche und Olivia, die Felix Picard ungeniert beobachten konnte, da seine Augen gebannt an Amanda hingen, stellte fest, dass er seine Unruhe nur schwer bezähmen konnte. Amanda zog eine steife Karte heraus und drehte sie um: »Dies ist die offizielle Einladung zur Enthüllung, auf der Rückseite stehen Ort und Zeitpunkt unseres privaten Treffens hier – und hier sind wir. Der handschriftliche Teil ist vom 13. September.«

»Nichts von einem Besuch in London?«

»Doch, er schreibt: ›Sollte ich vorher für drei Tage in London sein, melde ich mich.‹ Das hat er nicht getan. Also ist er wohl hiergeblieben.«

»Nein, das ist er nicht! Also muss er in London gewesen sein.«

»Das glaube ich nicht. Ich habe dringend versucht, ihn zu erreichen, weil ich ziemlich kurzfristig beschlossen habe, mit dem Auto zu fahren. Wir hätten gemeinsam reisen können.«

»Das wäre für ihn zu spät gewesen, vielleicht war er schon wieder weg, als Sie ihn zu erreichen versuchten.«

»Wieder nein, so kurzfristig habe ich auch nicht geplant. Wir verbrachten einen Tag in Brüssel und einen in Hamburg. Mit Alexander im Auto wären wir durchgefahren – aber was sollen all diese Fragen? Ist Alexander denn nicht hier?«

»Nein. Ich habe ihn schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.«

Amanda musterte ihren Tischnachbarn aufmerksam: »Vielleicht hat ihn das Aufstellen der Skulptur in den letzten Tagen so sehr in Anspruch genommen, dass er für nichts sonst Sinn hatte?« Instinktiv versuchte sie, ihn zu beruhigen.

»Die letzten Tage haben Juro Kienhardt und ich damit verbracht, diese Skulptur aufzustellen. Hoffentlich ist er mit dem Ergebnis zufrieden. Er macht am liebsten alles selbst, auch das Hängen seiner Bilder für Ausstellungen. Deshalb wollte er ja zu diesem ungünstigen Zeitpunkt unbedingt nach London. Und deswegen sind wir ernsthaft beunruhigt über sein Ausbleiben. Es gibt keine Erklärung dafür.«

»Ich verstehe.« Amanda schwieg. Da die anderen es auch taten, fragte sie nach einer Pause: »Wer ist Juro Kienhardt?«

»Juro ist Maler wie wir, der dritte im Bunde und der einzige, der das ganze Jahr über auf Fehmarn lebt. Er und seine Frau haben Alexander nicht mehr gesehen, seit ich nach Köln gefahren bin, vor vierzehn Tagen; seit fünf Tagen bin ich wieder da, aber keine Spur von ihm.«

»Wissen Sie, wo in London seine Ausstellung stattfinden soll? Wir könnten in der Galerie anrufen.«

»Darauf bin ich nicht gekommen… Nein, den Namen habe ich vergessen. Es gibt aber eine große Kiste in seinem Zimmer, in der alle Korrespondenz landet. Allerdings würde ich nie an seine Sachen gehen.« Seine Lippen schlossen sich noch fester aufeinander als zu Anfang und die Kuppen seiner gespreizten Finger drückten so fest gegeneinander, dass die Nägel hell wurden.

Olivia beobachtete, wie Picards Unruhe sich in dem kurzen Gespräch zu Angst wandelte. Sie kannte beide Männer nicht, konnte ihre Nervenstärke nicht einschätzen, verstand aber ohne Schwierigkeiten das Widerstreben von Felix Picard, letzte Handgriffe und Entscheidungen am Werk des anderen vornehmen zu müssen. »Steht die Skulptur jetzt und gibt es noch etwas zu tun?« riss sie ihn aus seinen Gedanken.

Picard sah sie an, zum ersten Mal seit der Begrüßung: »Für morgen ist alles fertig. Alle wissen schon seit Wochen, was sie machen sollen. Alexander kann sehr gut organisieren und er wollte ja zwischendurch noch nach London. Seine Plastik blieb bis zum letzten Moment in der Scheune, in der er sie gearbeitet hat, deshalb mussten Juro und ich diesen Teil der Vorbereitungen nun stellvertretend übernehmen.«

»Also gibt es im Moment nichts mehr zu tun?«

Picards Augen hingen an dem tatenlustigen Gesicht. Er schien nachzudenken. Endlich fragte er zurück: »Was meinen Sie damit?«

»Nun, ich sehe zwei Probleme: einmal die offizielle Denkmalsenthüllung morgen und die Abwesenheit der Hauptperson bei diesem Ereignis. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kann der offizielle Teil wie vorgesehen ablaufen, man muss lediglich darauf verzichten, dem Künstler die Hand zu drücken. Oder wollte er eine Rede halten?«

»Um Himmels willen, nein!«

»Gut. Bleibt zweitens die Frage, wo er steckt. Ich überlege, ob wir heute Abend noch etwas unternehmen können, um das herauszufinden? Zum Beispiel in der Londoner Galerie anrufen. Wir haben eine Stunde Zeitverschiebung, Galeristen sind oft spät dran.«

»Zwischen dem Telefonat und uns stehen ein paar Hürden, die uns Zeit kosten werden,« warf Amanda ein. »Scharf betrachtet, dient alles, was wir heute Abend noch unternehmen könnten, der eigenen Beruhigung. Ich verstehe Alexanders Fernbleiben zwar nicht, will aber hoffen, dass er selbst es uns morgen erklärt. Er hat solange an diesem Werk gearbeitet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dessen Enthüllung verpasst.«

Picard sah sie eine Weile grübelnd an. Schließlich lösten sich die Fingerkuppen voneinander und er stützte die Hände auf den Tisch, als wolle er aufbrechen. »Sie haben Recht, für heute müssen wir den Dingen ihren Lauf lassen. Und morgen ist auch noch ein halber Tag für seine Anreise.« Er erhob sich: »Ich gehe jetzt nach Hause. Juro erwartet noch Nachricht von mir. Und da Alexander seit einigen Wochen bei mir wohnt, werde ich am besten dort auf ihn warten. Wir sehen uns morgen am Strand von Burgtiefe.« Er verneigte sich ein wenig altmodisch und ging, ohne sein Bier angerührt zu haben.

Amanda sah ihm nach und schwieg. Olivia wandte sich wieder ihren Matjesheringen zu und zog die mittlerweile kalten Kartoffelstücke durch die Marinade. Irgendwann wurde ihr die Stille zu viel: »Ein so wortkarger Abend gebiert leicht Gespenster,« teilte sie freundlich mit.

Die Augen der Freundin kehrten vom Eingang zurück. »Weißt du, dieser Mensch, dieser Felix Picard, bewegt sich so langsam, dass mir die gelegentlich auftauchende Vorstellung, Künstler seien Narren, eingefallen ist.«

»Hoffen wir, dass er beides ist – Künstler und Narr, denn Narren sind weise.«

»Er schien besorgt, hast du das gesehen?« Amanda ließ diese Bemerkung leichthin zwischen sie fallen.

»Als er kam, brachte er Hoffnung mit, als er ging, hatte er Angst,« bestätigte Olivia. »Und du, wie siehst du die Lage?«

Amanda sah die Freundin einen Moment an, dann schien sie sich einen Ruck geben zu müssen: »Ich habe auch Angst, um ehrlich zu sein. Bis Picard kam, schien alles in Ordnung. Solange er bei uns saß, habe ich mich auf ihn konzentriert. Aber wenn du mich jetzt geradeheraus fragst… Es ist einfach so: Für Alexander sind zwei Dinge im Leben wichtig, seine Kunst und seine Freunde. Im vorliegenden Fall vernachlässigt er sie gleich beide. Also stimmt wirklich etwas nicht.«

»Wie ist Alexander? Ist er gut für Überraschungen? Ist er sprunghaft, unzuverlässig?«

»Ich weiß es nicht. Wir sehen uns, auch wenn er in London ist, nicht so häufig. Aber selbst wenn er so wäre, doch nicht zu diesem Zeitpunkt!«

»Wieso bist du so sicher, dass er nicht in London war?«

»Alexander ist so altmodisch wie du und hat keinen Telefonanrufbeantworter. Da ich es aber wirklich schön gefunden hätte, gemeinsam nach Fehmarn zu fahren, habe ich seine Zugehfrau angerufen, als er nie abhob. Sie ist mittlerweile so etwas wie sein guter Hausgeist geworden, kümmert sich um sein Atelier und seine Post, wenn er nicht da ist und erst recht, wenn er da ist. Sie ist ganz sicher, dass er nicht mal für eine Nacht in London war. Und sie wüsste es bestimmt.«

»Das Flugpersonal streikt gerade nicht, bleibt nur noch ein Unfall…«

Amanda nickte beinahe so langsam, wie Picard es getan hätte: »Das ist das einzige, was bleibt. Und der muss sehr schwer sein, denn mit einem gebrochenen Bein kann man ohne weiteres telefonieren. Das hätte er auch getan, Felix Picard hätte von ihm gehört!« Sie leerte entschlossen ihr Glas: »Lass uns gehen. Unser Wohnzimmer ist warm und behaglich. Und wenn ich richtig gesehen habe, stand eine Flasche Rotwein auf dem Wohnzimmertisch. Ein Hoch auf Frau Nüßler!«

Schatten über Fehmarn

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