Читать книгу Wolfsgrund - Gerda Stauner - Страница 10

Sechs

Оглавление

Melchior sitzt am Montagmorgen an seinem Schreibtisch und es fällt ihm schwer, den Computer zu starten. Die letzte Woche hatte er intensiv mit der Recherche über das dörfliche Leben in Bayern an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert verbracht. Anschließend schrieb er an seiner Geschichte weiter, ohne Ablenkung. Das danach anbrechende Wochenende verbrachte er mit einem ausgiebigen Einkauf auf dem Markt, gutem Essen und der Lektüre liegen gebliebener Bücher, die sich auf dem Boden neben seinem Bett angesammelt hatten. Den Sonntag beschloss er mit einem schweren Rotwein und dem Vorsatz, seine Geschichte am Montag Korrektur zu lesen.

Er kann sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, über die er geschrieben hat. Der Journalist spürt, dass sich in ihm etwas sperrt, er die Textdatei nicht öffnen will. Ihm fallen Details ein, die er recherchiert hat, die ungewöhnlich hohe Rate der Kindersterblichkeit im Gebiet rund um den Truppenübungsplatz, die Wasserknappheit, das karge, harte Leben der Landbevölkerung. Dies alles waren nur die Hintergrundinformationen für eine Geschichte, die er sich selbst ausgedacht hatte. Selbst sein eigener Familienstammbaum bot ihm nur Namen und Zahlen. Alles was mit den Menschen passierte, sich zwischen seinen Figuren abspielte, entstand allein in seiner Vorstellung, war nur in seiner Fantasie real.

Nun hat er Angst vor dem, was entstanden ist. Hat er zu viel von seiner eigenen Geschichte in den Text einfließen lassen? Hat er unbewusst eigene Erlebnisse verarbeitet? Es ist natürlich, dass er sich nicht mehr an alles erinnert, was er je zu Papier gebracht hat, das weiß er. „Schreiben, um zu vergessen.“ Diesen Satz hat er irgendwo mal gelesen. Ist es bei ihm ebenso? Schreibt er diese Geschichte, um etwas zu überwinden, das er lieber vergessen und ruhenlassen sollte?

Er ist an einem Punkt angekommen, an dem es zwei Wege gibt. Er kann das Dokument ungeöffnet in den Papierkorb schieben, die Bücher und Notizen wegpacken und die Email vom Pressesprecher löschen. Er kann die restlichen zwei Wochen seines Zwangsurlaubs in den Tag hinein leben, lesend und kochend verbringen. Danach wird er ausgeruht in der Redaktion erscheinen und die letzten Monate bis zu seiner Rente weitermachen wie bisher.

Oder er öffnet die Datei, liest sich den Text durch und macht weiter, konfrontiert sich mit seiner Vergangenheit. Wenn er diesen Weg wählt, wird es nicht einfach werden, das spürt er. Melchior wird sich mit Geschehnissen auseinandersetzen müssen, die er lieber beiseiteschieben würde. Er wird sich eigene Fehler und Versäumnisse eingestehen und vielleicht über Wiedergutmachung nachdenken müssen. Aber der Lohn dafür wäre ein Leben ohne schlechtes Gewissen, vielleicht sogar eine neue Freiheit, die ihm Raum für sich und seine Entfaltung geben würde.

Sein innerer Antreiber steht jedenfalls schon parat. Melchior spürt den Drang weiter an der Geschichte zu arbeiten. Er fragt sich, aus welchem Grund dieser anstachelnde Teil in ihm da ist, welchen Zweck er verfolgt. Geht es diesem um Ruhm und Ehre? Um Nachhaltigkeit? Um Unsterblichkeit? Er findet keine Antwort.

Schließlich gibt er dem Druck nach, öffnet die Datei und beginnt zu lesen. Schon nach wenigen Zeilen kommt die Erinnerung zurück und mit ihr die Angst. Der Redakteur ist kurz davor aufzuspringen und zur Toilette zu eilen, doch dann beruhigt sich sein Verdauungsapparat und er entspannt sich ein wenig. Zurück bleibt ein taubes Gefühl in seinem Unterleib. Als er den letzten Satz gelesen hat, kann er nicht glauben, welche Parallelwelt er geschaffen hat. Hat er in seiner Vorstellung tatsächlich seiner Urgroßmutter dem Urgroßvater ein Kuckuckskind unterjubeln lassen? Soll ihm dies als Entschuldigung für sein eigenes Handeln dienen, nach dem Motto, dieses Verhalten liegt in der Familie? Wie kommt er nur auf diese absurde Idee?

Ein Blick auf die Uhr zeigt ihm, dass es fast Mittag geworden ist. Seine Vorräte sind nahezu aufgebraucht und er hat keine Lust zu kochen. Melchior zieht bequeme Schuhe an, nimmt den alten Trenchcoat vom Haken und bindet sich zur Sicherheit einen dunklen Schal um. Draußen scheint zwar die Sonne, doch davon lässt er sich nicht täuschen. Ihm fehlen die Fettpolster, die sich viele seiner Weggefährten mit dem Alter zugelegt haben, vielleicht wird ihm deshalb schnell kalt. Bevor er die Wohnungstür zuzieht, wirft er einen kurzen Blick zurück. Den Computer hat er ausgeschaltet, sein Bett gemacht und die Wäsche weggeräumt. Obwohl er alleine wohnt und kleine Nachlässigkeiten niemanden stören würden, ist es ihm wichtig, sein Zuhause ordentlich zu verlassen.

Beim Heraustreten wappnet er sich innerlich gegen die Kälte und hält für einen kurzen Moment die Luft an. Doch ihm schlägt ganz unerwartet eine laue, frühlingshafte Brise entgegen. Nach wenigen Metern lockert er den Schal und öffnet die ersten beiden Knöpfe seines Mantels. Melchior schlägt den Weg durch die Allee ein, um eines seiner Stammcafés anzusteuern und dort das Tagesgericht zu bestellen. Er winkt dem Betreiber des kleinen Kiosks zu, der erst seit Monatsanfang wieder regelmäßig hier ist. In den kalten Monaten hat er seinen Straßenverkauf geschlossen. Der Redakteur überlegt, ob er nach dem Essen auf einen Espresso vorbeischauen soll. Dort könnte er in Ruhe das schöne Wetter und die Sonne genießen.

Ansonsten ist es ruhig in der weitläufigen Allee. Die Schülerinnen der nahe gelegenen Mädchenschule haben wohl noch nicht Schulschluss, denn andernfalls würden sie jetzt lärmend die breiten Wege bevölkern. Wieder einmal wundert sich der Journalist darüber, wieso der Grüngürtel nicht stärker frequentiert wird. Es gibt wohl kaum eine andere Stadt in Deutschland, deren Altstadt nördlich von einem Fluss und von allen anderen Seiten von einer Allee eingefasst wird. Ihm scheint, dass seine Mitbürger nicht einmal die daran angrenzenden Parks für sich in Anspruch nehmen. Er beneidet viele Städte um das rege Treiben, dass sich innerhalb deren Grünflächen abspielt. In seiner Stadt werden diese weitgehend als Verkehrsflächen für Fußgänger, Jogger und Radfahrer benutzt. Und nach Einbruch der Dunkelheit werden die Bereiche strikt gemieden. Ob es an der teilweise fehlenden oder spärlichen Beleuchtung oder an der lieblosen Gestaltung der Anlagen liegt, weiß Melchior nicht zu sagen.

Mit der Stille kommen unweigerlich die Gedanken an Agathe und das Kuckuckskind zurück. Und endlich kann er die Erinnerung an Ella zulassen, an diese eine Nacht vor fast dreißig Jahren, die zumindest sein Leben für immer verändert hat. Er erinnert sich wieder an die Zeit davor, an die Ehekrise seines besten Freundes, an Ellas unerfüllten Kinderwunsch und daran, dass er für beide da sein wollte, ihnen zuhörte, immer davon überzeugt, dass diese Ehe alles aushalten würde. Dass er Teil der Lösung werden würde, zumindest einer Lösung, die für Ella die richtige war, das hatte er keine Sekunde lang für möglich gehalten. Und nun war Caspar schon fast dreißig und die Ehe seiner Freunde hielt noch immer. Außer ihm scheint niemand ein Problem damit zu haben.

Melchior muss sich eingestehen, dass er Ella trotzdem bewundert. Sie ist eine wunderbare Mutter und auch Ehefrau. Er kennt wenige Familien, die über so lange Zeit so gut miteinander harmonieren. Er ist stolz auf Caspar, der seine Ziele im Leben erfolgreich, doch niemals verbissen verfolgt. Dies ist wohl auch dem Erziehungsstil und der Liebe seiner Mutter zuzuschreiben. Vielleicht hat er beim Schreiben intuitiv Ellas Stärke in die Figur von Agathe einfließen lassen, grübelt er weiter. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so hätte er weitaus schlechtere Vorlagen für seine Urgroßmutter finden können.

Wolfsgrund

Подняться наверх