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Fünf

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Es fällt Melchior tatsächlich leicht, sich in die Zeit vor über 120 Jahren zurückzuversetzen, in die Vorstellungswelt und die Empfindungen der Menschen. Trotzdem ist es eine Gratwanderung für ihn. Er hat nur wenige Anhaltspunkte und echte Dokumente aus dieser Zeit. Alles, was mit und zwischen seinen Figuren geschieht, muss er neu erfinden. Es ist genau das Gegenteil dessen, was er als Journalist für seine Zeitung schreibt. Und genau daran liegt der Reiz für ihn. Zufrieden schaltet er spät am Abend den Computer aus. Für heute ist es genug, ein Anfang ist gemacht.

Er geht in die Küche, gießt sich den restlichen Rotwein vom Vortag in ein Glas und sucht im Kühlschrank nach etwas zu Essen. Mit einem Stück Käse, vier Cocktailtomaten und Toastbrot setzt er sich an den Esstisch. Akribisch teilt er die roten Paradiesäpfel und schneidet ausnahmsweise den Strunk nicht extra heraus. Melchior gibt ordentlich Salz dazu und steckt sich abwechselnd Käse und Tomaten in den Mund.

Er isst konzentriert und versucht an nichts anderes zu denken. Doch mit dem letzten Bissen Toastbrot und dem letzten Schluck Wein taucht die Erinnerung an das Gespräch mit seiner Redaktionsleiterin wieder auf.

„Undankbare Kuh“ ist der Ausdruck, mit dem er seiner Wut und der Enge in seiner Brust Luft macht. Doch er weiß ganz genau, dass seine junge Vorgesetzte nicht die Schuld an seinem Zwangsurlaub trägt. Sie war nur die Überbringerin der Botschaft. Melchior fragt sich, was er in seinem Berufsleben falsch gemacht hat. Er muss nicht lange überlegen, die Antwort kennt er. Schon immer fehlte ihm der Antrieb, sich mit anderen für Projekte oder gemeinsame Vorhaben zusammenzuschließen und ein sogenanntes Netzwerk zu bilden. Schon allein dieses Wort ist ihm zuwider. Teil eines solchen Netzwerkes zu sein, bringt ihm seiner Meinung nach keinen Vorteil. Er fühlt sich vielmehr darin gefangen und eingeengt. In den langen Jahren als Redakteur hatte er oft genug erlebt, wie ihn andere mühelos auf der Karriereleiter überholt haben, obwohl sie seiner Ansicht nach schlechtere Schreiber waren. Im Netzwerken lag hingegen ihre Stärke.

Was ihm half, war seine Fähigkeit, den Überblick zu bewahren. Gerade in hektischen Situationen, wenn eine unerwartete Nachricht über die Redaktion hereinbrach und es sich dort plötzlich anfühlte, als sei man in einen Bienenstock geraten, blieb er kühl, versuchte schnellstmöglich an gesicherte Informationen zu kommen und sich nicht an den Spekulationen der anderen zu beteiligen. Er arbeitete für sich, effektiv, präzise und war stets verbindlich. Vielleicht kostete ihn dieses Voranpreschen im Alleingang Kraft und Lebensenergie, die er dann für andere Dinge nicht mehr übrig hatte? Trotz aller Anstrengung blieb ihm eine Position als Ressortleiter verwehrt. Wollte er solch einen Posten wirklich haben oder ging es hier nur um sein Prestige, um Anerkennung?

Melchior steht energisch auf, stellt das benutzte Geschirr auf die Küchenablage und geht zu Bett. Für heute hat er mehr als genug gegrübelt. Luxusproblem einer Wohlstandsgesellschaft, das ist wohl der richtige Ausdruck für das, was in seinem Kopf vorgeht. Er denkt an Agathe und daran, was wohl in Fichtenried auf sie wartete, und ob sie Ludwig wiedersehen würde? Müde zieht er die Daunendecke mit dem verschlissenen, karierten Baumwollbezug bis zum Kinn hoch. Die Geschichte um die unglückliche Liebe und um Schmidheim nimmt in seinem Kopf weiter Gestalt an, während er träge die Augen schließt.

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