Читать книгу Wolfsgrund - Gerda Stauner - Страница 6
Vier
ОглавлениеDaheim angekommen steuert Melchior direkt das Arbeitszimmer und seinen Schreibtisch an. Wie immer, wenn er am Anfang einer vielversprechenden Geschichte sitzt, ist er angespannt, aber auf eine sehr positive Art und Weise. Man könnte es vielleicht mit einer Jagd vergleichen, bei der man am Anfang noch nicht genau weiß, was auf einen zukommen wird. Er hat sich drei Gründe zurechtgelegt, wieso er sich an dem Projekt versuchen will. Erstens will er seine Zwangspause nicht mit Belanglosigkeiten füllen. Bald geht er in Rente. Dann bleibt ihm noch genügend Zeit um lange Spaziergänge zu machen, stundenlang über Rezepten zu schmökern und dann umständlich in der ganzen Stadt die exotischen Zutaten dafür zusammenzutragen oder um sich vielleicht sogar sportlich zu betätigen. Zweitens hat ihn der Ehrgeiz gepackt und er empfindet den lapidar dahingeworfenen Vorschlag seiner Redaktionsleiterin als Herausforderung. Er will beweisen, dass er mehr drauf hat, als ein einfacher Wald- und Wiesenschreiber bei einer Lokalzeitung zustande bringt. Den dritten Grund will er sich zuerst nicht eingestehen. Doch seit der Redaktionskonferenz treibt ihn etwas um, das er so noch nicht kannte: Er hat das Gefühl Verantwortung tragen zu müssen. Verantwortung für die Beerbauers, für seine Familie. Das Bild von Anderl taucht vor ihm auf. Für den Großvater waren seine Frau, seine Tochter und sein Enkelkind das Wichtigste in seinem Leben. Für sie hätte er alles gegeben. Mehr noch, er hat sich Zeit seines Lebens für jeden eingesetzt, der unter seinem Dach lebte. Seine Familie und sein Hof waren ihm heilig. Um beide zu schützen, setzte er am Ende des Zweiten Weltkriegs sogar sein eigenes Leben aufs Spiel.
Der Hof ist schon lange verkauft und somit für immer verloren. Nun liegt es an Melchior, zumindest die Gene dieser Familie weiterzutragen und den Namen zu vererben. Sollte er in diesem Punkt auch noch scheitern, wäre er wohl in den Augen seiner Vorfahren ein Versager, oder?
Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um endlich reinen Tisch zu machen? Sobald er es wagt, diesen Gedanken zu formulieren, steigt die Angst in ihm auf, Franzi zu verlieren. Seit dreißig Jahren hadert er mit seinem Fehltritt und dessen Folgen. Zum wohl tausendsten Mal verflucht er sich und Ella und würde alles dafür geben, um ungeschehen zu machen, was in dieser lauen Sommernacht passierte. Um Franzi die Wahrheit zu sagen, dazu fehlt ihm der Mut. Sie würde ihrer Freundschaft ein Ende bereiten und diese Vorstellung ängstigt Melchior mehr als alles andere. Er kann und möchte seinen besten Freund nicht verlieren. Er ist alles, was ihm geblieben ist. Franzi, Ella und Caspar sind nun seine Familie.
Melchior vergräbt sein Gesicht zwischen den Händen und ist bemüht, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Das Gefühl zu ersticken blockiert sein Denken. Krampfhaft versucht er sich an die Technik zu erinnern, die Asthmatiker in dieser Situation anwenden. Dann fällt es ihm wieder ein: die Lippenbremse. Beim Ausatmen lässt er die Luft durch eine kleine Öffnung der Lippen entweichen. So entsteht ein Rückstau, der die Lungen wieder weitet. Langsam reguliert sich seine Atmung und er wird ruhiger.
Zehn Minuten später hat er sich wieder gefangen. Sein Blick fällt auf den Familienstammbaum, der bei den Unterlagen liegt, die er für den gestrigen Artikel gebraucht hatte. Aus Erzählungen seiner Oma weiß er, dass die Ehe seiner Urgroßmutter Agathe mit seinem Urgroßvaters Anton Beerbauer arrangiert war. Der Witwer hatte nach dem Tod seiner zweiten Frau Sabina deren Schwester geheiratet. Melchior versucht sich vorzustellen, wie Agathe sich damals gefühlt haben mag und beginnt ohne weiter darüber nachzudenken mit dem Schreiben. Er hat den richtigen Einstieg für die Geschichte gefunden, auch wenn der über ein halbes Jahrhundert vor der Vertreibung der Schmidheimer liegt.