Читать книгу Wolfsgrund - Gerda Stauner - Страница 9

1899

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Das vertraute Läuten der Kirchenglocken hallt Agathe schon entgegen, bevor der kleine Ort eine viertel Stunde später vor ihr auftaucht. Mit wenigen Minuten Verspätung schlüpft sie in die Kapelle und entflieht somit der Hitze, die sich schon früh an diesem Julisonntag über die Gegend gelegt hat. Den zweijährigen Donatus hält sie an der einen Hand, den Säugling Anderl wiegt sie sanft im anderen Arm. Die junge Mutter ist froh, sich im hinteren Teil auf einer Bank ausruhen zu können. Eigentlich wollte sie die Kinder bei ihrer Mutter in Oberschmidheim lassen, doch dann hätte sie einen Umweg machen müssen und wäre nicht rechtzeitig zur Messe erschienen. Der eigentliche Grund aber war das Wiedersehen mit Ludwig. Um nichts in der Welt hätte sie dieses noch länger hinausschieben mögen.

Ihre beiden Kinder sind erschöpft von der langen Anreise, schon vor dem Morgengrauen hatten sie sich auf den Weg zum Bahnhof gemacht, um mit dem Zug bis zur nächsten Station zu fahren. Von dort aus konnten sie bei einem Kutscher aufsitzen und ein gutes Stück mit ihm fahren, die letzten vier Kilometer mussten sie jedoch zu Fuß gehen. Keine zehn Minuten nach ihrer Ankunft schlafen beide friedlich, Donatus auf der Kirchenbank, Anderl als Bündel in ihrem Arm.

Agathe blickt sich verstohlen um. Erst als sich die Gemeinde zum Gebet hinkniet, erkennt sie den braungebrannten Nacken und die sonnengebleichten Haare von Ludwig, der in diesem Moment seinen Kopf zur Seite dreht. Ein Schlag durchzuckt ihren Körper und für einen Moment ist sie davon überzeugt, dass der Herrgott sie für ihre sündigen Gedanken mit einem Herzanfall strafen wird. Doch nichts passiert, ihr Pulsschlag wird wieder ruhiger und ihre Atmung normalisiert sich.

Um sich abzulenken und nicht immer auf den sehnigen, verführerischen Hals zu starren, lehnt sie sich zurück und schließt die Augen. Einer jungen Mutter wird man es verzeihen, wenn sie sich kurz ausruht.

Sie denkt zurück an die erste Hochzeit, die sie als Sechsjährige hier erlebt hatte. 1880 hat der damalige Wirt für die Vermählung seiner Tochter, Ludwigs Tante, aus den Überresten der verfallenen Kapelle eine neue errichten lassen und sogar eine Glocke gespendet. Agathe war damals überwältigt vom prächtigen Kirchengebäude und dem ungewohnten Klang, der vom Kirchturm weit über das Dorf hinausgetragen wurde. Schon damals träumte sie von ihrer eigenen Hochzeit mit Ludwig an diesem Ort.

Panisch öffnet sie die Augen und schaut sich um. Nein, sie hat sich nicht versündigt. Sie hat nur an die Träume und Wünsche eines Kindes gedacht. Ihr Leben hat sich seitdem in eine ganz andere Richtung entwickelt. Sie ist nun die Frau eines anderen. Und dabei bei Weitem nicht so unglücklich, wie sie anfangs geglaubt hatte, gesteht sie sich selbst ein. Anton hat zwar ein rastloses Wesen, von Zeit zu Zeit kann er auch trübsinnig werden, aber dann denkt er wieder über ein neues Ziel nach, entwickelt einen neuen Plan und steckt auch sie mit seiner Hochstimmung an. Und seine liebevolle und zärtliche Art hat ihr bereits zwei Buben beschert, das kann sie nicht leugnen.

Dennoch spürt sie immer wieder dieses Sehnen nach dem anderen. So oft Agathe es sich auch aus dem Kopf schlagen will, Ludwigs Bild taucht immer wieder auf. Sie kann ihn nicht vergessen. Ist sie eine schlechte Christin? Nein, gibt sie sich gleich darauf selbst die Antwort. Sie ist ihrem Mann eine gute Frau und den Kindern eine gute Mutter. Was kann man mehr von ihr erwarten?

Wieder beginnen die Glocken zu läuten. Die Fledermäuse im Kirchturm lassen sich davon nicht beeindrucken und schlafen weiter bis zur Abenddämmerung, Agathe kennt das.

Die Messe ist zu Ende, alle Besucher bekreuzigen sich und verlassen wortlos die Kapelle. Nur die junge Frau bleibt mit ihren schlafenden Kindern zurück. Sie muss sich innerlich auf das Wiedersehen mit Ludwig vorbereiten. Schon als er beim Hinausgehen an ihrer Bank vorbeischritt, wurde ihr flau im Magen und in ihrer Brust begann es seltsam zu kribbeln. Anton erweckt dieses Gefühl in gewissen Situationen ebenfalls in ihr, daran muss sie nun denken. Die junge Mutter streicht den Buben liebevoll über den Kopf. Eigentlich kann sie zufrieden sein. Sie hat sich in Fichtenried eingelebt, Haus und Hof sind gut in Schuss, die Kinder wohlgeraten und entgegen aller Erwartungen ist ihre Ehe glücklich, auch wenn es vor ihr schon zwei andere Frauen an Antons Seite gegeben hat. Was will sie mehr vom Leben?

Ludwig wartet im Schatten der neu gepflanzten Linde hinter der Kapelle, bis der Pfarrer und der Mesner das Gebäude verlassen haben. Er schaut sich um und schlendert langsam zur Kegelbahn. Dann ändert er unvermittelt die Richtung und wendet sich dem Gotteshaus zu. So leise wie möglich öffnet er die schwere Eichentüre und betritt den düsteren, kühlen Gebetsraum.

„Ludwig!“, flüstert Agathe ihm zu und ihr erschrockener Blick wandert zwischen ihm und ihren schlafenden Buben hin und her.

Er meint einen leidenschaftlichen Ton in diesem einen Wort erkannt zu haben. Das Gesicht der jungen Frau ist jedenfalls mit einer schamhaften Röte überzogen und auf ihrem üppigen Dekolleté erscheinen hektische Flecken. Die beiden Schwangerschaften haben ihre Figur nicht verdorben. Ganz im Gegenteil, Agathe wirkt reizvoller denn je auf ihn, wie er erstaunt feststellt.

„Ich hätte es nicht bis heute Abend ausgehalten. Ich musste dich vorher schon sehen!“, gibt er entschuldigend zurück und setzt sich dicht neben sie auf die Holzbank.

„Wie geht es dir?“, ist alles, was sie darauf antwortet. Doch er kann ihre Aufregung spüren, ihre Brust hebt und senkt sich in einem schnellen Rhythmus unter dem eng geschnürten Leinenstoff. Er nimmt ihre linke Hand und streichelt sie behutsam.

„Jetzt, wo du da bist, geht es mir wunderbar. So gut wie schon seit Jahren nicht mehr!“

„Aber Ludwig, sag sowas nicht! Ich bin jetzt die Frau eines anderen. Für uns beide gibt es keine Zukunft mehr.“

„Das ist mir egal. Alles was zählt, ist deine Anwesenheit. Hier und Jetzt. Was morgen ist, interessiert mich nicht. Alleine, dass du heute gekommen bist, zeigt mir, dass es dir ähnlich geht. Du kannst mir nichts vormachen.“

Ohne Vorankündigung schließt Ludwig die junge Frau in seine Arme und gibt ihr einen leidenschaftlichen Kuss. Er spürt, wie ihr Herz noch einen Takt schneller schlägt und wie sie sich fest an ihn drängt. Als er sie genauso unvermittelt wieder loslässt und ruckartig aufsteht, fällt Agathe fast von der Kirchenbank. Einer der Buben schreckt durch ihre hektische Bewegung kurz auf, schließt jedoch sofort wieder die Augen und schläft weiter.

„Ich bin heute Abend mit dem Gebetläuten dran. Wir treffen uns danach in der Kegelbahn, ich werde den Schlüssel besorgen und aufschließen. Bis dann.“

Den letzten Satz hat er vom Eingang aus gesprochen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wenn er sie jetzt noch einmal ansehen würde, könnte er sich wohl nicht mehr von ihr lösen.

Agathe kann ihre Unruhe während der nächsten Stunden nur schlecht verbergen. Ihrer Mutter erklärt sie ihre Fahrigkeit damit, dass sie sich um Anton und den Hof sorgt. Diese Erklärung scheint ausreichend zu sein und die junge Frau wird nicht weiter mit Fragen bedrängt. So gut es geht, hilft sie beim Kochen und beim Ausbacken der Kirchweihküchel in Butterschmalz. Die beiden Buben spielen währenddessen in der sonnigen Stube, der Vater ist draußen auf dem Hof und bessert das Ochsengeschirr aus. Die Minuten wollen nicht vergehen. Endlich hört sie die ferne Kirchturmglocke, sie zählt im Stillen vier Mal für die volle Stunde und vier weitere Male. Ein Flattern geht durch ihren Körper, bis in die Fingerspitzen hinein spürt sie es.

Die Mutter kommt herein und fragt, ob der Kaffee schon fertig sei. Agathe schüttelt stumm den Kopf, hastet zur alten Kaffeemühle und gibt die Bohnen hinein. Donatus steht auf und will die schwergängige Kurbel drehen. Sie ist dankbar für die Ablenkung und zeigt dem Jungen, in welche Richtung er drehen muss. Für die nächste Stunde ist sie mit ihren Gedanken voll und ganz bei ihren Eltern und den Kindern. Doch als die Kirchturmglocke eine Stunde später erneut schlägt, kommt das Flattern zurück. Stärker als zuvor und mit schweißnassen Händen umklammert Agathe die feine Porzellantasse. Zur Kirchweihfeier hatte die Mutter das gute Geschirr mit den blauen Blumenranken aus dem Schrank geholt.

Nach endlosen dreißig Minuten gibt sie vor eine alte Schulfreundin besuchen zu wollen und macht sich auf den Weg nach Schmidheim. Die Buben bleiben bei den Großeltern. Die Sonne steht schon tief und wirft lange, bizarre Schatten auf den ausgefahrenen Hohlweg. Um sich abzulenken, sucht sie in den schwarzen Gebilden auf dem Boden Ähnlichkeiten mit Sagengestalten. Sie meint den Bilmesschneider mit seiner scharfen Sense zu erkennen, der einem armen Sünder mit einem raschen Schnitt die Kehle durchschneidet und die fette Drud, die ihre Opfer mit ihrem dicken Hinterteil erstickt.

Die Gedanken an die grausamen Gesellen lenken die junge Frau etwas ab. Kurze Zeit später erreicht sie den Hof vom Gruber. Schmidheim wird von den letzten Sonnenstrahlen in ein goldenes Licht getaucht und die Kirchturmspitze strahlt darin hell wie ein Stern. Plötzlich fällt die ganze Anspannung von Agathe ab. Hier ist ihr Zuhause, das weiß sie in diesem Moment genau. Auch wenn sie noch fünfzig Jahre in Fichtenried leben wird, dieses Gefühl wird sie nirgendwo anders empfinden können.

In diesem Moment taucht Ludwig auf. Er schlendert vom Wirtshaus in Richtung Kapelle. Gleich wird er mit dem Gebetläuten beginnen. Kurz vor dem Eingang schaut er sich verstohlen um, macht einen kleinen Schlenker zur angrenzenden Kegelbahn und sperrt die Tür auf. Dann verschwindet er in der Kapelle. Kurz darauf hört Agathe die Glocken läuten. Es klingt für sie nach einer Einladung. Einer Einladung nach Hause zu kommen.

Der darauffolgende Herbst war wie immer arbeitsreich gewesen. Aber als der einbrechende Winter Stille und Ruhe mit sich bringt, kann Agathe sich nicht mehr vor der Tatsache verschließen, dass sie zum dritten Mal Mutter wird. Und auch über die Vaterschaft braucht sie sich nichts vorzumachen. Sie hofft inständig, dass Anton nicht merken wird, wessen Kind sie in sich trägt.

Im Dorf wird viel über die Jahrhundertwende gesprochen, über allerhand Zeichen und Vorankündigungen spekuliert, die das zwanzigste Jahrhundert als Bedrohung erscheinen lassen. Agathe will sich dieses Geschwätz nicht anhören. Sie ist viel zu sehr mit ihrem eigenen Fehltritt beschäftigt. Sie will sich nicht eingestehen, was sie so sehr zu Ludwig hingezogen hatte. Nach ihrer Rückkehr aus Schmidheim hatte sie ihr normales Leben als Ehefrau weitergeführt und war glücklich gewesen. Abgesehen von ihrem schlechten Gewissen Anton gegenüber war sie dies auch jetzt noch.

Kurz hadert sie nun damit, ihre Missetat dem Pfarrer zu beichten. Sie hatte ja gegen das sechste Gebot verstoßen. Aber dann kommt sie zu dem Schluss, dass es weder die Kirche, noch den Pfaffen, noch sonst jemanden etwas anging. Die Tatsache, dass sie schwanger geworden war, empfand sie als Strafe genug. Damit und mit ihrem schlechten Gewissen, mit dem sie nun tagtäglich leben musste, würde sie hinreichend büßen. Und sie nahm sich vor, Schmidheim und die Kirchweih zumindest im nächsten Jahr zu meiden.

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