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Zwei

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Auf der Rückfahrt zum Verlag lassen Melchior die Bilder der brachliegenden Gegend, der wiederaufgebauten Kirche, der verlassenen und eingefallenen Häuser Schmidheims nicht mehr los. Seit er sich vom Pressesprecher verabschiedet hat, fühlt er eine ungeahnte Ruhe in sich. Es ist, als ob dieser einsame Ort alles in ihm zum Stillstand gebracht hätte. Alle drängenden Fragen sind verstummt. Der Spruch „Mit sich im Reinen sein“ fällt ihm ein. Ist er das?

Er fährt in die Tiefgarage der Zeitung, trägt penibel genau die Uhrzeit und die Anzahl der gefahrenen Kilometer in das Fahrtenbuch ein und gibt den Schlüssel an der Empfangstheke ab. Auf dem Weg zum Fahrstuhl, der ihn innerhalb von Sekunden in das Großraumbüro bringen wird, hält er plötzlich inne und gähnt. Der Gedanke an die Suche nach einem freien Platz im lauten Getöse des sterilen und kalten Großraumbüros wirkt lähmend auf ihn. Schlagartig werden seine Glieder tonnenschwer und er fürchtet, dass ihm schwarz vor den Augen werden könnte. Melchior ist sich sicher, dass sich sein Zustand mit dem Eintreten in den Newsroom noch weiter verschlechtern würde. Die Müdigkeit überfällt ihn oft in ganz unvorhergesehenen Situationen, manchmal sogar im Gespräch mit anderen. Er macht auf dem Absatz kehrt, nickt der Empfangsdame kurz zu und verlässt das Gebäude durch die lautlos auseinandergleitenden Glastüren des Haupteingangs. Die frische Luft vertreibt das taumelige Gefühl sofort.

Er blinzelt einer grellen, aber kalten Märzsonne entgegen. Gegenüber, vor dem gerade neu eröffneten Café, legt eine junge Frau rote Wolldecken auf die dunklen Stühle hinter den silbernen Metalltischen. Er überquert die Straße, setzt sich auf einen leeren Platz und holt sein Smartphone aus der Tasche. Umständlich tippt er eine Nachricht an die Redaktionsleiterin, die zwanzig Jahre jünger sein muss als er selbst, und verspricht ihr den Text mit den passenden Bildern bis Redaktionsschluss. Sekunden später kommt ein schlichtes „OK“ zurück. Sie kennt ihn als gewissenhaften Redakteur und hat die Geschichte wahrscheinlich schon in diesem Moment wieder vergessen. Wo und wann er seine Berichte schreibt, ist ihr egal. Für sie zählt nur, wie viel Platz sie freihalten muss, wie viele Pixel das Bild hat und wie viele Spalten der Text. Alles Weitere überlässt sie seinem Können und vertraut auf seine jahrelange Erfahrung, das weiß er.

Melchior bestellt einen doppelten Espresso, ein Garant, um sich wachzuhalten, dazu ein Glas Leitungswasser. Er lässt seinen Blick über das Gelände auf der anderen Straßenseite wandern. Ein riesiges Stück Bauland, eingegrenzt von Eisenbahnschienen, dem Verlagsgebäude und Wohnbauten, tut sich vor ihm auf. Im Showroom nebenan sind die Wohnträume zahlreicher Doppelverdienerfamilien auf Hochglanzprospekten ausgestellt. Schon bald werden riesige Bagger die braune Erde aufreißen und Unmengen von Beton in die dunklen Löcher hinabfließen. Arbeitskräfte aus Osteuropa, die während der Bauzeit in schmucklosen Containern neben der Baustelle hausen müssen, werden in Schichtarbeit Fertigbauteile zusammenfügen und so die unverschämt teuren Gebäudekomplexe errichten. Hatte sich nicht ein örtlicher Bauträger letzte Woche in der Presse damit gebrüstet, ein kürzlich realisiertes Stadtquartier mit Neubebauung ohne nennenswerte Gewinne veräußert zu haben? „Zum Wohle der Stadt“, das waren seine Worte. Melchior fragt sich ernsthaft, wie dieser dies trotz der schwindelerregend hohen Quadratmeterpreise und der billigen Arbeiter aus dem Osten oder sonst woher schaffen konnte. Bei dem Gedanken daran, wie sich scheinbar alle Bauvorhaben in dieser Stadt zu gleichförmigen, gesichtslosen Wohntürmen entwickelt haben, schüttelt Melchior den Kopf und versucht, sein Unwohlsein mit dem letzten Schluck Espresso zu vertreiben.

Er steht auf und macht sich zu Fuß auf den Weg zu seiner Wohnung. In drei Stunden muss der Artikel stehen.

Zuhause am Schreibtisch holt er seine Notizen heraus und überfliegt diese. Sein Mobiltelefon piept und zeigt eine neu eingegangene Email an. Er tippt umständlich den sechsstelligen Code zum Entsperren ein und ruft die Nachricht ab. Der Pressesprecher hat ihm wie versprochen jede Menge Material über Schmidheim geschickt. Auf gut Glück öffnet Melchior die Datei „Ehemalige Bewohner.doc“ und scrollt durch die Liste mit Familien- und dazugehörigen Hausnamen. Bei „Bichlmeier - Hausname Blombauer“ bleibt er intuitiv stehen. Melchior schaut in seinen Notizen nach, ob der Pressesprecher diesen Namen erwähnt hatte. Fehlanzeige. Woher kennt er ihn nur? Ein ungutes Gefühl überkommt ihn. Hat es etwas mit Fichtenried zu tun? Mit seiner ehemaligen Heimat verbindet der Redakteur eher unschöne Gedanken. Allein seine Großeltern Anderl und Theres und seinen besten Freund Franzi hat er in positiver Erinnerung. Aber in Fichtenried gab es keine Familie Namens Bichlmeier. Oder doch? Ihm fällt der Stammbaum ein, den ihm seine Großcousine Annette vor einiger Zeit zugeschickt hatte. Schnell hat er den Ordner gefunden, in dem das Papier abgeheftet ist. Er nimmt das DIN A3 Blatt heraus, faltet es auseinander und findet tatsächlich den gesuchten Namen gleich zweimal notiert: Sabina Bichlmeier und Agathe Bichlmeier. Mit dem rechten Zeigefinger fährt er die feinen Linien und Verästelungen nach, bis er schließlich auf seinen eigenen Namen stößt. Beide Frauen waren mit seinem Urgroßvater Anton Beerbauer verheiratet, Agathe hat sich mit dem Witwer nach dem Tod von Sabina vermählt und ist in direkter Linie seine Urgroßmutter und Mutter seines Großvaters Anderl. Geboren wurde sie im Jahr 1874 in Schmidheim.

Tausend Bilder und Erinnerungsfetzen tauchen vor seinem inneren Auge auf. Mit eingesunkenen Schultern, nach unten geneigtem Kopf und geschlossenen Augen sitzt Melchior da und wird von einer Welle aus Emotionen überspült. Es fühlt sich wohlig und warm an, als er an seine Kindheit zurückdenkt, an die liebevollen Großeltern und an Franzi, den besten Freund, den er je hatte. Doch schnell wird die Wärme von der Angst um den Großvater verdrängt. Dieser war an einem heißen Sommertag im Juli 1973 spurlos verschwunden. Melchiors Handflächen werden kalt und schweißnass und er spürt, wie das beklemmende Gefühl von seinem ganzen Körper Besitz ergreift. Die Erinnerung an die Suche nach dem vermissten Anderl, das Polizeiaufgebot, die Helfer vom Roten Kreuz, die Taucher, ist so präsent, als ob es erst gestern passiert wäre. Seine Mutter konnte ihm damals keinen Halt geben, sie war selbst wie paralysiert. Nur Franzi wich keine Sekunde von seiner Seite, er half ihm durch die schweren Stunden der Ungewissheit und stand ihm bei, als sie den leblosen Großvater im dornigen Gestrüpp endlich fanden. Erst Tage später, nachdem Franzi Melchior zurück in die Stadt, in sein kleines, abgeschiedenes Zimmer im Goldenen Turm gebracht hatte, weit genug weg vom Schrecken und von Fichtenried, trennten sie sich. Das war der Zeitpunkt, an dem ich erwachsen wurde, denkt er nun unvermittelt.

Melchior redet sich ein, dass ein Telefongespräch mit seiner Großcousine Annette Teil seiner Recherchearbeit über Schmidheim wäre. Doch tief im Inneren weiß er, dass das nicht stimmt. Nur weil sie ihm den Stammbaum geschickt hat, heißt das noch lange nicht, dass sie etwas über den Ort weiß. Trotzdem sucht er auf dem ebenfalls im Ordner abgehefteten Anschreiben nach ihrer Telefonnummer. Zu seinem Erstaunen wohnt sie nur ein paar Straßen weiter. Wie kann es sein, dass ihm diese Tatsache nicht schon vorher aufgefallen ist? Ist er Annette womöglich schon einmal über den Weg gelaufen und hat sie nicht erkannt? Natürlich hätte er sie nicht erkannt! Es muss schon Jahrzehnte her sein, seit er sie zum letzten Mal gesehen hat. Es muss Anfang der 1970er Jahre gewesen sein, bei der Beerdigung ihrer gemeinsamen Großtante Sabina. Annette war damals ein schüchternes Kind, er selbst nur ein paar Jahre älter. Die Erinnerung an diesen Tag ist mit einem Mal wieder da. Er stand bei seinen Großeltern Theres und Anderl am Grab, seine Großcousine gegenüber. Sie wirkte einsam und verlassen, obwohl ihre Mutter direkt hinter ihr war. Als schließlich die erste Schippe Erde hohl auf dem Sarg aufschlug, fiel das Mädchen auf die Knie und begann zu schluchzen. Doch niemand kümmerte sich um sie, nicht einmal ihre Mutter nahm sie tröstend in die Arme. Vielmehr hatte Melchior den Eindruck, als ob diese sich ablehnend wegdrehte. Irgendetwas verband wohl die alte Frau und das Kind, sonst hätte der Tod die Kleine nicht so mitgenommen. Dass er sich nur kurze Zeit später selbst so einsam und verlassen fühlen würde, am Grab seiner Großmutter Theres, hatte er damals noch nicht ahnen können.

Würde er nicht bereits sitzen, hätte Melchior Angst davor umzukippen. Der Boden schwankt unter seinen Füßen. Es ist wirklich lächerlich, versucht er sich selbst Mut zuzusprechen. Ich rufe ständig Menschen an, wichtige und unwichtige, interviewe sie, kitzle Geheimnisse aus ihnen heraus, spreche über unangenehme Dinge. Wieso sollte dieses Gespräch anders sein? Aber er kann sich nichts vormachen, diese Situation war anders. Mit diesem Anruf würde er eine Verbindung zu seiner Vergangenheit herstellen, einen Draht zurück in eine Zeit spannen, die er lieber verdrängen und vergessen würde.

Er spürt wieder seine klammen, schweißnassen Hände und sein Blut scheint ausschließlich im unteren Drittel seines Körpers zu zirkulieren. Komm schon, es ist nur ein Anruf! Der Gedanke daran, dass nur ein paar Straßen entfernt Annettes Telefon läutet, lässt Melchior zurückzucken und den Hörer aus der Hand gleiten. Jetzt sei nicht kindisch! Es ist wieder die strenge Stimme, die zu ihm spricht. Sklaventreiber, nennt der Redakteur sie oft zum Spaß. Er hat ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Stimme. Meist hilft sie ihm dabei, seine Artikel rechtzeitig fertigzustellen, Termine einzuhalten und an Sachen dranzubleiben. Doch in Momenten wie diesen verflucht er sie. Am liebsten würde er zurückbrüllen: Halt dein Maul, verzieh dich! Doch die Neugierde hindert ihn daran. Er denkt wieder an den verlassenen Ort, die verfallene Wirtschaft, das zur Fledermaushöhle umfunktionierte Kirchlein. Und an den Namen Bichlmeier.

Ruckartig steht er auf, springt zweimal hoch und reibt seine Handflächen aneinander. Das Blut beginnt wieder im ganzen Körper zu zirkulieren, seine Finger werden gelenkig und warm. Ohne sich noch weitere Gedanken zu machen, hebt er sein Handy auf und tippt ungelenk die Nummer seiner Großcousine ein.

„Ja? Hallo?“

Eine angenehme Frauenstimme dringt gedämpft an sein Ohr.

„Ja! Hier ist Melchior. Melchior Beerbauer. Wir sind …“, er räuspert sich. „Wir sind verwandt.“ Eine noch blödere Einleitung ist dir wohl nicht eingefallen, höhnt der Sklaventreiber.

Für zehn Sekunden herrscht Schweigen. Dann raschelt es in der Leitung. Melchior nimmt wahr, wie Enttäuschung sich in ihm ausbreitet. Sollte das Gespräch damit schon beendet sein? Doch im nächsten Moment hört er wieder die wohltuende Stimme, glasklar, als ob sie direkt neben ihm stehen würde.

„Wir müssen uns dreißig Jahre oder länger nicht mehr gesehen haben! Hast du meine Post bekommen?“

In ihrer Aussprache liegt ein vertrauter Klang, in dem Wärme mitschwingt. Melchior wird augenblicklich von einer Woge der Zuneigung erfasst. Wie kann das sein?

„Ja. Danke dafür.“ Auch er versucht freundlich und zugewandt zu klingen. „Das ist eigentlich der Grund meines Anrufs. Geht es dir gut? Wo bist du?“

„Mir geht es sehr gut. Ehrlich gesagt so gut wie schon seit Jahren nicht mehr. Im Moment bin ich in Malta und arbeite dort ehrenamtlich für eine Hilfsorganisation in der Seenotrettung.“

„Auf dem Mittelmeer?“

Die glasklare Verbindung hat ihn getäuscht. Er merkt, wie traurig er darüber ist.

„Nein. Ich helfe im Hafen von Malta beim Crewwechsel. Auf See hab ich mich noch nicht getraut.“

„Und wie lange wirst du weg sein?“

„Das kann ich noch nicht genau sagen. Die Saison hat gerade erst angefangen. Die Einsätze gehen bis in den Herbst hinein. Mal sehen, wie lange ich es hier aushalte.“

Enttäuschung überkommt ihn. Irgendwie hatte er angenommen, dass er Annette persönlich treffen könnte. Das war nun schlecht möglich.

„Aber du wolltest etwas ganz anderes wissen? Etwas über den Stammbaum, den ich dir geschickt habe?“

„Ja. Stimmt. Stell dir vor! Ich schreibe gerade einen Artikel über die Vertreibung der Menschen rund um den Truppenübungsplatz Hohenfels Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich habe heute das ehemalige Dorf Schmidheim besucht und bin dabei auf den Namen Bichlmeier gestoßen. Diesen Namen habe ich nun auf unserem Stammbaum wiedergefunden! Unsere Urgroßmutter stammte aus diesem Dorf!“

Nun fühlt er sich wie ein Zauberer, der dem Publikum einen besonders spektakulären Trick gezeigt hat.

„Also genau gesagt ist es nur deine Urgroßmutter. Unser Urgroßvater war dreimal verheiratet. Ich stamme aus direkter Linie seiner ersten Frau ab.“

Ein angenehmes Lachen dringt durch den Hörer.

„Aber wir haben immerhin denselben Urgroßvater.“

Im nächsten Moment wird Annette wieder ernst.

„Und wir beide sind die letzten aus dieser Familie. Wusstest du das?“

Nun ist der Redakteur verwirrt. Er war immer der Meinung, dass er aus einer weitverzweigten Familie abstammte und es noch unzählige Verwandte gibt. Er geht zum Schreibtisch zurück und schaut sich den Stammbaum an. Es stimmt, außer ihm und Annette scheint niemand mehr da zu sein.

„Bist du dir da sicher? Vielleicht hat einfach jemand vergessen, den Stammbaum weiterzuführen?“

„Ich bin mir sicher. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich mich lange mit unseren Vorfahren und deren Geschichte beschäftigt. Ich habe alte Briefe gelesen, Fotos sortiert und Geburts- und Sterbeurkunden studiert. Es ist niemand mehr da. Nur wir beide. Wie es scheint, sterben die Beerbauers mit uns aus. Soviel ich weiß, hast du keine Kinder. Und dass ich keine habe, kann ich dir mit Sicherheit sagen.“

Ihr Tonfall ist weder verbittert noch drückt er Bedauern aus. Melchior hat das Gefühl, als ob Annette mit dieser Tatsache kein Problem hätte. Ganz anders als er. Tausend unterschiedliche Gedanken und Bilder tauchen auf. Franzi, Fichtenried, sein Großvater Anderl und seine Großmutter Theres. Seine Knie werden wieder weich und er kann nicht anders, als sich auf seinen Bürostuhl fallen zu lassen. Plötzlich sieht er nur noch ein Bild vor sich: einen struppigen Wolf, der einsam durch das verlassene Dorf Schmidheim streift.

Jetzt reiß dich zusammen! Der Sklaventreiber ist wieder da. Diesmal ist Melchior dafür dankbar. Seine Gedanken werden wieder klar.

„Über Schmidheim selbst weißt du vermutlich nichts?“

Es ist eine rhetorische Frage. Wie erwartet verneint Annette. Melchior will das Gespräch so schnell wie möglich beenden. Auch wenn er positiv von seiner Großcousine überrascht ist und sofort eine Verbindung gespürt hat, fällt es ihm nun schwer weiterhin locker und leicht zu plaudern. Er verabschiedet sich höflich und wünscht ihr viel Erfolg für ihre Mission. Melchior schafft es mit letzter Kraft, nicht abweisend und schroff zu werden. Ganz kurz flackert ein Wunsch in ihm auf: Vielleicht hätte er ihr die Wahrheit sagen können? Doch so schnell dieser Gedanke gekommen ist, so schnell verschwindet er auch wieder.

Die Minuten verstreichen wie Sekunden. Melchior sitzt mit starrem Blick an seinem Schreibtisch, kratzt sich an der Stirn, fährt mit den Fingern den faltig gewordenen Hals entlang und prüft dabei die Elastizität seiner Haut. Diese lässt von Jahr zu Jahr nach. Er wird alt.

Das Bild des einsamen Wolfes taucht wieder auf und mit ihm ein Unwohlsein, das der Journalist immer noch nicht einordnen kann. Verzieh dich aus meinen Gedanken, will er brüllen. Lass mich in Frieden. Du und ich, wir haben nichts gemeinsam.

Sein Blick fällt auf die Zeitanzeige auf seinem Bildschirm und er gähnt. Nur noch zwei Stunden, dann muss er den Text für die Redaktion fertig haben. Der innere Antreiber in ihm erwacht. Er scheucht den Redakteur in die Küche und lässt ihn einen starken Espresso kochen. Melchior nimmt die dickwandige Tasse mit zum Schreibtisch und öffnet die Email des Pressesprechers.

Die nächsten dreißig Minuten liest er aufmerksam alle Dokumente über Schmidheim und die beiden Ablösewellen rund um das Gebiet des heutigen Truppenübungsplatzes, notiert sich Jahreszahlen, Dorfnamen und wichtige Eckdaten. Dann sucht er nach einem Aufhänger für den Beitrag, nach einem guten Einstieg. Er bleibt bei einem alten Zeitungsartikel aus dem Herbst 1951 hängen, der den letzten Schultag einer Handvoll Schmidheimer Schüler beschreibt. Wie sie vom Lehrer mit einer besonderen Ansprache verabschiedet werden, wie sie unter den mitleidigen Blicken der Mitschüler das Schulhaus verlassen, mit einem großen Fragezeichen im Gesicht. Wie sie daheim auf die eigenen Eltern treffen, die ebenfalls wie gelähmt wirken und den Kindern keinen Halt in dieser Ausnahmesituation bieten können.

Melchior ist erstaunt, wie empathisch der Schreiber eines kleinen Lokalblatts vor fast siebzig Jahren die Situation beobachtet und beschrieben hat. Er sieht förmlich die Verwirrung der Kinder vor sich, spürt fast die ablehnende Haltung der Eltern, die nicht gelernt haben, für ihre eigenen Söhne und Töchter da zu sein und ihnen in dieser schwierigen Zeit beizustehen. Die einfühlsamen Schilderungen passen so gar nicht in die 1950er Jahre, in denen der Ton eher rau und streng war. Aber ihm bietet die außergewöhnliche Sichtweise des Journalisten nun eine optimale Vorlage, einen grandiosen Einstieg in die Geschichte, die er nun schreiben wird, und er freut sich auf die vor ihm liegende Aufgabe.

Wolfsgrund

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