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II

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Den afrikanischen Namen Mamadou hat mir Aziz gegeben. Aziz lebt von Wertkarten für Mobiltelefone, dort, wo die Corniche in Dakar nach links in das Plateau hineinbiegt und wo jeden Morgen der Verkehr zum Erliegen kommt. Manchmal stehen die Autokolonnen schon einige hundert Meter früher und die Straßenverkäufer müssen die Gunst des Morgenstaus rasch nutzen, um die verschiedensten Waren an den Mann, manchmal auch an die Frau zu bringen, denn wer nicht rasch genug handelt, wird von den wie aus dem Nichts auftauchenden Konkurrenten verdrängt. Sicherer ist das Geschäft jedenfalls vor der ersten Ampel des Boulevards, der das Plateau durchschneidet, wo man sich, aus der Weitläufigkeit der breiten Uferstraße kommend, plötzlich eingeengt fühlt und wo die Polizei öfters auch die Obdachlosen vertreibt.

Zu diesen zählte auch ich, nachdem mein Visum abgelaufen und meine Geldreserven erschöpft waren. Das Visum war bereits mehrmals verlängert worden, da aber mein Aussehen immer mehr dem eines Clochards glich, verwies man mich bei der Fremdenpolizei des Büros. Man wolle arbeitende Ausländer oder Touristen im Land, keine europäischen Aussteiger und Sozialfälle. Würde ich das Land nicht vor Ablauf des Visums verlassen, hätte ich bald Gelegenheit, ein Gefängnis des Landes kennenzulernen. Diese Drohung nahm ich zwar nicht sehr ernst, denn noch nie war man hier eines Ausländers mit illegalem Aufenthalt habhaft geworden, aber allein die Vorstellung ließ mich erschauern, hatte ich doch Fotos gesehen von überbelegten Massenzellen, wo alle seitlich, in dieselbe Richtung gedreht, schlafen müssen. Mir fiel die Geschichte mit der genormten Gurkenkrümmung ein, dieser bekannten bürokratischen Überregulierung in Europa, die eine bessere Verpackungskapazität bewirken sollte.

Nun war ich ein Illegaler in einem Land, das seinerseits selbst einige Illegale in meiner Heimat stellt. Meine Heimat – aber die gab es gar nicht mehr. Ich war von ihr in meiner Erinnerung durch ein dunstartiges Gebilde getrennt, eine Wolke, die mich nicht mehr erkennen ließ, woher ich kam. Und wohin ich wollte – ich wusste es noch weniger. Ich hatte damit aufgehört, über den Augenblick hinaus zu denken.

Dass es eine diplomatische Vertretung meines mir nicht mehr präsenten Heimatlandes in dieser Stadt gab, war mir wegen dieser Wolke konsequenterweise ebenso wenig bewusst.

Ich fing an, die Autokolonnen im Abendstau entlangzugehen und die Insassen um »ein Stück« (une pièce) anzubetteln. Une pièce, dabei handelte es sich um eine Geldmünze, die zwar einen dreistelligen Betrag aufwies, mit der man aber nur etwas mehr als ein halbes Weißbrot zu erstehen vermochte.

Ich erinnere mich noch deutlich an die erstaunten Gesichter und die Frage, warum ein Toubab jetzt anfinge, die Schwarzen anzubetteln. Es gab auch einige weiße Autofahrer – in der Stadt ist eine nicht unbeträchtliche Zahl von Botschaften, internationalen Organisationen, Sekretariaten und sonstigen internationalen Hilfsvereinen angesiedelt, die meist über stattliche Geländeautos verfügen, auch von Weißen chauffiert –, die mich erstaunt, teils teilnahmsvoll, teils verächtlich behandelten. »Ein Weißer, der bei den Schwarzen bettelt – wir verlieren den letzten Rest unseres Ansehens«, hatte mir einmal ein vierschrötiger Typ mit Strohhut vom Volant aus zugerufen und den elektrischen Fensterheber betätigt.

Aziz war am zweiten Tag auf mich aufmerksam geworden, als ich im dichten Verkehr fast unter die Räder gekommen wäre, nachdem ich von einem der ausladenden Außenspiegel umgerissen worden war. Zwei junge Burschen halfen mir auf und brachten mich an den Straßenrand in Sicherheit, ungeachtet des damit verbundenen Umsatzverlusts, denn an diesem Tag waren die Telefonwertkarten wegen einer Sonderaktion (100 Prozent plus!) besonders begehrt, und deren Erwerb hatte den Stau offenbar noch zusätzlich verstärkt. Ich lag neben einem der frisch gepflanzten Bäumchen, die das frühere Ödland zwischen der Corniche und dem Absturz hinunter zum Meer verzieren, seit sich die Stadtverwaltung im Angesicht der bevorstehenden Wahlen die Verschönerung der Küstenlandschaft auf die Fahne heften wollte.

Aziz war Capo der Wertkartenverkäufer. Ein wohl zwei Meter großer Mann mittleren Alters, der etwa ein Dutzend junger Burschen zu koordinieren versuchte. Es blieb wohl beim Versuch, denn die Verkäufer waren alle selbstständig und rechneten direkt mit dem Mobilfunkbetreiber Orange ab. Dennoch lieferten sie Aziz einen Teil ihres bescheidenen Verkaufsgewinns ab, und er sorgte dafür, dass in seinem Abschnitt keine neuen Konkurrenten auftauchten. Als Bettler war ich kein Konkurrent, und so versuchte er auch nicht, mich zu vertreiben. Als er mich im dürftigen Schatten des jungen Bäumchens liegen sah, wurde er zu einem barmherzigen Samariter: »Was musst du dich auch zwischen den Autos herumdrängen, überlass das doch den Jungen – oder den ganz Alten, denen gibt man eher une pièce als einem Weißen, der weder jung noch alt ist, weder besonders verwahrlost noch besonders durchgeistigt oder religiös wirkt.« Er gab mir eines seiner Trinkwassersäckchen, dessen lauwarmen Inhalt ich auf einen Zug leerte. Er hatte recht, damals war meine Kleidung noch nicht sehr zerrissen, Hemd und Hose wirkten recht europäisch, ich hätte mir wohl einen der afrikanischen Boubous umhängen sollen. Aziz brachte mir meinen Sack, der einige hundert Meter von meinem jetzigen Standort lag, so weit hatte sich der Anfang des Staus bereits hinaufverschoben.

»Was machst du eigentlich hier? Du bekommst doch sicher ohnehin von deiner Regierung oder deiner Botschaft Unterstützung? Davon hören wir immer wieder. Bei uns ist es die Familie, die zusammenhält und sich gegenseitig unterstützt. Hast du keine Familie – hier oder zu Hause?«

Ich konnte ihm keine Antwort geben, zu weit weg waren in Zeit und Raum Eltern und Geschwister oder die Frau, deren Namen ich verdrängt und deretwegen ich Europa einst verlassen hatte. Oder war es aus einem anderen Grund gewesen? Ich vermag es nicht mehr eindeutig zu sagen. Alles wollte ich vergessen, und schließlich war es mir auch gelungen, zumindest vorübergehend, damals am Festland, auch wenn jetzt das Schaukeln der Wellen wieder schemenhafte Figuren aufsteigen lässt, die aber von unserem Boot noch weit entfernt sind.

Aziz ließ mich damals am Abend an seinem Reis teilhaben, von dem ich gierig Hände voll herausschaufelte. »Mamadou« – er hatte mir auf einmal selbst einen Namen gegeben, ohne mich nach meinem echten Namen zu fragen, obwohl der Namen üblicherweise als erstes erfragt wird –, »Mamadou, nur mit der rechten Hand essen!«, ermahnte er mich mehrmals. Wir saßen etwas unterhalb der Kante, dort, wo das Plateau zum Meer hinunter abbricht, um nicht von den Polizisten, die abends die Corniche von Obdachlosen freizuhalten versuchten, vertrieben zu werden. Aziz hatte zwar eine Schlafstelle bei seiner Schwester, war aber gerade mit ihr zerstritten, weil er nicht genügend für den gemeinsamen Haushalt beisteuerte, und kam nur selten in ihr Haus, eigentlich einen Bretterverschlag am Rand des HLM-Marktes, um sich etwas zum Anziehen zu holen.

Von nun an war ich als Mamadou bekannt, einer der Unzähligen, die diesen Namen hier tragen, sicher der einzige mit weißer Hautfarbe, aber nichtsdestotrotz einer der vielen Mamadous, die täglich die stauenden Autos auf- und abliefen. Einige Monate vorher war ich fast noch wie ein Aussätziger behandelt worden, obwohl ich damals noch nicht gebettelt, sondern nur die Tage an der Corniche verbracht hatte, vielmehr auf der kahlen unbebauten Stelle hin zum Abbruch. Damals waren die ersten Vorbereitungen für die Verschönerung dieser verwahrlosten Stein- und Sandwüste getroffen worden. Die großen Betonröhren, die schon vor längerer Zeit dort abgeladen worden waren, ohne dass man wusste wozu, dienten mir als Schlafstätte. Diese musste ich oft verteidigen, manchmal sogar tätlich, wenn jemand behauptete, ich hätte ihm seinen angestammten Platz weggenommen und dann lautstark die Hilfe der anderen anforderte. Ich verstand es aber meist, mich durchzusetzen. Ich bin zwar kein Ringer, wie eines dieser Volksidole, doch hatte ich einmal Judo und Selbstverteidigung gelernt, und das reichte meist aus.

Irgendwie geschah es, dass ich vorübergehend bekannt wurde. Angeblich (ich hörte all das nur von einigen meiner täglichen Kontakte auf der Corniche) berichteten sogar mehrere Zeitungen über den europäischen Gestrandeten, den »Gefangenen der Corniche«, obwohl ich die Versuche der Journalisten, mir Aussagen zu entlocken, abwehrte. Sie waren recht zudringlich, einer quetschte sich sogar zu mir in die Betonröhre. Aus seinem Redeschwall war auch das Wort »Diogenes« zu vernehmen, womit er wahrscheinlich seine Bildung unter Beweis stellen wollte. Ich tat so, als ob ich des Französischen nicht mächtig sei und auch nicht des Englischen, als er ein paar Brocken in dieser Sprache anzubringen versuchte. Schließlich gab er es auf und erfand für seinen Artikel eine gute Story. Angeblich sei ich in meiner Heimat verfolgt worden, weil ich mich dort zu sehr für ausländische Flüchtlinge eingesetzt hätte und sei damit meinerseits zu einem Verfolgten geworden. Andere Zeitungen ergingen sich in weniger schmeichelhaften Vermutungen, von einem flüchtigen Betrüger war die Rede, von jemandem, der, da mit einem Fluch behaftet, aus seiner Gesellschaft verstoßen worden sei. Afrikanische Denkweisen wurden auf mich übertragen, die sich sogar zur Mutmaßung verstiegen, ich sei in Wirklichkeit ein heiliger Mann (wobei man nicht so weit ging, mich mit den Marabouts, die in diesem Land Bruderschaften gegründet hatten, zu vergleichen), der Wunder bewerkstelligt und Kranke heilt, wofür er von der europäischen Schulmedizin strengstens verfolgt werde.

Nach einer Woche erlahmte das Interesse, ein besonders grausamer und ungeklärter Mordfall am anderen Ende der Stadt hielt alle in seinem Bann.

Die anderen Okkupanten der Corniche hatten mich nunmehr aber akzeptiert. Mittlerweile hatte ich meine letzten Franc-Scheine aufgebraucht und begann mit dem Betteln. Es kostete mich erst einige Überwindung, die Hand auszustrecken und ein paar Worte auf Wolof, die mir ein alter Bettler beigebracht hatte, zu sagen. Dann merkte ich, es war wirklich ganz einfach, die Hand auszustrecken und Münzen einzusammeln. Einer der Weißen, die mich zur Rede stellten, meinte, diese Methode werde vom ganzen Land angewendet, auch von der Regierung, und da gehe es um mehr als nur um Münzen.

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