Читать книгу Rückkehr nach Europa - Gerhard Deiss - Страница 9

IV

Оглавление

Coumba kannte ich noch nicht, als ich auf der Corniche zu betteln begann. Und was hätte sie auch dort gesucht – eine junge Frau mit einer festen Anstellung, die noch dazu am anderen Ende der Stadt wohnte. Ein eigenes Auto hatte sie auch nicht, da sie weder zu den wenigen begüterten Afrikanern zählt noch zu jenen, die sich schwer verschulden, um ein solches ihr Eigen nennen zu können, und sei es auch nur eines der üblichen betagten rostigen Erbschaften aus Europa – wie man ja hier auch sonst eine große Menge Abfall aus Europa erhält.

Coumba wohnte an der Innenseite der wie ein Fischerhaken ins Meer geworfenen Dreiviertelinsel, die sich Dakar nennt, etwas nördlich des Hafens, dort, wo das Meer eine große Bucht mit nur schwachen Strömungen bildet, in die sich die Abwässer der Millionenstadt ergießen und nicht von heftigen Wogen und Strömungen wie an der Nordseite der Stadt weggespült werden, kurz: dort, wo das an feine Sandstrände grenzende Meer sich in eine stinkende Kloake verwandelt. Coumba ist nicht in Dakar aufgewachsen, sondern erst mit sechzehn Jahren aus einem Dorf im entlegenen Süden des Landes hierher zu ihrer Schwester gezogen. Diese ist mit einem Koch verheiratet, der das Glück hat, bei einem ausländischen Diplomaten angestellt zu sein, womit sein Gehalt das sonst übliche beträchtlich übersteigt. Coumba hat von ihrer Mutter das Schneiderhandwerk erlernt, nachdem sie mit vierzehn Jahren die Schule verlassen hat. Dieses in Dakar auszuüben, daran war anfangs nicht zu denken, sie sollte ja vor allem auf die kleinen Kinder ihrer Schwester aufpassen, die ihrerseits auch eine Beschäftigung beim Arbeitgeber ihres Mannes gefunden hatte. Doch nach und nach bekam Coumba wieder die Möglichkeit zum Schneidern, und da sie geschickt und voller Einfälle war, fand sie Arbeit in einer Schneiderwerkstatt unweit der Wohnung, sodass sie ihrerseits ein Mädchen bezahlen konnte, das die Kinderbeaufsichtigung übernahm. Dem Schwager war es anfangs nicht recht, dass sich seine Schwägerin aus ihrer familiären Pflicht wegstahl, noch dazu war das Kindermädchen eine Christin, deren religiösen Einfluss er als gläubiger Muslim fürchtete. Im Lauf der Zeit fand sich die Familie mit der neuen Situation zurecht, was auch dadurch erleichtert wurde, dass Coumba einen großen Teil ihres Lohns an Schwester und Schwager ablieferte und mit dem Rest ihren Ersatz bezahlte. Coumba verdiente sehr rasch besser als ihre Kolleginnen, so sehr war die Chefin vor ihrem Talent begeistert.

Coumba hat mich kennengelernt, ohne dass ich sie bemerken konnte. An einem der schwülheißen Oktobertage, wenn die Luft stillsteht und wie ein dicker Wattebausch die Stadt umfangen hält – eine Beengung, der nur die wenigen glücklichen Besitzer von Klimaanlagen und Generatoren entgehen oder jene, die zumindest die Wächter der immer zahlreicher werdenden modernen Einkaufszentren täuschen, um sich in klimatisierte Hallen einschleichen zu können. Am 1. Oktober, daran erinnere ich mich genau, brach ich auf der Corniche zusammen, zwischen zwei wieder in Bewegung geratenden Autokolonnen. Die Autofenster waren wegen der Hitze meist geschlossen und wurden zum Almosengeben nicht geöffnet, zu lethargisch waren die Insassen selbst trotz der Klimaanlagen. Wie man mir später sagte, lag ich so, dass an mir kein Auto hätte vorbeifahren können. Bei aller Gleichgültigkeit und Erschöpfung wollte man mich aber doch nicht überfahren. So zog man mich an den Straßenrand und ließ mich dort liegen. Die Fahrbahn war wieder frei. Coumba verfolgte die Szene von einem Taxi aus einige Autos weiter hinten. Als schlussendlich ihr Taxi auch wieder hätte weiterfahren können, ließ sie es anhalten, was für einen neuen Stau und ungeduldiges Hupen sorgte. Sie stieg aus, sah mich in der prallen Sonne liegen und konnte den Taxifahrer überreden, ihr zu helfen und mich auf den Rücksitz zu ziehen, wo ich halb bewusstlos vor mich hin dämmerte.

»Aber was fangen wir mit dem an, Mademoiselle, ich will nicht, dass jemand in meinem Taxi stirbt oder es verschmutzt«, protestierte der Fahrer zunächst. Coumba steckte ihm einen 5000-Franc-Schein zu und ließ mich zu der nächsten Klinik fahren. Diese war ein Privatinstitut, wo sich herausstellte, dass ihr Bargeld nicht reichte, um mir den Zutritt zu verschaffen. Schließlich überredete sie den Rezeptionisten, dem sie eine baldige Begleichung der Mindestsumme von 100.000 Franc versprach und dem sie ihr neues Smartphone als Sicherheit hinterließ. Der Arzt schob mich dann etwas widerwillig in eine Röhre, schlecht riechende und zerlumpte Patienten war er offenbar nicht gewohnt. Ich erwachte aus meinem Dämmerzustand, als ich draußen in einem der breiten Fauteuils des Eingangsbereichs lag. In ein Zimmer wollte man mich nicht geben, dazu reichten Coumbas Schmuckstücke, die sie ihnen anbot, nicht aus. Ich weiß nur noch, dass sich anfangs alles um mich herum drehte. Coumba wurde der Befund in die Hand gedrückt, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Der Arzt murmelte etwas von Blutung in der rechten Hirnhälfte, die man bald in Europa kontrollieren sollte, sonst könnte es schlecht enden.

»Schicken Sie ihn heim, in Europa zahlt die Sozialversicherung ohnehin alles, so eine Operation können wir hier gar nicht durchführen.«

Coumba drehte ratlos den Kopf zu mir. Da sah ich sie zum ersten Mal ohne den grauen Schleier von vorher. Sie hatte die Haare aufgesteckt, sodass ihre ebenmäßigen Gesichtszüge noch besser zur Geltung kamen. Richtige Zuneigung konnte ich in ihren Augen damals noch nicht erkennen, lediglich schieres Mitleid. Mit ihrer Hilfe konnte ich aufstehen und hinausgehen. Auch ihre Gesten und Bewegung drückten Mitleid aus, das mich wohlig umgab. Das Taxi hatte gewartet, wohl in der Hoffnung auf weiteren Fuhrlohn, denn dass ich nicht in der noblen Klinik verbleiben würde, war dem Fahrer wohl von Anfang an klar gewesen.

»Wohin mit ihm?«

Coumba zögerte etwas.

»Zu Hause habe ich keinen Platz, ich bin selbst nur Bettgeherin bei meiner Schwester. Weißt du etwas?«

Der Fahrer bot ihr an, mich gegen einen gewissen Betrag bei sich zu Hause schlafen zu lassen. Coumba musste ihm dafür als Sicherheit ihre Armbanduhr lassen. Wie sie mir später erzählte, sei sie von ihrer Familie mit Vorwürfen überhäuft worden, wie sie dazu käme, einem Europäer zu helfen. Almosen zu geben, ja, das sei zwar Pflicht jedes Muslims, doch das beschränke sich auf … ja, eben auf une pièce. Das neue Telefon und die Armbanduhr herzugeben, sei verrückt gewesen. Tatsächlich hat Coumba sie auch nicht mehr auslösen können, selbst als sie das nötige Geld zahlen wollte.

Bei Madické, dem Taxifahrer, verbrachte ich fünf Tage. Täglich erschien Coumba abends nach ihrer Arbeit und brachte Essen. Es war wie in der Bibel, auch wenn ich nicht unter die Räuber geraten, sondern den Schwächen des eigenen Körpers erlegen war. Wie gerne wäre ich nach einem Tag schon wieder weggegangen, hinaus aus dem stickigen fensterlosen Raum, der immerhin Platz für zwei Schlafstätten hatte, aber die Beine versagten bei jedem Versuch nach einigen Schritten. Den Himmel sah ich nur, wenn ich mich zum Abort, einem Bretterverschlag draußen am Hof, schleppte. Sobald ich den Raum verließ, starrten mich alle neugierig an, sprachen mich aber, wohl von Madické über meine Lage informiert, nicht an. Von Coumba konnte ich bei ihren Besuchen wegen des Halbdunkels im Zimmer nicht viel erkennen. Anfangs war sie einsilbig, offenbar hatte sie Scheu, einem fremden Mann, der noch dazu halbnackt auf einer Schlafstätte lag, nahe zu sein. Wie es mir gehe, ich müsse mich in Geduld üben, mehr brachte sie nicht aus sich heraus. Doch ihr wohlklingendes gepflegtes Französisch tat mir gut und legte sich wie Balsam auf mein heruntergekommenes Dasein. Am dritten Tag vermeinte ich ein Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen, zumindest sah sie mich offen an und blickte nicht mehr verlegen auf ihre Fußspitzen.

Als ich zwar noch nicht an ihrem Arm, aber in ihrer Begleitung endgültig Madickés Loch verließ, standen die Nachbarn Spalier und überreichten mir kleine Geschenke, ein vergilbtes T-Shirt, sogar einen afrikanischen Boubou, einen Blechnapf, wohl aus Armeebeständen stammend, und einen Sack Reis. Der Älteste des Gevierts wünschte mir alles Gute und schüttelte mir die Hand. Ich bedankte mich so gut es ging, auch bei Madické, der etwas verlegen dabei stand.

»Und was wirst du jetzt machen? Du solltest heimkehren und dich behandeln lassen, hat mir der Arzt gesagt. Nächstes Mal kann es schlecht ausgehen.« Sehr zaghaft war Coumbas Stimme, sie kam gegen den Straßenlärm kaum an. Ich fühlte mich unangenehm an meine Vorvergangenheit erinnert.

»Unsere Botschaft – mit denen will ich nichts zu tun haben, ich habe in Europa nichts verloren.«

Coumba stellte keine Fragen, offenbar wusste sie, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte.

»Wohin gehst du – hast du niemanden, bei dem du bleiben kannst?« Dass sie diese Frage erst jetzt stellte, verwunderte mich.

»Ich wohne auf der Corniche mit Blick aufs Meer und ›pied dans l’eau‹, wie es sich die Touristen immer wünschen.« Tatsächlich hatte ich vor einiger Zeit eine Höhle im Steilabfall zum Meer hinunter entdeckt, die mir ein angenehmes Zuhause geboten und mich vor allen Regengüssen der letzten Wochen geschützt hat. Der Regen hat auch die Polizei davon abgehalten, vereinzelte Razzien an der Küste durchzuführen. Außerdem war meine Höhle gut versteckt und weit von jenen Höhlen entfernt, in denen die Rauschgifthändler und die Prostituierten ihrem jeweiligen Gewerbe nachgehen. »Höhlen innerhalb von Höhlen«, hat mein philosophischer Freund Boubacar, einer der Wertkartenverkäufer und Absolvent des Philosophiestudiums der Universität Bamako, nachdenklich bemerkt, als eines Abends eine erregte Diskussion der Corniche-Bewohner darüber, ob man Prostituierte dort dulden sollte oder nicht, eingesetzt hatte. »Solange die Moscheen weit genug entfernt sind, sollen sie ihre Höhlungen in den Höhlen anbieten«, hat er damals die Diskussion beendet.

An diesem Abend verabschiedete sich Coumba nur mit einem leichten Händedruck von mir. Trotz der schlechten Straßenbeleuchtung – die meisten der Solarlampen waren wegen der verschmutzten Paneele ausgefallen – sah ich in ihrem Gesicht ein Lächeln, das mich innerlich wärmte. Nach der Hitze des Tages fegte plötzlich ein heftiger Wind vom Meer herein.

»Es wird gleich regnen, du musst heim. Und danke für alles.« Mehr brachte ich nicht heraus. Ich sah ihr noch nach, wie sie in einen der öffentlichen Busse stieg und im Abendverkehr verschwand. Die Abenddämmerung war plötzlich von schwarzen Wolken überlagert worden, Sturzbäche brachen mit einem Mal über die Stadt herein. So rasch es mein Zustand erlaubte, eilte ich zu meiner Höhle, die ich nach einer Woche Abwesenheit im selben Zustand wie zuvor antraf. An der hinteren Felswand lag noch gut versteckt mein Bündel, das meinen Hausrat ausmachte. Die mitgebrachten geschenkten Gegenstände legte ich dazu, dann streckte ich mich auf meiner Matte aus, wo ich in den Halbschlaf verfiel, den ich mir in meinem Leben im Freien angeeignet habe, immer bereit, auf mögliche Störungen oder Gefahren reagieren zu können. Doch diesmal war es nicht die Bedrohung, es war die Erinnerung an Coumbas Lächeln und an den Druck ihrer Hand gegen die meine, die von mir Besitz nahm und sie mir von einem Schutzengel zu einer immer mehr begehrten jungen Frau werden ließ.

Rückkehr nach Europa

Подняться наверх