Читать книгу Die Kammer hinter dem Spiegel - Gerhard Gemke - Страница 4
Pappe
ОглавлениеTraudl Regenbrecht hatte sich so gefreut.
Drei Wochen ohne die Gespenster, ohne die Schatten, die sie jede Nacht heimsuchten. In diesem Haus, dieser düsteren Wohnung. In dem knarzenden Holzbett, in dem schon Traudls Großmutter gestorben war. Und in dem Traudl vor siebenundachtzig Jahren das Licht dieser ungerechten Welt erblickte. Lange bevor sie Wilhelm heiratete, lange bevor sie mit ihm und dem Bett in dieses Haus einzog, in dieses Gespensterhaus. Traudl wusste es einfach: Eines Tages würden SIE zurückkommen. SIE, die früheren Bewohner. Die das Haus verlassen mussten, damals.
Wir haben es rechtmäßig erworben!, hatte Wilhelm gesagt, und Traudl hatte ihm geglaubt, damals.
Und jetzt erwartete Traudl SIE. Beinahe täglich. SIE würden an die Tür klopfen und ihren Besitz zurückverlangen: das Haus Schulstraße Nummer 23 in Bresel.
Traudl Regenbrecht saß an ihrem Wohnzimmertisch. Vom Marktplatz hörte sie die Glocken von Sankt Urban. Zwölf Schläge, Mitternacht. Traudl starrte in den dunklen Flur und auf die neue Wohnungstür, die sie hatte einbauen lassen. SIE sollten es nicht zu leicht haben. Das hatte Elfriede auch gesagt. Elfriede Sievers, die sie manchmal besuchen kam. Die einzige, abgesehen von den unvermeidlichen Mietern. Elfriede, die ihr auch zu der neuen Tür geraten hatte. Mit Sicherheitsschloss. Trotzdem traute Traudl ihr nicht. Ehrlich gesagt weder der Tür, noch Elfriede.
Und auch deshalb hatte sie sich auf die Kreuzfahrt gefreut! Wegen all dem. Drei Wochen raus hier, von Morgen an. Und dann kam vor zwei Stunden dieser Anruf. Die Reederei war am Apparat. Das Schiff sei aus noch ungeklärter Ursache gesunken, im Hafen von Ancona. Frau Regenbrecht hätte die Möglichkeit, für einen geringen Aufpreis einen Platz auf dem nächsten Schiff zu buchen.
Traudl hatte enttäuscht den Hörer auf die altertümliche Telefongabel geknallt. Das müsse sie sich noch überlegen, hatte sie gekeift. In ihrem Alter könne das nächste Schiff schon eins zu spät sein. Rums!
Seit dem saß Traudl am Wohnzimmertisch und starrte durch die Flurschatten auf die neue Wohnungstür. Argwöhnisch beobachtete sie die Klinke. Hatte sie von dort ein Klicken gehört? Hatte sich die Klinke bewegt? Kamen SIE schon heute? Heute Nacht?
Hätte Traudl das Schiff sowieso nicht mehr erreicht?
Baron Eduard rüttelte an der rostigen Klinke. Er drückte und zerrte an dem schmiedeeisernen Griff, warf sich mit der rechten Schulter gegen die Eichentür und biss die Zähne zusammen. Beim dritten Versuch endlich sprang das Schloss auf. Quietschend öffnete sich ein schmaler Durchgang in dem riesigen Knittelsteiner Burgtor. Baron Eduard kletterte hinaus auf die Zugbrücke, die in schwindelerregender Höhe über dem Burggraben hing. Trotz der nächtlichen Stunde floss ihm der Schweiß in den Hemdkragen. Aber es half ja nichts. Die schweren Flügel unter dem Knittelsteiner Torbogen ließen sich nur noch von außen aufschieben. Morgen früh würde er dieser Türenfirma Dampf machen, schwor sich Eduard. Seit Wochen vertrösteten die ihn schon. Viel zu tun, hieß es wieder und wieder. Was man so kennt.
Unten im Tal schlug die Turmuhr von Sankt Urban Mitternacht. Schüchtern bimmelten die Glöckchen der Knittelsteiner Burgkapelle hinterher. Auf dem Burghof tuckerte im silbernen Mondlicht der Volvomotor. Freddie, Jan und Strothkötter junior quetschten sich auf die Rückbank, vom Beifahrersitz versuchte der langhaarige Ulli die Hupe zu erreichen. Klassenkameraden und sonstige Bekannte von Eduards Tochter Jo, die das Ende des siebten Schuljahres und Lisas dreizehnten Geburtstag gefeiert hatten. Obwohl die Ferien erst in einer Woche begannen, und Lisa Favrettis Jahrestag bereits einen Monat zurücklag, wenn Baron Eduard seine Tochter richtig verstanden hatte. Dreizehnjährige drücken sich manchmal etwas merkwürdig aus. Jedenfalls für gestresste Väter.
Doch jetzt war wieder Frieden eingekehrt und die Mauern der Burg standen nicht schräger als am Tag zuvor. Trotz Schnürs Enkel, oder wie auch immer diese Musikgruppe hieß. Der langhaarige Bengel gehörte zum Beispiel dazu. Er hatte eine elektrische Gitarre bearbeitet, und der andere (der irgendwas mit Stroh hieß) hatte in ein Saxophon getrötet. Freddie spielte dazu ein Klavier mit Strom und ein Mädchen namens Jenny hatte getrommelt. Der Bassist hieß Robin, hatte ein Gesicht blasser als der Mond über der Burgturmspitze und trug selbst im Auto einen schwarzen, breitkrempigen Hut. Naja.
Eduard wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Die Tageshitze hatte kaum nachgelassen. Erst allmählich machte sich ein kühler Wind von Westen wohltuend bemerkbar. Natürlich hatte nicht einer von Jos Bekannten daran gedacht, dass sich um diese Zeit kein Bus mehr die Serpentinen der Breselbergstraße hinaufquälte, um vor der Knittelsteiner Zugbrücke auf Fahrgäste zu warten. Mit was für einer Selbstverständlichkeit die Jugend von heute seine Fahrdienste in Anspruch nahm. Und im Auto sitzen blieb, während er das Tor aufwuchtete!
Baron Eduard unterdrückte sein übliches Ächzen, als er seine Leibesfülle hinter das Lenkrad platzierte. Elvira sagte immer, er sei wie ein Baum, der Jahresringe ansetze. Nicht sehr schmeichelhaft, fand er.
Genauso wenig wie das besorgte „Geht's denn?“ dieses langhaarigen Schnösels neben ihm. Baron Eduard brummte irgendwas, das wie Anschnallen klang, was der Schnösel auch augenblicklich befolgte. Immerhin.
Sie rumpelten über die Zugbrücke. Mit schlafwandlerischer Sicherheit kurvte Baron Eduard um die Schlaglöcher der Breselbergstraße. Unterwegs vernahm er verwundert, dass die vier Bengel ausgiebig Emmas Bewirtung würdigten. Auch wenn sie die Schnittchen und Frikadellen als cooles Catering bezeichneten, und die leicht angekokelten Würstchen mit dieser traurigen Nachricht entschuldigten. Die Knittelsteiner Köchin hatte nämlich während des Abends erfahren, dass ihre Mittelmeerkreuzfahrt ins Wasser gefallen war. Und zwar wörtlich. Das Schiff, mit dem sie zu Wochenbeginn von Ancona aus starten wollte, war gesunken. Was waren dagegen schon ein paar verkohlte Würstchen?
Die Breselbergstraße mündete in die Ulmer Allee in Höhe der Schrebergärten. Im Vereinshaus der Rosenzüchter brannte noch Licht, und beim Kaufhaus Rausch war es Eduard, als winkten ihm die Schaufensterpuppen zu, so lebensecht hatte sie Fridolin Rausch dekoriert. Oder so übermüdet war Eduards Fantasie.
Kurz hinter dem Ulmer Tor stiegen Strothkötter und der langhaarige Ulli aus. Nicht ohne die nächste Geburtstagsparty anzukündigen.
„Donnerstag“, sagte Ulli. „Am achten.“
Baron Eduard nahm an, dass der 8. Juli gemeint war. Hauptsache nicht wieder in der Burg.
„Nee, bei mir“, beruhigte ihn der haarige Gitarrenspieler.
Der Volvo folgte dem Breselbergring um die halbe Innenstadt und bog am Augsburger Tor in die Breselner Landstraße ein. An der Schulstraße bat Freddie den Baron anzuhalten. Hier könne er Jan und ihn rauslassen und am günstigsten wenden. Außerdem bedankte sich Freddie so formvollendet für den Chauffeurdienst, dass Baron Eduard nachher Stein und Bein schwor, es bestehe doch noch Hoffnung bei der Jugend von heute.
„Mensch Freddie“, lästerte Jan, als sich die Volvorücklichter Richtung Augsburger Tor entfernten, „das klang ja wie 'ne Empfehlung als Schwiegersohn.“
Jan war gerade schnell genug, um Freddies Boxhieben zu entkommen. Er rannte lachend die Breselberger Landstraße stadtauswärts. Die Nummer 153 war nicht weit.
„Blödmann!“, und Schlimmeres knurrte Freddie, als er in die Schulstraße einbog. Von hier konnte er bereits die Eingangsstufen des Hauses sehen, in dem Familie Haustenbeck im dritten Stock zur Miete wohnte. Und den Schatten, der sich aus dem Türrahmen löste!
Freddie blieb augenblicklich stehen. Das Mondlicht reichte, um eine gebückte Gestalt zu erkennen, die offensichtlich Mühe hatte, die Stufen hinunter zu klettern. Als sie ohne Unfall die Gehwegplatten erreichte, meinte Freddie ein Kichern zu hören. Gleichzeitig schlang die Gestalt einen vermutlich hellbraunen Kamelhaarmantel um die klapprigen Glieder. Und das tennisballgroße Ding an ihrem Hinterkopf war so ein Haarknoten, den alte Leute Dutt nennen.
Das Gespenst hörte auf den Namen Elfriede Sievers. Eindeutig.
Freddie entspannte sich und schlenderte der tüdeligen Schachtel entgegen. Anscheinend hatte sie sich auf den Stufen eine Verschnaufpause gegönnt. Alte Leute können oft nicht schlafen und geistern durch die Nacht. Besonders bei Vollmond.
„Guten Abend, Oma Sievers“, sagte Freddie.
„Hachja“, kicherte Elfriede Sievers und wackelte an ihm vorbei.
Musste er Mitleid mit ihr haben? Freddie schüttelte den Kopf und trabte zum Hauseingang. Beinahe hätte er das kleine Ding zertreten, das dort im Schatten einer Stufe lag. Freddie hob es auf. Es hatte in etwa die Größe und die Form eines MP3-Players. Allerdings ohne Display. Auch eine Kopfhörerbuchse konnte Freddie nirgends entdecken. Dafür ein paar Knöpfe. Freddie drückte auf den größten.
Er konnte später nicht mehr sagen, ob er das feine Klicken tatsächlich gehört, oder sich nur eingebildet hatte. Gleichzeitig sah er, dass Oma Sievers unter einer Laterne stehen geblieben war. Mit beiden Händen kramte sie in ihren Manteltaschen und blickte sich unruhig um. Freddie war mit wenigen Schritten bei ihr.
„Suchen Sie das hier?“ Er hielt ihr das längliche Ding hin.
Hastig griff Elfriede zu. Etwas zu hastig, fand Freddie.
„Ja, ja“, murmelte die Alte. „Da ist er ja, mein … ähm …“
Freddie hatte den Eindruck, als wäre Elfriede in Gedanken ganz weit weg. „MP3-Player“, half er der mondsüchtigen Oma.
„Ja, ja“, kicherte es wieder unter dem Dutt. Der MP3-Player, oder was es war, verschwand in einer Tasche des Kamelhaarmantels, ohne den man sich in ganz Bresel die Oma gar nicht vorstellen konnte.
„Hachja.“ Drehte sich um und wackelte um die Straßenecke.
Freddie blieb einen Moment still stehen. Er spürte noch die Kühle des Metalls an den Fingern. So war er sich sicher, dass er keinem Spuk begegnet war. Seit ihr Oskar vor zwei Jahren verstarb, wurde Elfriede Sievers immer wunderlicher. Kein Wunder, eigentlich.
Jetzt aber zügig. Freddie hatte versprechen müssen, um Mitternacht im Bett zu liegen. Mittlerweile war es fast halb eins.
Die Haustür war wie üblich unverschlossen. Freddie betrat das Treppenhaus. Direkt gegenüber befand sich die Wohnung der Vermieterin. Frau Traudl Regenbrecht. Vor ein paar Tagen erst hatte sie eine neue Tür einbauen lassen. Dick wie für einen Banktresor und potthässlich, fand Freddie. Aber einbruchsicher, wie Frau Regenbrecht jedem im Haus mit erhobenem Zeigefinger erzählte, auf dass sich auch wirklich jeder angesprochen fühlte.
Und mit einem Löwenkopf als Türgriff. Das würde SIE wahlweise abschrecken oder besänftigen, je nach dem, ob Traudl Regenbrecht gerade ihre mutigen oder ängstlichen fünf Minuten hatte. Im Haus war es gut bekannt, dass sich Frau Regenbrecht vor IHNEN fürchtete. Wer auch immer das sein mochte. Fünfundachtzig war sie geworden, wenn man ihr glauben konnte. Letzte Woche. Wackelig auf den Beinen und – keine Frage – auch im Hirn.
Freddie blieb stehen. Was für ein geschmackloser Griff. Freddie strich mit dem Zeigefinger über das Löwenmaul. Vorsichtig umfasste er ihn mit der Hand. Er ließ sich spielend leicht drehen. Die Tür öffnete sich fast von selbst.
Kaum war der zwölfte Glockenschlag von Sankt Urban verklungen, hatte Traudl Regenbrecht dieses feine Klicken gehört. Ächzend hatte sie sich um den Wohnzimmertisch geschoben. Die neue Tür war abgeschlossen. Ganz sicher. Doppelt! So klar war sie schon noch im Kopf. Da konnte zweifeln, wer wollte.
Aber da! Waren das nicht Schritte? Draußen im Treppenhaus! Nein, keine Schritte, wie Menschen sie machten. Mehr ein Schlurfen, ein Ziehen. Traudl schlug das Herz bis zum Hals. Langsam bewegte sie sich rückwärts. Ins Schlafzimmer.
Es war also so weit!
Traudl schloss die Schlafzimmertür und drehte auch hier den Schlüssel zweimal herum. Dann kroch sie, vollständig bekleidet wie sie war, ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Drunter war es heiß und stickig. In diesen Sommernächten kühlte es erst in den Morgenstunden ab. Traudl lüftete die Decke, bis sie durch den Schlitz die Zimmertür sah. Und den Lichtstreifen in Fußbodenhöhe!
Jemand befand sich im Wohnzimmer. Deutlich hörte Traudl einen Stuhl rücken. Und – Traudl kroch das Grauen den Rücken hinauf – SIE sangen! Leise, aber in der Stille der Nacht klar und deutlich zu vernehmen. Mit zittriger Gespensterstimme.
Vor der Kaserne, vor dem großen Tor, stand eine Laterne …
Das Lied, das die Soldaten immer gesungen hatten. Damals. 1943. Als ihr Wilhelm mit ihr in dieses Haus zog …
Traudl biss in die Bettdecke, um nicht zu schreien. Gleich! Gleich kamen SIE auch zu ihr. Da half auch keine Bettdecke.
Aber SIE kamen nicht. SIE gingen wieder. Löschten das Licht. Zogen die Tür zu. Und wieder dieses Klicken, wenn Traudl sich das nicht einbildete. Traudl war nass geschwitzt. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Was, wenn sie aufstand und SIE kamen zurück! Traudl lauschte dem Ticken der Wanduhr.
Zehn Minuten.
War da schon wieder ein Klicken gewesen?
Zwanzig Minuten.
Nein. Alles still.
Allmählich entspannten sich ihre Glieder. Sie würde das Bett neu beziehen müssen, es war klatschnass. Vorsichtig hob sie die Bettdecke. Ein Blick zur Wanduhr – kurz vor halb eins.
0 Uhr 28.
Freddie zog die Tür etwas weiter auf. Wie unvorsichtig von Frau Regenbrecht. Jetzt hatte sie schon eine neue Tür, und dann war sie nicht mal abgeschlossen. Freddie warf einen Blick in den Flur dahinter. Bis ins Wohnzimmer konnte er sehen. Fast hätte er geschrien.
Regungslos saß sie da. Ohne Licht. Ein dunkler Schatten gegen das fahle Mondlicht. Jeden Augenblick erwartete Freddie das wohlbekannte Zetern. Aber sie rührte sich nicht. Saß einfach nur da und starrte ihn an. Freddie nahm seinen ganzen Mut zusammen.
„Frau Regenbrecht? Ihre Tür war …“
Keine Reaktion.
Etwas lauter: „Frau Regenbrecht! Ihre Tür …“
Der Schatten bewegte sich keinen Millimeter. Wie Eis durchfuhr Freddie der Gedanke: Vielleicht ist sie ja … um Himmels willen! Freddie tastete nach einem Lichtschalter. Er fand keinen. Mit drei Schritten war der Flur durchquert. Ah, hier. Das Licht blendete ihn für Sekunden. Dann verließ Freddies Kehle eine Art Gurgeln. Hinter dem Wohnzimmertisch saß nicht Frau Regenbrecht. Da saß – eine Pappfigur! Eine Pappfigur mit einem Foto als Gesicht. Und quer über der Brust ein Name.
Löwenstein
In diesem Augenblick bekam Freddie einen Schlag auf den Hinterkopf. Nicht sehr stark, aber für eine Beule würde es reichen. Freddie fuhr herum. Frau Regenbrecht stand da, leibhaftig, mit einem Wanderstock in der Hand, und holte erneut aus. Freddie duckte sich, der Schlag sauste über seinen Kopf hinweg. Mit wirren verschwitzten Haaren und weit aufgerissenen Augen starrte die Alte an ihm vorbei.
„Verschwindet!“, schrie sie. Meinte sie tatsächlich die Pappfigur? „Verschwindet!“
Freddie reagierte blitzschnell, als sie zusammensackte. Er konnte die schwere bewusstlose Frau nicht halten, aber immerhin verhindern, dass ihr Kopf auf den Boden schlug. Jetzt erst bekam Freddie Panik. Frau Regenbrechts Augen waren so verdreht. Und Freddie wurde das Gefühl nicht los, dass die Pappfigur alles scharf beobachtete.
Freddie angelte ein Kissen von einem Stuhl und legte Frau Regenbrechts Kopf darauf. Und rannte. Nahm drei Stufen auf einmal bis in den dritten Stock und schellte Sturm.
Kommissar van der Velde gähnte und rieb sich mit dem rechten Handrücken die Augen. Die linke Hand umfasste das Lenkrad. Als er die schlafverklebten Augen wieder öffnete, stieg er mit aller Kraft auf die Bremse. Die Reifen des Polizeiautos quietschten, ein Pfleger sprang zur Seite. Wenige Zentimeter hinter dem Krankenwagen kam van der Velde zum Stehen.
Hör auf zu meckern, dachte der Kommissar und würdigte den Pfleger keines weiteren Blickes. Wehe, wenn es hier nichts Wichtiges gab, für das man ihn aus dem Bett geholt hatte! Mitten in der Nacht. Van der Velde dachte an Hinrich, seinen Assistenten. Hinrich schnarchte vermutlich glücklich in seine Kissen. Van der Velde nahm sich vor, dem Rettungsdienst eine andere Telefonnummer zuzustecken. Die von einem gewissen schnarchenden Assistenten …
Als er die Wohnung von Frau Regenbrecht betrat, schleppten gerade zwei Sanitäter die Frau auf einer Trage nach draußen. Der begleitende Arzt teilte ihm mit, dass Frau Regenbrecht die restliche Nacht lieber im Vincenzkrankenhaus verbringen solle. Sie stehe offensichtlich unter Schock und brauche fachkundige Betreuung.
Franz van der Velde nickte müde, unterdrückte ein Gähnen und wandte sich an Gerlinde Haustenbeck. Freddies Mutter hatte sich in einen Sessel fallen lassen und betrachtete fassungslos die Pappfigur, die immer noch hinter dem Wohnzimmertisch saß. Freddie stand mit dunkel geränderten Augen neben ihr.
„Was …“, setzte Gerlinde Haustenbeck an. „Was soll das?“
Van der Velde zuckte mit den Schultern. „Wenn wir das bloß wüssten“, brummte er schließlich und ergänzte: „Bereits der dritte Fall dieser Sorte.“
„Der dritte?“
Kommissar van der Velde nickte wieder und umrundete langsam den Tisch. Er beugte sich zu der Pappe hinab, um besser lesen zu können.
„Löwenstein“, murmelte er. „Im März war es Bublanski, im November … ist mir grad entfallen. Und nun Löwenstein.“
„Wer … ist Löwenstein?“ Frau Haustenbeck sah ihn entsetzt an.
Kommissar van der Velde gab keine Antwort. Stattdessen gähnte er wieder und legte seine rechte Hand schwer auf Freddies Schulter. „Nun zu dir.“
Freddie schluckte. Auf einmal kam er sich wieder richtig klein vor. Die nächste Frage brauchte der Kommissar gar nicht zu stellen.
„Die Tür war offen“, flüsterte Freddie und wünschte, der Kommissar nähme seine Hand wieder fort.
„Offen?“
„N-nein“, stotterte Freddie, „ich hab halt so probiert, und dann …“
„Und dann?“
„War sie offen.“
„Und du bist rein.“
Freddie nickte. Als er merkte, dass van der Velde ihn weiterhin erwartungsvoll anschaute, ergänzte er. „Weil sie doch da so saß. So wie … tot.“
„Freddie …“, murmelte Gerlinde Haustenbeck.
„Und da hab ich Licht gemacht und …“
„Da war sie das gar nicht.“
Freddie schüttelte den Kopf. „Da hat sie mir den Stock auf den Kopf gehauen.“
„Ach, nee“, grinste van der Velde. „Aber sonst hast du hier nichts angefasst?“
Freddie verneinte wieder, und seine Mutter beeilte sich zu sagen: „Nein, nichts, Herr Kommissar.“
„Gut“, sagte van der Velde und kämpfte mit dem nächsten Gähnen. Und verlor. „Das werden wir ja anhand der Fingerabdrücke feststellen. Danke soweit.“
Er machte eine Handbewegung zur Tür. Frau Haustenbeck und Freddie folgten ihm aus der Wohnung. Draußen schloss van der Velde sorgfältig ab und klebte ein amtliches Siegel auf die Ritze zwischen Rahmen und Tür.
„Morgen früh kommt die Spurensicherung“, erklärte er, und dass er eventuell noch einige Fragen an Freddie habe. „Aber jetzt“, van der Velde schüttelte sich, „Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, wünschte auch Gerlinde Haustenbeck und schob Freddie die Treppe hinauf.
„Hab ich nicht gesagt, du sollst spätestens um zwölf zuhause sein?“, hörte van der Velde noch, als er das Haus verließ. Er stieg in sein Auto.
„Kraans“, murmelte er, als ihm der Name wieder einfiel. Vergangenes Jahr, am neunten November, stand auf der ersten Pappfigur der Name Kraans. Dann im März beim zweiten Einbruch dieser seltsamen Sorte Bublanski. Und jetzt Löwenstein. Und bei keinem dieser nächtlichen Besuche war etwas gestohlen worden. Nicht ein Staubkorn. Und noch viel merkwürdiger war, dass es eigentlich gar keine Einbrüche waren. Zumindest waren weder ein Fenster, noch eine Tür aufgebrochen worden. Neu war jetzt nur, dass die Wohnungstür unabgeschlossen war. Jedenfalls nach dem, was Freddie Haustenbeck behauptete. Bei den beiden vorherigen war auch die fest verschlossen gewesen.
Van der Velde riss seine Kiefern weit auseinander. Elfriede Sievers, die gerade wie ein Geist vorbei wackelte, schüttelte missbilligend den Kopf. Van der Velde zog eine Grimasse und startete den Motor.