Читать книгу Die Kammer hinter dem Spiegel - Gerhard Gemke - Страница 9
Kette
ОглавлениеMittwoch, 30. Juni, 15.15 Uhr.
Freddie kam eine Viertelstunde zu spät. Das hatte auch niemand anders erwartet.
„Schön, dass du gekommen bist“, sagte Lisa nur. Die anderen hatten es sich schon in der hintersten Ecke der Eisdiele gemütlich gemacht. Giacomo Favretti gab eine Runde Milchshakes aus.
„Was iss'n los?“, fragte Freddie, als alle vier das wohltuend kalte Getränk vor der Nase hatten. Und Lisa hatte schon wieder das Gefühl, dass etwas fehlte. Diese Selbstverständlichkeit, die es mal gab. Ohne große Worte, ohne ein Was iss'n los?
„Nur so“, antwortete Lisa und sah auf Freddies Finger, die nach Jos Milchshake angelten. Der Kommissar kann doch nicht ernsthaft glauben, dass diese Finger eine Perlenkette geklaut haben. Freddie zuckte mit den Schultern und probierte einen Schluck aus Jos Becher. Jo sah ihm gleichmütig dabei zu. Als Freddie das Glas wieder abstellte, fragte sie: „Warum hast du uns eigentlich nichts erzählt?“
Freddie grinste schief. „Ach, daher weht der Wind. Ich hab mich schon gewundert, warum diese Versammlung einberufen wurde.“
Lisa versuchte, ein möglichst entspanntes Gesicht zu behalten. „Du bist schließlich mitten in einen Einbruch rein geraten.“
„Na und?“, sagte Freddie. „War nicht meine Schuld.“
„Und die alte Regenbrecht hat dich niedergeschlagen?“
„Woher weißt du denn das schon wieder?“ Freddie sah Lisa misstrauisch an.
„Hat deine Mutter meiner Mutter erzählt.“
„Soso“, sagte Freddie. „Ein bisschen Klatsch hier, ein bisschen Tratsch da, schon weiß jeder ein bisschen Bescheid.“
Jan hatte bisher schweigend an seinem Trinkhalm gekaut. Jetzt sah er Freddie an. „Kannst du dir denn jemanden vorstellen, der bei Frau Regenbrecht eingebrochen hat? Hast du wen gesehen?“
Freddie holte tief Luft. „Wie ich dem Kommissar bereits berichtete, ich hab niemanden gesehen, Herr Detektiv. Die Tür war einfach offen und ich bin rein. Weil da wer saß. Also diese Pappe. Sonst war echt nichts.“ Er sah von einem zum anderen. „Im Übrigen braucht euch das gar nicht zu interessieren. Wir sollen unsere Nasen da nämlich nicht reinstecken, hat der Kommissar befohlen.“ Und mit einem Grinsen zu Jan: „Besonders du nicht mit deiner empfindlichen …“
Kleine Balgerei zwischendurch.
„Gibt's denn da irgendwas für unsere Nasen?“, fragte Jo.
Freddie hatte Jans Würgegriff abgeschüttelt und grölte: „Ja klar! Die Geister der Schulstraße!“ Grinsend steckte er den Zeigefinger in Lisas Milchshake und leckte ihn ab. „SIE werden kommen, sagt die alte Regenbrecht doch immer. Eines Tages kommen SIE und holen mich.“
„Dich?“
Jans Nase entging Freddies Zeigefinger nur knapp. Jan nieste.
„Aufwischen!“ Freddie.
„Und wer sind SIE?“ Lisa reichte Jan ein Taschentuch.
Freddie hob die Schultern. „Die Rächer ihrer verfluchte Seele, nehme ich an. Die Regenbrecht hat sich extra 'ne monsterdicke Sicherheitstür einbauen lassen. Wenn ihr mich fragt …“ Freddies rechte Hand wanderte wie ein Scheibenwischer vor seinem Gesicht hin und her.
„Auf der Pappfigur klebte ein Foto“, nahm Jo den Faden wieder auf. „Von einem früheren Bewohner des Hauses.“
„Wer sagt das jetzt? Auch meine Mutter zu Lisas Mutter?“
„Oma Sievers.“ Jo zog ihren Milchshake aus Freddies Reichweite. „Vielleicht hat Frau Regenbrecht ja vor denen Angst.“
„Oh Mädels.“ Freddie, der Coole wieder. „Die beiden, die Sievers und die Regenbrecht, die gehören doch auf dem direkten Weg in die Klapse.“
„Vielleicht“, sagte Lisa.
„Die früheren Bewohner“, jetzt wurde Freddie so laut, dass schon andere Eisdielengäste herüberschauten, „sind sämtlichst seit hundert Jahren tot. Gespenster, wie ich bereits ausführte.“
„Nein.“ Lisa sah ihn ruhig an. „Erst seit zirca siebzig Jahren. Und bloß verschwunden, nicht tot.“
„Kennst du sie persönlich?“
„Ich nicht.“ Lisa riss sich zusammen. „Sondern Oma Sievers.“
„Und wer waren diese früheren Bewohner, was ist so besonderes an denen?“, fragte Jan.
„Oma Sievers sagt“, Lisa behielt eisern die Ruhe, „die wurden erpresst. Damit sie ihre Häuser verkauften.“
„Wie denn?“ Freddie witterte einfach unter jedem Satz eine Falle. „Ich meine, wer erpresst wird, muss auch was liefern, mit dem er erpresst werden kann.“
„Das weiß ich nicht“, musste Lisa zugeben, „das hat Oma Sievers nicht gesagt.“ Und leise fügte sie hinzu: „Vielleicht hast du ja recht. Frau Regenbrechts Gespenster existieren nur in ihrem Kopf. Aber was soll das dann mit dieser Pappfigur im Wohnzimmersessel? Mit dem Gesicht von einem ehemaligen Besitzer, das die Regenbrecht so sehr aufgeregt hat, dass sie einen Nervenzusammenbruch bekam.“
„Vielleicht … wollte jemand sie erschrecken?“ Jan sah Lisa an.
„Ja, klar!“, polterte Freddie dazwischen. „Was denn sonst? Da macht sich einer 'n Spaß. Bei der alten Schachtel gibt's doch sonst nichts zu holen.“
„Außer der Kette.“ Lisa biss sich auf die Lippen, aber da war es schon heraus. Verflucht! Sie sah Freddies Augen, die sich weiteten und sie ungläubig anstarrten.
„Woher weißt du das?“, flüsterte er. Dann knallte er beide Hände auf den Tisch, dass die Becher sprangen. „Woher weißt du das?“
Lisa schüttelte nur stumm den Kopf. Sie konnte kaum Freddies Blick standhalten.
„Ich habe dich was gefragt!“
„Freddie“, flüsterte Lisa. „Freddie, es tut mir leid.“
„Nichts tut dir leid!“ Freddie war aufgestanden. „Jetzt wird mir allmählich klar, was hier gespielt wird.“ Seine Augen funkelten vor Wut. „Ich hab mich schon gefragt, was dieses Treffen soll. Es geht nicht um alte Freundschaften. Ach, wollen wir uns nicht mal wieder zusammensetzen … Nein, ganz und gar nicht!“
„Freddie!“
„Halt den Mund!“, fuhr er sie an. „Ich weiß genau, was hier gespielt wird. Freddie aushorchen! Na, verplappert er sich? Hat er die Kette gestohlen, oder hat er nicht? Und was kriegt ihr vom feinen Kommissar dafür?“
Lisa schwieg. Sie kämpfte mit den Tränen.
„Hör auf, Freddie“, sagte Jo drohend. „Das ist nicht wahr. Ich zum Beispiel weiß überhaupt nichts von einer Kette.“
„Ach, nein?“, fauchte Freddie. „Aber deine Freundin Lisa.“ Er zückte sein Portemonnaie und warf zwei Eurostücke auf den Tisch. „Ich will ja nichts schuldig bleiben. Hinterher heißt es noch, der klaut Milchshakes.“
Lisas Hals war wie zugeschnürt. „Tu das nicht. Bitte.“ So leise, dass Jo sie kaum verstehen konnte. Freddie sowieso nicht.
„Wer für mich ist, kommt mit. Die andern können hier bleiben!“
Er rannte raus. Jan sah die Mädels mit einem Blick an, in dem sich Sorge und Ratlosigkeit spiegelten. „Ich muss ihm nach“, sagte er leise und rannte hinter Freddie her.
„Scheiße“, sagte Lisa nur. „Scheiße, scheiße.“ Dann schluchzte sie. „Ich dumme Gans!“
Jo nahm sie hilflos in den Arm. „Das ist nicht deine Schuld.“
„Doch.“ Lisa ließ nun den Tränen freien Lauf. „Nur weil ich die ganze Zeit an nichts anderes mehr denken konnte, seit der Kommissar mich nach der blöden Kette gefragt hat. Und dann ist es passiert.“
„Was ist denn mit dieser Kette?“
Jan fand Freddie schließlich auf der Bank an den Fischteichen. Er setzte sich neben ihn. Sie schwiegen. Lange. Kein Windhauch kräuselte die Wasserfläche. Sie sah aus wie ein riesiger Spiegel. Viel, viel größer, als der in Bäcker Blumes Wohnzimmer. Mit einem dunklen Geheimnis darunter.
Jan war in Gedanken weit hinaus geschwommen und erschrak, als Freddie plötzlich zu erzählen begann. Die Nacht, in allen Einzelheiten. Wie er die Tür öffnete, die Pappfigur sah und von Frau Regenbrecht fast niedergeschlagen wurde. Bis zu dem Verhör vorgestern Abend bei Kommissar van der Velde, bei dem er zum ersten Mal von der Kette erfahren habe. Nein, schon beim Telefonat am Abend vorher, um genau zu sein. Aber keine Sekunde früher! Freddie schwor Stein und Bein, dass das die Wahrheit war. Und dass es nur eine Erklärung dafür gibt, dass Lisa auch von der Kette wusste. Dass nämlich Kommissar van der Velde Lisa auf ihn angesetzt habe.
Die Schatten des Breselwalds malten bereits schwarze Bilder auf den Wasserspiegel. Jan begann zu frieren. Und das lag nicht nur an der aufkommenden kühlen Brise. Sicher nicht.
„Und wenn es Lisa von der alten Regenbrecht weiß? Oder von deiner Mutter?“
Freddie antwortete lange nicht. Zu lange. Dann stand er auf.
„Und wenn mir das scheißegal ist?“
Freddie ging einfach. Jan folgte ihm in einiger Entfernung. In Ufernähe ragte ein dürrer Ast aus dem Wasser. Ein paar Zweige waren hochgereckt wie Finger. Skelettfinger. Algen hingen daran. Wie Schmuck. Wie eine Perlenkette.
Donnerstag, 1. Juli, 7.30 Uhr.
Elfriede stand auf dem Breselner Friedhof und wischte ärgerlich eine Träne aus dem linken Augenwinkel. Jetzt bloß nicht flennen, hätte Oskar gesagt. Fast war ihr, als hätte sich der Grabstein vor ihr verärgert geschüttelt. OSKAR SIEVERS stand darauf. 1. 7. 1938 bis 1. 7. 2008. Heute vor zwei Jahren hatte ihn Baronin Tusnelda von Knittelstein-Breselberg vergiftet. Dreieinhalb Monate, bevor die Baronin selbst starb. Von eigener Hand, konnte man sagen. Eine schlimme Geschichte!
Elfriede zwinkerte Oskars Grabstein zu. An deinem siebzigsten Geburtstag hat's dich erwischt, schickte sie ihre stummen Gedanken ins Erdreich. Ärgerlich, sehr ärgerlich. Kurz bevor ich dir alles erzählen wollte. Was ich herausbekommen habe. In jahrelanger Detektivarbeit, jawohl. Wir hätten es zusammen durchgezogen! Und jetzt? Muss ich alles allein machen.
„Jaja“, brummte es ungehalten aus der Tiefe. Erschrocken fuhr Elfriede herum. Keine fünf Meter entfernt flog eine Ladung Erde durch die Luft und landete auf einem lehmigen Hügel. Gleichzeitig erschien der Kopf von Paul Ranunkel über dem Rand eines frischen Grabes. Der Totengräber von Bresel.
Elfriede starrte ihn an. Es wurde ihr immer ganz anders, wenn Paul eine neue Grube aushob. So viel Zeit blieb ihr auch nicht mehr oberhalb des Rasens. Ob Oskar sich wohl schon auf sie freute? Da unten?
Mit einer hastigen Handbewegung wischte Elfriede solch kindische Gedanken fort. Paul winkte zurück. Elfriede drehte ihm ihre Seite mit dem Dutt zu und verließ das Gräberfeld, so schnell ihre dünnen Waden sie trugen. Sie hatte schon ganz andere Sachen geschafft.
Allein!