Читать книгу Die Kammer hinter dem Spiegel - Gerhard Gemke - Страница 5
Beichte
ОглавлениеSonntag, 27. Juni.
Die Leute von der Spurensicherung fluchten, wie nicht anders zu erwarten war. Van der Velde tat kräftig mit. Was Besseres fiel ihm auch nicht ein, um sich am Sonntagmorgen bei Laune zu halten. Sie hatten sich um neun in der Regenbrechtschen Wohnung getroffen. Hinrich kam zehn Minuten zu spät und war zu allem Überfluss ausgeschlafen und glänzend aufgelegt, was ihm der Kommissar wochenlang nicht verzeihen würde, das nahm er sich fest vor.
Erst recht nicht, als Hinrich gegen elf verkündete, dass die Sanitäter Frau Regenbrecht in ihre Wohnung zurückbrächten. Jetzt gleich. Und noch ehe van der Velde das wutentbrannt verhindern konnte, standen sie auch schon in der Tür.
Die alte Dame war anscheinend mit allen Mittelchen der ärztlichen Kunst aufgepäppelt worden und stürzte wie eine Furie in ihre Wohnung. Zum Glück hatten die Experten von der Spurensicherung ihre Arbeit bereits abgeschlossen. In letzter Sekunde konnten sie ihre Instrumente zur Seite schaffen. Dann machte sich Frau Regenbrecht über ihre Schränke her.
Sämtliche Schubladen wurden herausgezogen und unzählige Deckelchen geöffnet. Exakt um 11 Uhr 14, wie Kommissar van der Velde mit einem schnellen Blick zur Armbanduhr festhielt, verkündete Traudl Regenbrecht das Verschwinden einer Kette. Dreiundfünfzig wertvolle Amethyst-Perlen.
„Ganz bestimmt!“, ergänzte sie, als sie den Blick des Kommissars bemerkte. Die Kette habe ihr Frau Blume geschenkt. Vor Jahren. Also Mia Blume, nicht Änne Blume, wenn der Herr Kommissar verstehen würde. Der Herr Kommissar verstand nur Bahnhof, notierte aber pflichtschuldig Mia Blume. Aber dass die Kette sehr wertvoll sei und obendrein verschwunden, das könne sie mit Sicherheit sagen. Und dass der Kerl genau neben dieser Schublade gestanden habe.
Neben welcher Schublade genau?
Na, wo die drin war, die Kette.
Und … der Kommissar war so baff, dass er kaum zu fragen in der Lage war … welchen Kerl meine sie denn bitte? Doch nicht …
„Doch, doch!“ Frau Regenbrecht nickte eifrig, und im Verlauf des folgenden Wortschwalls lernte Franz van der Velde so einiges über die Jugend von heute. Und dass das damals nun wirklich anders gewesen sei.
„Damals?“, hakte van der Velde nach.
Irritiert hielt Frau Regenbrecht inne und sah van der Velde in die Augen. Plötzlich wurde ihr Blick starr.
„Oder ob SIE es waren?“ Und bevor der Kommissar irgendetwas antworten konnte, kreischte sie: „Was stand auf der Pappe?“
Frau Regenbrecht packte den Leiter der Spurensicherung, der sich auf eben jenen Stuhl gesetzt hatte, wo kurz vorher noch der Pappkamerad gesessen hatte. Frau Regenbrecht schüttelte ihn. Die Jungs im Krankenhaus hatten sie vielleicht ein wenig zu sehr aufgepäppelt, fand van der Velde. Genauso unvermittelt, wie Traudl den panisch nach Hilfe Ausschau haltenden Mann gepackt hatte, ließ sie ihn auch wieder los und sackte wie ein Sack Mehl auf den Stuhl, den ihr van der Velde in letzter Sekunde unter den Hintern schob.
„Was stand da drauf?“, flüsterte sie.
Van der Velde legte seine Hand auf ihre Schulter, eine Angewohnheit, die er für beruhigend hielt. Traudl Regenbrecht war blass wie eines ihrer Bettlaken. Und zitterte.
„Stand da Löwenstein?“
Der Kommissar antwortete nicht. Traudl Regenbrecht schrie, lange und schrill.
Zehn Minuten später hielt der Krankenwagen wieder vor der Haustür und brachte Frau Regenbrecht zu einer zweiten Nacht ins Vincenzkrankenhaus. Van der Velde schickte die Kriminaltechniker nach Hause und beauftragte Hinrich, alles über eine Person oder Familie namens Löwenstein herauszufinden.
„Ja, alles. Und bevor du nachfragst: Ja, bis morgen!“
Hinrich holte noch einmal tief Luft, aber da war der Kommissar schon unterwegs. Hinrich warf noch einen Blick in die Wohnung. Die Pappfigur hatte die Spurensicherung mitgenommen. In Hinrichs Fantasie aber saß sie noch immer hinter dem Wohnzimmertisch. Wie ein böses Omen, eine dunkle Anklage.
Hinrich zog die Tür zu. Diese hässliche Sicherheitstür, von der Frau Regenbrecht steif und fest behauptete, sie habe sie abgeschlossen. Selbstverständlich! Zweimal! Sein Blick streifte den Türgriff. Einen Löwenkopf. Der sollte IHNEN Angst einjagen, hatte Frau Regenbrecht gewispert. IHNEN?, hatte Hinrich gefragt. Und sie hatte nur stumm genickt.
Hinrich verließ das Haus.
Löwenstein.
Er ging die Schulstraße entlang. Bis zu Favretti, der besten Eisdiele weit und breit, waren es nur ein paar Schritte. Dort hatte er sein Fahrrad geparkt. Auf halbem Weg kamen ihm zwei merkwürdige Gestalten entgegen. Der eine mindestens einsneunzig und ein Bär von einem Kerl. Er nahm fast die komplette Bürgersteigbreite ein. Daneben versuchte ein kleines schmächtiges Männlein mit ihm Schritt zu halten.
„So warte doch“, hörte Hinrich ihn flehen, aber der Bär kümmerte sich nicht um das mückenbeindürre Anhängsel. Wäre es umgekehrt gewesen, also der Große dünn und der Kleine dick und rund, hätte Hinrich möglicherweise genauer hingesehen. Hätte sie vielleicht sogar erkannt. So aber wich der Kriminalassistent in den Rinnstein aus und ließ das abenteuerliche Gespann vorbeitrudeln.
Als Hinrich sein Fahrrad aufschloss, war er in Gedanken längst wieder bei dem Job, den ihm der Kommissar aufgebrummt hatte.
Löwenstein.
„Nicht so schnell“, bettelte Carlo und versuchte Ede am Hemdzipfel festzuhalten.
„Halt den Mund“, knurrte der Bär und wischte ärgerlich Carlos Hand beiseite. „Wir sind gleich da.“
Dem kleinen Dünnen mit dem viel zu großen Kopf, der gefährlich kippelig auf dem dürren Hals balancierte, lief der Schweiß in Strömen herab.
„Hätten wir nicht woanders anfangen können?“, maulte er.
„Zum Beispiel?“ Der Große drehte sich nicht mal nach ihm um.
„In … in …“
„Ja?“
„Egal.“ Der Kleine stolperte, fing sich wieder. „In Paderborn.“
„Auch nicht besser“, raunzte der Große. „Jetzt reiß dich mal zusammen. Da vorne ist es schon.“
Sie stiefelten quer über den Marktplatz auf Sankt Urban zu. Ritter Kunibald auf seinem eisernen Zossen blickte streng vom Brunnen auf Carlo herab, dass ihm heiß und kalt wurde. Gleichzeitig. Dann die Stufen zum Portal des Doms hinauf (Ede immer drei auf einmal, Carlo zwei Schritte pro Stufe) und rein in die dunkle Kirche. Ein neues Leben anfangen, nächster Versuch. Diesmal begonnen mit einer Beichte am Ort ihrer größten Missetat: Dem bis heute unaufgeklärten Überfall auf die Breselner Sparkasse vor zwei Jahren. Als Ede noch lang und klapperdürr gewesen war, und Carlo eine Kugel auf zwei Beinen. Heute bekam Ede seine ausladenden Formen kaum in eine Sitzreihe gezwängt, während für Carlo das Fußbänkchen gereicht hätte.
Sie mussten sich noch gedulden. Gerade verabschiedete Pastor Himmelmeyer einen hutzeligen Alten mit Triefnase und bat eine der beiden älteren Damen in den Beichtstuhl, die noch vor Ede dran waren. Die Dame kicherte, wickelte sich noch fester in ihren Kamelhaarmantel, rückte den grauen Dutt zurecht und schickte der anderen Dame einen triumphierenden Blick in die Bankreihe.
Erster!
Die andere, deutlich korpulentere Dame mit lila Locken (die Ede unglaublich und Carlo hinreißend fand) sah eisern an dem Kamelhaarmantel vorbei zum Altarkreuz. Sie hatte es ja wohl nicht nötig, auf so etwas zu reagieren.
Pastor Himmelmeyer nahm im Beichtstuhl auf der einen Seite eines Holzgitters Platz, Elfriede auf der anderen.
„Nun, Frau Sievers“, begann er in behäbigem Pastorenton, „die Beichte ist dazu da, alles was das Herz beschwert loszuwerden. Also meine Liebe, wo drückt der Schuh?“
„Hachja.“ Elfriede drückte ihre Kopfzierde in Form. „Nun ja.“
„Bitte, meine Liebe.“ Pastor Himmelmeyers Ton wurde noch eine Spur väterlicher. „Wir haben nicht ewig Zeit. Dort warten noch andere mit ihren Sorgen.“
„Ja“, sagte Elfriede, „das ist es ja gerade. Ich habe mich vorgedrängelt. Eigentlich wäre die Emma dran. Die kennen Sie sicher. Die Köchin von Burg Knittelstein. Aber, tja, also, ich habe die Abkürzung durch die achte Bankreihe genommen, da wo's ein bisschen breiter ist, nicht wahr, und schwupps!“
„Und schwupps?“
„War ich Erster.“
„Tja“, machte Pastor Himmelmeyer.
„Wissen Sie, weil ich noch einkaufen muss und der Dalli-Markt am Sonntag nur eine einzige Stunde geöffnet hat. Sehen Sie, seit ihr Mann, der Karl, den Kletterunfall hatte, und was müssen diese Kerls auch immer versuchen, an der Teufelsnase vorbei durch die Westwand, wissen Sie wie gefährlich das ist? Also mein Oskar selig sagte immer, wenn schon den Breselberg rauf, dann durch den Wald. Aber der Archibald, also der auch im Alpenverein ist, wie der Karl, also die ließen sich ja nicht reinreden, ließen die sich nicht, da musste der Karl erst abstürzen und sich ein Bein brechen. Na, und jetzt? Die arme Frau Dall schafft das ja nicht mehr. In ihrem Alter. Den ganzen Laden alleine schmeißen, wissen Sie, und das macht oft einsam, und wer kann das besser verstehen, als ich, wo ich doch auch oft so bin. So einsam. Hachja.“
„Ja“, sagte Pastor Himmelmeyer so verständnisvoll er konnte.
Emma saß in der Bank und rutschte, so unauffällig es ihr möglich war, zur äußersten Kante. Da konnte sie Elfriedes Beichte am besten verfolgen. Außerdem vergrößerte sich so der Abstand zu dem gewaltigen Kerl mit seinem spiddeligen Freund. Die zudem gar nicht so besonders gut rochen. Mehr so wie abgestandene Milch, dachte Emma, die Köchin.
„… wo ich doch auch oft so bin. So einsam. Hachja“, drang aus dem Beichtstuhl
Nun, dachte Emma, in deinem Alter, du klapprige Schachtel, sollte man auch nicht so allein wohnen. Was schnabbelte Elfriede da noch?
„… der Kommissar in seinem Wagen, so ein attraktiver Kerl, wissen Sie?“
„Nicht so laut“, flüsterte Pastor Himmelmeyer.
Elfriede nickte und wisperte: „Ach, Herr Pastor, und da wurde mir plötzlich so anders.“
„Mmh“.
„So wie in jungen Jahren, wenn Sie verstehen.“
Pastor Himmelmeyer räusperte sich umständlich.
„Aber weiter war nichts“, zwitscherte Elfriede, „ehrlich. Und der Herr Kommissar musste ja auch seiner Arbeit nachgehen. Mitten in der Nacht. Gestern, in einem dieser Häuser.“
„In einem welcher Häuser?“, fragte der Pastor, offensichtlich froh, das Thema wechseln zu können.
Elfriede schaute ihn mit großen Augen an. „Aber Herr Pastor, das wissen Sie nicht? Gerade Sie? Von diesen Häusern, die sie gestohlen haben. Damals im Krieg.“
„Jaja, natürlich, ich weiß“, ging Pastor Himmelmeyer hastig dazwischen.
„Und ich weiß, dass Sie das wissen“, beharrte Elfriede schlitzohrig. „Sie wohnen ja selbst in so einem …“ Das mühsame Keuchen des betagten Priesters ließ Elfriede abbrechen.
„Ich hab mein Leben lang dafür gebüßt“, presste Himmelmeyer hervor. „Deshalb bin ich Priester geworden.“
Elfriede schwieg und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Pastor Himmelmeyer sich den Schweiß von der Stirn wischte. Jetzt hatte sie ihn genau da, wo sie ihn haben wollte.
„Finden Sie es nicht sogar richtig, was dieser Einbrecher tut?“
Das ganze Gerede zuvor war nur der Anlauf gewesen. Trotzdem war Elfriede von der Heftigkeit überrascht, mit der es aus Pastor Himmelmeyer herausbrach.
„Sie meinen diese Pappfiguren? Diese schrecklichen …“
„War er auch schon bei Ihnen? Im Haus, das Rabbi Dillinger gehörte?“
Jetzt zitterte Pastor Himmelmeyer so stark, dass Elfriede es durch das Holzgitter sehen konnte. Ich muss jetzt aufhören, dachte sie. Ich bin schon zu weit gegangen.
„Gestern“, stöhnte Pastor Himmelmeyer, „gestern hab ich eine neue Tür einbauen lassen. Eine Hochsicherheitstür.“
Weiß ich doch, dachte Elfriede und erhob sich.
„Aber was will dieser Einbrecher? Was um Himmels willen …“
„Auf Wiedersehen“, flüsterte Elfriede, als sie den Beichtstuhl verließ. „Haben Sie eigentlich die neue Tür auch abgeschlossen?“, hörte Pastor Himmelmeyer noch.
Oder glaubte, es zu hören.
Emma blickte immer noch starr geradeaus auf das Altarkreuz. Elfriede kam ganz dicht an sie heran.
„Haben Sie gelauscht?“
„Ich?“ Emma fasste sich erschrocken an den Blusenkragen.
„Ich rede nicht mit der Mücke in Ihrem Ohr.“
Unwillkürlich griff sich Emma ans Ohr. „Neinnein“, beeilte sie sich zu sagen, „so was würde ich niemals …“
„Sie sind jetzt dran!“, unterbrach sie Elfriede. Ihr Blick glitt über die zwei seltsamen Vögel in der Bank. „Passen Sie auf, sonst drängeln die vor.“
Elfriede schlurfte durch das riesige Kirchenschiff davon.
Pastor Himmelmeyer war nicht recht bei der Sache. Was wollten die beiden? Der dicke Riese und der Hänfling, der sich neben ihm in den Beichtstuhl quetschte. Ein neues Leben anfangen, soviel hatte Pastor Himmelmeyer verstanden. Sollten sie doch. Und dass sie eine Bank geraubt hatten, war ja nicht gar so schlimm.
Pastor Himmelmeyer zupfte seine Soutane zurecht. Er musste schnellstens nach Hause. Diese Alte hatte ihm einen Stachel ins Fleisch gebohrt. Je länger er darüber nachdachte, um so sicherer war er, dass er die neue Tür nicht abgeschlossen hatte. Überhaupt, was nützte so eine Stahlplatte ohne ein stabiles Schloss. Ja, der Boss dieser Firma, Julius Porter, hatte ihm sein Leid geklagt. Dass man heutzutage keine zuverlässigen Leute mehr findet. Deshalb könne das neue Spezialschloss erst nächsten Montag oder möglicherweise erst Dienstag und so weiter.
„Ausgeraubt“, korrigierte der Kleine.
Pastor Himmelmeyer sah ihm irritiert auf die Glatze. „Woraus denn?“
„Jetzt hören Sie mal zu“, knurrte der Koloss.
Aber Pastor Himmelmeyer wollte nicht mehr zuhören. „Meine Herren“, sagte er kurzatmig, „ich schreibe Ihnen hier …“, schon hatte er einen Zettel und einen Stift in der Hand, „… die Telefonnummer einer Firma auf. Dort werden Leute gesucht. Sie sind doch zuverlässig?“
Der Pinocchio wackelte mit dem dicken Kopf.
„Ja, natürlich!“, schimpfte der Dicke.
„Hier.“ Pastor Himmelmeyer schob den Zettel durch das Holzgitter. „Und jetzt … äh … starten Sie in Ihr neues Leben. Viel Glück.“
Sekunden später sahen Ede und Carlo den nervösen Priester aus der Kirche eilen. Ede strich den Zettel glatt.
„SICHERistSICHER“, las er. „Türen aller Art. Inhaber Julius Porter.“
„Sicher ist sicher“, wiederholte Carlo und lauschte dem Echo seiner Stimme bis hinauf ins barocke Deckengewölbe. Bis zu den unzähligen Pfeifen der Breselner Domorgel. Den kleinen silbernen und den viele Meter hohen Holzschächten. Für Orgeltöne, so tief, dass man sie kaum hören konnte, nur als Flattern im Magen spürte.